Nach 1997 war es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl selbst, der die Kopenhagener Kriterien gegen Widerstände durchsetzte und erklärte, sie müssten für jeden möglichen Kandidaten, auch für die Türkei, verbindlich und ausschlaggebend für die Aufnahme in die EU sein. Er und nicht Gerhard Schröder hat damals den Türken das Blaue vom Himmel versprochen und will sich heute, wie übrigens viele Kollegen in seiner Partei inklusive der Schwesterpartei CSU, an nichts mehr davon erinnern.
Rot-Grün steht in dieser Frage in der Tradition verlässlicher Außenpolitik und weiterhin zu ihrer klaren Position. Die Verhandlungen müssen wie vereinbart am 3. Oktober beginnen. Dabei muss es jedem klar sein, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben kann. Wenn die Türkei nach der Zusicherung von Beitrittsverhandlungen plötzlich ihr Reformtempo drosselt und türkische Minister sich in inakzeptabler Weise zum Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges äußern, dann müssen sich die Verantwortlichen in Ankara auch darüber klar werden, dass dies ihre Position für Verhandlungen nicht gerade verbessert.
Teilweise, meine lieben Kollegen und Kolleginnen von der CSU, sind wir ja in Fragen der EU gar nicht so weit auseinander, wie gegenseitig unterstützte und auch in unserem Europaausschuss sehr sachlich und konstruktiv diskutierte Initiativen zeigen, beispielsweise Ihr Dringlichkeitsantrag, der in der letzten Plenarsitzung beraten wurde, oder unser Antrag zu den Dienstleistungsrichtlinien, der in der letzten Ausschusssitzung behandelt wurde.
Auch wir von der SPD-Fraktion meinen, dass die Türkei zurzeit, also heute, die Kriterien nicht erfüllt. Im Gegensatz zu Ihnen von der CSU ist es für uns aber keine Frage, ob die Türkei grundsätzlich die Möglichkeit hat bzw. die Möglichkeit haben soll, ein Vollmitglied in der EU zu werden. Die EU muss auch weiterhin Beitrittsperspektiven für unsere Partnerländer, für europäische Staaten anbieten können. Die Beitrittsperspektiven müssen für die Türkei, für Bulgarien, Rumänien, Kroatien und die Ukraine bestehen bleiben.
Aber die Beitritte müssen zum richtigen Zeitpunkt und unter Gewährleistung der dafür vorgesehenen Kriterien erfolgen. Dazu gibt es ein festes Regelwerk in der EU.
Aus den Referenden der Nachbarländer haben wir gelernt, dass wir allerdings auch noch mehr oder erst recht den Bürger und die Bürgerin bei unseren Entscheidungen mitnehmen müssen. Ansonsten wird die europäische Idee von den Wählerinnen und Wählern abgewatscht werden.
Wir alle sehen die Probleme und Befürchtungen, mit denen die EU durch die ablehnenden Voten zum Verfassungsentwurf konfrontiert wird. Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der CSU, sprechen sich nun, nachdem die Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert sind, dafür aus, die EU in eine Konsolidierungsphase eintreten zu lassen. Diesen Vorschlag halte ich grundsätzlich durchaus für richtig. Die Frage ist nur, wozu diese Konsolidierung genutzt werden soll. Wenn Sie sich den Wahlkampf und die Wahlkampfanalysen zum Verfassungsreferendum gerade in Frankreich ansehen, so werden Sie feststellen müssen, dass nicht in erster Linie der Verfassungsvertrag oder die EU-Erweiterung selbst abgelehnt wurde, sondern die marktradikale, ausschließlich unternehmensfreundliche Politik der EU-Kommission unter Barroso sowie vieler Liberaler und Konservativer im Europaparlament.
Ein Paradebeispiel dieser Politik, die sich nicht an den Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern nur an der Steigerung der Profi te der Unternehmen orientiert, ist der Entwurf der so genannten EUDienstleistungsrichtlinie. Millionen von Franzosen haben nicht gegen das Zusammenwachsen Europas, das übrigens die überwältigende Mehrheit von ihnen befürwortet, sondern gegen diese Richtlinie gestimmt, die Lohn- und Sozialdumping nicht nur Tür und Tor öffnet, sondern geradezu zur Überlebensvoraussetzung vieler Betriebe macht.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal an unsere Anhörung am 17. März erinnern. Sportskamerad Dr. Wuermeling, der, wenn ich richtig informiert bin, auch aus Ihrer Partei stammt, hat sich damals von dem Mikrofon vorne rechts aus vehement für die wortgetreue Umsetzung dieser Richtlinie ausgesprochen.
Wie gesagt: Sie haben Recht, wenn Sie jetzt eine Konsolidierung für Europa fordern. Aber diese Konsolidierung muss für die Rückbesinnung das Gut sein, das in Artikel 2 EGV festgeschrieben ist: die soziale Kohäsion Europas. Nur wenn wir alle zusammen ein Europa wollen und schaffen, das die Lebenssituation und die Lebensqualität der Menschen verbessert, werden wir die Köpfe und Herzen der Menschen für dieses großartige Projekt gewinnen können.
Herr Dr. Förster, vielen Dank – ich betone ausdrücklich: – für Ihren Redebeitrag an diesem Rednerpult, nicht in irgendeiner Bütt. Wir sollten an das Ansehen des Hohen Hauses denken.
Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darf ich Herrn Kollegen Dr. Runge aufrufen. Herr Dr. Runge, für Sie wurde ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten beantragt.
Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Wir erlauben uns, das Thema etwas umzuformulieren: Europa braucht vor allem Klarheit über seine Grenzen, und zwar Klarheit über seine Grenzen in räumlicher und in inhaltlicher Hinsicht.
Europa braucht Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit. Europa braucht eine offene Debatte über die Finalität des europäischen Integrationsprozesses.
Meine Damen und Herren, zu Recht wird jetzt überall moniert, die Bürgerinnen und Bürger verstünden Europa nicht mehr, sie identifi zierten sich nicht mehr mit der EU. Im Gegenteil, es gebe sogar Aversionen, Ängste. Nur, meine Damen und Herren: Für die fehlende Begeisterung, die Unsicherheit oder gar Ablehnung haben Politiker hierzulande, das heißt nationale Politiker und regionale Politiker, ganz maßgeblich Verantwortung.
Die EU muss viel zu oft als Sündenbock oder als Alibi, als Ausrede oder gar als Vehikel herhalten. Ein Phänomen können wir immer wieder beobachten: Nationale Regierungschefs lassen sich nach einem Gipfel feiern, verkünden mit Emphase die Ergebnisse des Gipfels, lassen danach eine Anstandsfrist von zwei oder drei Monaten, vielleicht auch von einem Jahr, verstreichen, und dann wird gejammert, und es wird das blockiert, was man vorher einstimmig beschlossen hatte und wofür man sich hat feiern lassen.
Europa als Sündenbock, die EU als Sündenbock, ist fast schon an der Tagesordnung. Jetzt schaue ich zu Ihnen hinüber: Herr Sinner, meine Damen und Herren von der CSU, hierin sind Sie tatsächlich Weltmeister, hier sind Sie tatsächlich Champions League. In Ihrem Doppelspiel, in Ihrer Doppelzüngigkeit, in Ihrer Scheinheiligkeit lassen Sie sich von niemandem überbieten. In Brüssel und Berlin geben Sie sich immer europäisch staatsmännisch, und hier in Bayern, im Bierzelt und nicht nur dort, wird Stimmung gegen Europa gemacht, wird das Bild von der EU als bürokratisches, Geld verschlingendes Monster gezeichnet.
Sie schimpfen und machen sich lustig über europäische Standards. Dann entdeckt eine Journalistin: Hoppla, diese Standards, zum Beispiel in Bezug auf Traktorsitze und Feuerwehranzüge, ist auf eine Initiative der Bayerischen Staatsregierung über den Bundesrat nach Europa getragen worden.
Sie fordern eine großzügige Strukturförderung für Ostbayern, führen aber gleichzeitig die Debatte über Deutschland als Weltmeister der Nettozahler und sagen, der EUHaushalt müsse so weit wie möglich gedeckelt werden.
Herr Europaminister Sinner, auch wenn Sie in der CSU sind, so erwarte ich doch mehr Redlichkeit von Ihnen und bin dies im Grunde auch gewohnt. Aber in Ihrer Erklärung zu Frankreich und dem Verfassungsvertrag erklären Sie treuherzig in einem Interview mit dem „Münchner Merkur“, Europa solle sich nicht um die punktgenaue Ausweisung von Naturschutzgebieten kümmern, sondern solle für mehr Jobs und Wachstum sorgen.
Für Jobs und für Wachstum liegen sie eben nicht originär bei Europa. Gerade Sie würden doch alles tun, damit die Kompetenzen hierfür nicht nach Europa wandern.
Die Krone ist das Thema Türkei, Ihre große Mobilisierungskeule. Dazu muss man ganz klar sagen: Bis zum Wechsel der Bundesregierung, bis 1998, haben Sie mit einer ganz anderen Zunge gesprochen. Damals haben Sie sich ganz eindeutig für die Vollmitgliedschaft der Türkei stark gemacht. Ich habe hier beispielsweise eine Pressemitteilung vom Dezember 1997: „Glos: Die Türkei darf auf dem Weg nach Europa nicht diskriminiert werden!“
Er schließt mit dem Satz: „Am Ziel darf es keinen Zweifel geben. Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen.“ Es heißt also nicht „bei Europa“ und nicht „Partner“, sondern es geht darum, die Türkei in Europa zu sehen. Das ist der Schlusssatz.
Damit bin ich bei den räumlichen Grenzen. Dazu werde ich Sie weiterhin mit Fakten belästigen; denn Sie neigen sehr schnell zur Geschichtsfälschung.
Nehmen wir den Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Erst vor wenigen Wochen hat die EVP-Fraktion angekündigt, den Antrag zu stellen, dass das Europäische Parlament noch kein grünes Licht geben möge, da man noch nicht so weit sei. Der Antrag, der von der EVP groß angekündigt wurde, wurde nicht von der EVP, sondern von einem Herrn Daniel Cohn-Bendit für die grüne Fraktion gestellt. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Wir sind für den Beitritt Bulgariens und Rumäniens, aber wir sagen auch klar, dass das noch ein harter Weg sein wird. Wir betreiben eben nicht das Doppelspiel, in Brüssel und Berlin ganz anders zu reden als beispielsweise in München.
Wir sind deswegen für die Beitrittsoptionen, weil wir uns alle darüber im Klaren sind, dass die Optionen auf den EU-Beitritt der Reformmotor für die Oststaaten wie auch für die Türkei sind.
Beim Thema Türkei, meine Damen und Herren, können wir uns treffl ich über die Vor- und Nachteile eines Beitritts, über die Chancen und Risiken streiten, aber wir sollten uns nicht über die Fakten streiten. Fakt ist, dass der Türkei seit Jahrzehnten Hoffnung auf einen Beitritt gemacht worden ist. Seit vielen Jahren gibt es mehrere einstimmige Beschlüsse aller Staats- und Regierungschefs, dass es Beitrittsverhandlungen geben wird. Wir sagen: Wenn wir jetzt die Tür zumachen, wenn wir jetzt sagen, dass wir verhandeln wollen, dass das Ziel aber nicht die Vollmitgliedschaft sein kann und sein darf, dann stottert der Reformmotor nicht nur, sondern dann wird er abgewürgt mit all den negativen Folgen für die Menschen dort, für den Demokratisierungsprozess, für Minderheiten wie beispielsweise die Christen, für Frauen und andere,
da könnte ich Ihnen jetzt auch widersprechen oder andere Beispiele nennen, lieber Herr Bernhard –, mit all den negativen Folgen für die Menschen dort und auch mit Gefahren für uns. Dies wollen wir schlicht und ergreifend nicht.
Jetzt zitiere ich noch einmal Ihren Herrn Glos, der auf einmal der Führer, der Scharfmacher in der Debatte gegen die Türkei war: „Es ist vor allem im deutschen Interesse, die Türkei in Europa zu sehen.“ Ich sage das, damit Sie sich nicht herausreden können, er habe irgendetwas anderes gemeint.
Fazit: Europa braucht mehr Offenheit, mehr Transparenz. Europa braucht vor allem aber auch mehr Ehrlichkeit, weniger parteipolitisch motivierte Hetze. Dazu fordern wir Sie auf.
Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schade, dass man nur fünf Minuten Zeit hat, Herr Kollege Dr. Runge und Herr Kollege Dr. Förster. Anscheinend haben Sie die derzeitige Diskussion in der Öffentlichkeit nicht miterlebt. Gestern früh stand Ihr Parteifreund und Genosse Verheugen sprachlos im Frühfernsehen angesichts der Tatsache, wie derzeit die Diskussion in Europa läuft. Sie aber tun hier so, als ob alles in Butter wäre.