Protokoll der Sitzung vom 21.04.2005

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Herbert Müller (SPD): Wo ist er denn? – Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Es ist schon allerhand, dass fast keiner da ist!)

Bei allem Verständnis für die Neuheit der Situation und für das große Ereignis fi nde ich es schon bedauerlich, dass Sie offensichtlich nicht bereit sind, weiterzudenken. Denn die Bildungspolitik hört hier nicht auf; sie muss auch mit einem neuen Minister gemacht werden. Die Pisa-Untersuchungen haben für alle gerecht denkenden, am sozialen Ausgleich interessierten Menschen und für alle, die an einer zukunftsfähigen und einer zukunftsorientierten Bildungspolitik interessiert sind, ein recht ernüchterndes, ja eigentlich ein sehr erschütterndes Ergebnis dargelegt: In keinem anderen vergleichbaren Land Europas gibt es einen engeren Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Kinder und jungen Menschen und den Schulwegen, für die sie sich entscheiden, und erst recht den Schulerfolgen, die sie erreichen. Das Kind eines Akademikers, so kann man errechnen, hat in unserem Land 10,5mal eher die Chance, sein Abitur zu bestehen, als das Kind eines durchschnittlich verdienenden Facharbeiters. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen der Bildungspolitik entscheiden also immer noch das Elternhaus, dessen Interesse an Bildung und vor allen Dingen der Geldbeutel der Eltern über den schulischen Erfolg eines Kindes und

eines jungen Menschen, und eben nicht dessen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Fertigkeiten.

(Beifall bei der SPD)

Das darf doch nicht so sein, und kann erst recht nicht so bleiben. Das darf nicht nur aus sozial- und gesellschaftspolitischen Gründen nicht so bleiben, sondern es darf vor allen Dingen auch aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht so bleiben. Als Hightech-Land, das auf Bildung und Innovation angewiesen ist, können wir es uns nicht mehr leisten, Potenziale in solchem Ausmaß zu vergeuden. Wir müssen jedem jungen Menschen eine möglichst gute Ausbildung ermöglichen. Wir brauchen die Bereitschaft dieser jungen Menschen, ständig dazuzulernen, ständig weiter zu lernen, lebenslang zu lernen, wenn unsere Gesellschaft den Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein will und diese Herausforderungen bestehen will.

(Beifall bei der SPD)

Dies verdeutlicht uns nicht zuletzt tagtäglich die demographische Entwicklung in unserem Land. Keiner darf verloren gehen – das muss die Leitlinie der Bildungspolitik sein und nicht: Schaun mer mal, was übrig bleibt.

(Beifall bei der SPD)

Die Bildungspolitik muss bestrebt sein, jedem Kind, jedem jungen Menschen gemäß seinen Fähigkeiten, Möglichkeiten, Fertigkeiten den bestmöglichen Schulabschluss zu eröffnen, und zwar unabhängig von der sozialen Herkunft, vom Geldbeutel der Eltern, von der sozialen Lage des Elternhauses, vom Wohnort, unabhängig von Geschlecht und von der Nationalität. Kurz zusammengefasst: Die Bildung der Kinder darf nicht abhängen vom Geldbeutel; sie muss unabhängig sein vom Geldbeutel der Eltern.

(Beifall bei der SPD)

Die Diskussionen, die Sie und die von Ihrer Fraktion getragene Staatsregierung dazu angezettelt haben, und erst recht die Entscheidungen, die Sie dazu in diesem Haus herbeigeführt haben, werden, so fürchte ich, in dieser Frage keinen positiven Beitrag leisten. Im Gegenteil. Sie werden zu erheblichen Verschlechterungen und zur Verfestigung dieser sozialen Disparitäten führen. Versetzen Sie sich doch bitte einmal mit mir in die Lage einer jungen Familie mit zwei oder drei Kindern mit einem durchschnittlichen Einkommen, in der die Eltern keine akademische Vorbildung haben.

Versetzen Sie sich in die Lage der Eltern, die über die zukünftige Schullaufbahn ihrer Kinder entscheiden müssen.

Was nimmt diese Mutter, was nimmt dieser Vater zur Kenntnis? – Er hört in immer wieder aufgewärmten Diskussionen von Einschränkungen der Schulwegkostenfreiheit; er nimmt eine nicht enden wollende Diskussion um die Beseitigung der Lernmittelfreiheit zur Kenntnis, und er nimmt zur Kenntnis, dass die Lernmittelfreiheit zwar erhalten bleibt, aber jetzt durch ein Büchergeld eingeschränkt wird. Die Eltern hören ständige Forderungen nach Studi

engebühren, die dem einen oder anderen gar nicht hoch genug sein können.

Die Eltern wissen, dass das achtjährige Gymnasium ohne Vorbereitung über die Köpfe der Betroffenen hinweg durchgesetzt worden ist, und sie hören von dem Druck, dem die Kinder dort ausgesetzt sind, und sie wissen, dass die Einführung des achtjährigen Gymnasiums von einem Lehrermangel begleitet wird, der über kurz oder lang dazu führen wird, dass die hart erkämpfte individuelle Förderung in Form von Intensivierungsstunden mehr als infrage gestellt wird. Diese Eltern wissen, dass an Bayerns Schulen mehr als tausend Lehrer fehlen und dass sich in den nächsten Jahren daran nichts ändern wird, weil in der Bildungspolitik nicht die pädagogischen Notwendigkeiten den Ton angeben, sondern das Spardiktat das Maß aller Dinge ist. Die Eltern wissen, dass sie auf eine individuelle Förderung ihrer Kinder durch die Schule gar nicht erst zu hoffen brauchen, weil die Schulen aufgrund der Rahmenbedingungen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, dazu keine Möglichkeit haben. Diese Eltern wissen, dass eine individuelle Förderung, wenn sie notwendig wird, über Nachhilfe geschehen muss, die teuer bezahlt werden muss.

Glauben Sie im Ernst, dass diese Eltern auch nur annähernd den Eindruck gewinnen können, dass die Entscheidung über die Schullaufbahn ihrer Kinder zuvörderst von deren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Fertigkeiten abhängig gemacht werden sollte und abhängig gemacht werden darf? Glauben Sie im Ernst, dass die Sorge dieser Eltern, dass sie eine lange und teure Ausbildung ihrer Kinder aufgrund ihrer sozialen Lage und ihres Einkommens einfach nicht leisten könnten, zerstreut werden kann? Glauben Sie wirklich, dass den Eltern diese Sorge mit dem Hinweis darauf genommen werden kann, dass der Staat ihnen dann zur Seite stehen wird, wenn ihre eigenen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen?

Ich habe die ganz große Angst, dass diese Sorgen der Eltern in Zukunft überwiegen werden, dass diese Sorgen nicht mehr zerstreut werden können und dass die Kinder in immer mehr Fällen nicht mehr den ihren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Fertigkeiten gemäßen Schulweg beschreiten können und dass ihnen auch die Chance genommen wird, die ihnen eigentlich möglichen Schulerfolge zu erzielen.

Wir können nicht nach dem Motto vorgehen: Was sind schon 10 Euro, die man zum Schulbus dazuzahlen muss, oder was sind schon 20 oder 40 Euro Büchergeld, das werden sich doch die meisten leisten können? Man muss stets den Gesamtzusammenhang sehen, der aus der Ansammlung all der Maßnahmen entsteht, die ich schon aufgezählt habe. Wenn man eine verantwortungsvolle Bildungspolitik betreiben will, muss man erkennen, dass die Eltern nicht aufgrund von Einzelmaßnahmen entscheiden werden, sondern dass sie den Gesamteindruck auf sich wirken lassen und dann über die Schullaufbahn ihrer Kinder entscheiden.

Ich bin noch nicht so alt, als dass ich mich nicht an meine Kindheit und an den Tag erinnern könnte, an dem die Entscheidung meiner Eltern über meine Schullaufbahn und

die meiner Geschwister anstand. Ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, welche Sorgen meine Eltern geplagt haben und wie schwer es für sie war, sich als Familie mit fünf Kindern für das Gymnasium zu entscheiden und sich auch darauf einzulassen, all ihren Kindern diese Schullaufbahn zu ermöglichen. Meine Eltern haben diese Entscheidung vor dem Hintergrund getroffen, dass es Schüler-BAföG gab und eine gesellschaftliche Stimmung, die der Bildung eine ganz, ganz große Bedeutung beimaß. Die gesellschaftlichen Diskussionen wurden damals immer mit dem Hinweis darauf geführt, dass Bildung das oberste Ziel sein muss und dass es das Ziel der Politik in allen Bereichen sein muss, den Kindern eine möglichst gute Schulbildung zu vermitteln. Ich weiß nicht, wie sich meine Eltern entschieden hätten, wenn sie unter den heutigen Bedingungen hätten handeln müssen. Die damalige Situation und die damalige gesellschaftliche Einstellung sind auch nicht vom Himmel gefallen, sondern waren das Produkt einer politischen Willensbildung.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Dieses Land ist in den vergangenen 20 Jahren – so lange ist es her, dass ich Abitur gemacht habe – nicht so verarmt, dass es nicht auch heute möglich wäre, die Rahmenbedingungen für die Bildungspolitik so zu schaffen, dass die Eltern ihre Entscheidung über die Schullaufbahn ihrer Kinder zuvörderst aufgrund von deren Fähigkeiten, Möglichkeiten und Fertigkeiten treffen können. Wir müssen auch heute in der Lage sein, Bedingungen zu schaffen, dass die Entscheidung über die Bildung der Kinder nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, ich appelliere an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam an Rahmenbedingungen arbeiten, die es ermöglichen, dass die Bildung der Kinder in diesem Land nicht vom Geldbeutel ihrer Eltern abhängt.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Als Nächster hat Herr Kollege Prof. Dr. Waschler das Wort, bitte.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schieder, ich kann Ihnen versichern: Auch die CSU-Fraktion unterstützt Sie in den Bemühungen um eine möglichst gute Schulbildung für alle Schülerinnen und Schüler.

(Simone Tolle (GRÜNE): Das sieht man, Herr Waschler, es ist nämlich von Ihnen keiner da!)

Es ist keine Frage, dass kein Schüler und keine Schülerin verloren gehen darf. Dafür brauchen wir Unterstützung und auch die erwähnten Schlagzeilen in den Medien. „Bayern ist in der Bildung deutscher Meister mit Verbesserungspotenzial“ – so war die Äußerung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ im „Münchner Merkur“ schwarz auf weiß nachzulesen. Bayern weise die effektivsten Schulinvestitionen auf – so der Artikel –, und

vor allem sei in technischen Berufen gerade für Nichtakademiker eine Weiterqualifi zierung möglich. Unabhängig von sozialer Herkunft und fi nanzieller Leistungskraft könnten sich leistungsbereite junge Menschen in Bayern besser entwickeln als anderswo. Der Freistaat – so die Studie – habe auch die realistische Chance, nicht nur in Deutschland an der Spitze zu stehen, sondern an die internationalen Pisa-Siegerländer Anschluss zu fi nden.

Besonders düster – so die Studie – sehe es dagegen in Berlin, Bremen und Sachsen-Anhalt aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen mit aller Deutlichkeit, dass Bildung Vorrang in Bayern hat. Sie versuchen das bei allen möglichen Gelegenheiten schlecht zu reden. Die Aktuelle Stunde hat sich schon mit der Überschrift, die Sie gewählt haben, und mit den Ausführungen, die Sie versucht haben, als es um die Ernennung des neuen Staatsministers ging, erledigt.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Das stimmt doch nicht!)

Das war eine klassische Themaverfehlung. Sie könnten sagen, Sie hätten schon alles gesagt. Sie haben die Gegenargumente gehört. Ich möchte noch einmal darlegen, dass Sie es sich zu einfach machen,

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Das müssen Sie Ihrem Kollegen Herrmann sagen)

wenn Sie sagen, der Geldbeutel wäre das Entscheidende, und der Freistaat Bayern würde nichts tun.

(Marianne Schieder (SPD): Das ist das Ergebnis der Pisa-Studie!)

Das ist eben nicht so. Das hat andere Gründe, wenn Kinder aus so genannten – das ist nachzulesen – bildungsfernen Schichten nicht die Angebote wahrnehmen, wie sie möglich sind. Unser gemeinsames Bemühen ist es, diese Dinge anzugehen. Wir müssen festhalten, dass in Bayern überhaupt keine Rede davon ist, dass der Geldbeutel der Eltern in irgendeiner Weise entscheidende Auswirkungen hat,

(Simone Tolle (GRÜNE): Ach was! – Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Wo leben Sie denn? – Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

sondern dass sich die Schülerinnen und Schüler nach ihren Fähigkeiten entwickeln können. Ich möchte das belegen. Die Bildungsangebote im Freistaat Bayern stehen allen offen – grundsätzlich allen. Alleine im Bildungshaushalt wird im Jahr 2006 die Größe von acht Milliarden Euro überschritten. Damit befi nden wir uns mit den Aufwendungen pro Schüler im OECD-Vergleich im guten Vorderfeld.

(Marianne Schieder (SPD): Das ist doch nicht wahr!)

Das ist hinlänglich bekannt. Sie müssen schon genau hinhören, was ich sage. Das ist nachweisbar.

(Marianne Schieder (SPD): Schönreden, das ist Ihre Devise!)

Wir können uns gerne an anderer Stelle über die Details austauschen.

(Hans-Ulrich Pfaffmann (SPD): Im Bildungsausschuss!)

Wie hinlänglich bekannt ist – das wurde auch von Ministerpräsident Dr. Stoiber deutlich gemacht, und das muss man manchmal öfter sagen –, sind die Ausgaben für die Bildung in Bayern von 1999 bis 2004 um 19 % gestiegen,

(Simone Tolle (GRÜNE): Versorgungsbezüge!)

weit, weit höher als der gesamte Staatshaushalt, der nur um 6 % gestiegen ist. Und im Doppelhaushalt 2005/2006 weisen nur der Schul- und der Wissenschaftshaushalt eine signifi kante Steigerung auf, auch wenn die Opposition dies bestreitet!

(Marianne Schieder (SPD): Pensionslasten, Beihilfelasten – sonst nichts! Das wissen Sie genau!)

Schauen Sie sich die Zahlen an.

Auch wenn man die Steigerungen für Versorgung und Beihilfe herausrechnet, hat man im Bildungshaushalt steigende Zahlen und im Wissenschaftshaushalt erst recht.