Protokoll der Sitzung vom 09.06.2005

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schade, dass man nur fünf Minuten Zeit hat, Herr Kollege Dr. Runge und Herr Kollege Dr. Förster. Anscheinend haben Sie die derzeitige Diskussion in der Öffentlichkeit nicht miterlebt. Gestern früh stand Ihr Parteifreund und Genosse Verheugen sprachlos im Frühfernsehen angesichts der Tatsache, wie derzeit die Diskussion in Europa läuft. Sie aber tun hier so, als ob alles in Butter wäre.

(Dr. Martin Runge (GRÜNE): Wer tut denn so? – Zurufe von der SPD und von den GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, da sagen Sie, ein Gerhard Schröder sei hoch geachtet in Europa. Da kommt er mit Chirac zusammen, sagt, der Ratifi zierungsprozess müsse weitergehen, und in demselben Augenblick sagt Tony Blair „No“. Das ist etwas, was wir in Europa überhaupt nicht brauchen können.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Martin Runge (GRÜ- NE))

Entschuldigung, Hetze: Da könnte man einmal sagen, wogegen Sie alles hetzen!

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, vor wenigen Monaten wurde hier über die privilegierte Partnerschaft diskutiert. Damals haben Sie versucht, uns ironisch in die Schranken zu weisen. Derzeit hört man auch von Leuten Ihrer Bundesregierung, dass die privilegierte Partnerschaft vielleicht ein richtiger Weg wäre.

(Widerspruch bei der SPD)

Nun, meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich glaube, der Widerspruch bei Ihnen kennt überhaupt keine Grenzen mehr. Aber Europa braucht Grenzen, damit wir bei unseren Menschen Europa wieder positiv darstellen können.

Wir brauchen auch Grenzen in der gesamten Finanzpolitik. Wenn wir derzeit die Diskussionen in Luxemburg erleben, dann spüren wir, dass gerade Deutschland hierbei außerordentlich doppelzüngig vorgeht. Auf der einen Seite sagt man, man müsse einsparen. Man versucht beispielsweise, den Finanzrahmen bis zum Jahre 2013 auf 1 % des Bruttonationaleinkommens festzulegen. Das wird nicht ganz gelingen. In demselben Atemzug sagt Ihr Finanzminister Eichel, bei der so genannten 3 % Nettoneuverschuldung müsse man, um den Stabilitätspakt nicht zu verletzen, auch die Nettozahlungen nach Brüssel anrechnen dürfen. Das ist ein Riesenwiderspruch und fördert im Grunde genommen gerade das Verlangen der kleinen und der anderen Staaten, die nämlich Nettogeldempfänger von Brüssel sind, Deutschland entsprechend für höhere EU-Zahlungen zu drangsalieren. Die Finanzpolitik wird also sehr undiplomatisch nach Europa hineingetragen. Aber ich glaube, welche Fähigkeiten ein Herr Eichel hat, ist in der Zwischenzeit in dieser Nation bekannt.

(Dr. Martin Runge (GRÜNE): Und Waigel?)

Ich kann Ihnen eines sagen: Europa ist irreversibel geworden durch die Einführung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und durch den Stabilitätspakt, den Sie kaputtmachen.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Otmar Bernhard (CSU) – Lachen bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Es ist doch unvorstellbar, dass nach der wunderbar positiven Entwicklung des Euros der italienische Finanzminister vor wenigen Tagen erklärte, eigentlich müsse man wieder zur Lira zurückkehren.

(Zuruf der Abgeordneten Margarete Bause (GRÜ- NE))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer hat denn die ganze Diskussion um den Eurostabilitätspakt und diese grausame Entwicklung im Grunde genommen eingeläutet? Das waren doch Ihre Bundesregierung und Ihr Bundesfi nanzminister, die nicht mehr in der Lage sind, beispielsweise den Bundeshaushalt auf den Weg zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CSU)

Meine Damen, meine Herren, diese Bundesregierung hat selber bestätigt, dass sie aufgehört hat zu regieren. Wo ist denn beispielsweise der Haushalt für 2006 oder ein Nachtragshaushalt für 2005? Beides Fehlanzeige! Diese Bundesregierung hat aufgehört zu regieren. Das ist eine Tatsache.

(Beifall bei der CSU – Zurufe von der SPD)

Meine Kolleginnen und Kollegen, deswegen müssen wir auch den Finanzrahmen mit aller Deutlichkeit einengen. Ein Prozent muss reichen, und wenn es nicht reicht, müssen wir endlich wieder einmal darüber nachdenken, wie weit wir die Ausgaben nach den Einnahmen richten, wie wir das beispielsweise derzeit im bayerischen Staatshaushalt praktizieren, und nicht umgekehrt.

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir müssen uns auf die Kernaufgaben Europas konzentrieren, auch was das Finanzielle anbetrifft. Wir müssen mit aller Deutlichkeit das Subsidiaritätsprinzip wieder in den Vordergrund stellen. Nicht alles, was irgendwo politisch wünschenswert wäre, ist eine Aufgabe Europas, sondern es ist auch Aufgabe der einzelnen Nationalstaaten.

Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wir brauchen sicherlich Einsparungen in der Agrarpolitik. Dabei soll aber nicht die Direkthilfe beispielsweise für die Landwirte reduziert werden, sondern wir brauchen endlich den Schritt, dass wir eine Kofi nanzierung in Höhe von 50 % durch die Nationalstaaten erreichen, um dann auch zielgenauer fördern zu können.

Dasselbe gilt für die Strukturpolitik. Dort geht es auch darum, dass sich die Strukturpolitik auf die Regionen konzentriert, die unter 75 % des entsprechenden Pro-KopfEinkommens liegen, und auf die so genannten Grenzregionen, bei denen es um Anpassungsprozesse geht, wobei insbesondere die bayerischen Grenzregionen zu den neuen EU-Staaten gemeint sind.

Meine Damen, meine Herren, hinsichtlich der europäischen Entwicklung rede ich nicht von einer Krise, um die Probleme in Europa nicht noch weiter zu verstärken. Da sind wir uns sicherlich einig. Aber wir brauchen endlich eine klare Politik, bei der man weiß, wohin die Entwicklung läuft, und bei der die Menschen noch mitgehen. Sie haben gesagt, wir müssen die Menschen mitnehmen. Aber Sie sind schon kilometerweit von den Menschen entfernt,

(Zuruf der Abgeordneten Dr. Hildegard Kronawit- ter (SPD))

weil Sie glauben, Europa in einer Vision darstellen zu müssen, wobei die Menschen eben nicht mehr mitgehen. Das ist unser größtes Problem. Demokratie lebt nun einmal auch von der Meinung der Menschen und von ihrer Zustimmung.

(Beifall bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Dr. Kronawitter. Bitte schön, Frau Kollegin.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zeller, natürlich wissen wir, dass es nach den Abstimmungsdesastern zur EU-Verfassung kein „Weiter so“ geben wird und kann. Da haben wir auch unsere Einsichten gewonnen.

Aber wir können hier nicht nur über geographische Grenzen reden, sondern wir reden vor allem auch über die fi nanziellen Belastbarkeiten, die den Menschen in den Nettozahlerländern zugemutet werden können. Dazu haben Sie sich nämlich nicht sehr deutlich geäußert, und ich konnte auch nicht nachvollziehen, was Sie in Bezug auf Finanzminister Eichel gemeint haben.

Lassen Sie mich deshalb den Finanzrahmen, wie er jetzt in der Diskussion ist, ansprechen und die Fakten zitieren. Der Finanzrahmen 2007 bis 2013 soll festgelegt werden, und Sie wissen, dass die Bundesregierung für das Volumen eine Obergrenze von 1 % des Bruttonationaleinkommens vorgesehen und befürwortet hatte. Sie haben gesagt, das ist richtig – wenn ich Sie richtig verstanden habe.

(Dr. Otmar Bernhard (CSU): Aber es stimmt schon nimmer!)

Das ist ein Volumen von 815 Milliarden Euro. Ganz aktuell ist eine leichte Bewegung nach oben signalisiert, aber lassen Sie mich weiter ausführen. Aktuell genannte 1,06 % sind sozusagen als Konsens zu sehen, und es war von Anfang an drin, dass ein kleiner Spielraum möglich ist.

Aber – und darum ist es wichtig, das zu sagen – die Kommission will einen Betrag von 994 Milliarden Euro, also 1,21 %, und – das ist nun sehr spannend – der CDU-Europaabgeordnete Reimer Böge hat als Berichterstatter dem Parlament ganz aktuell dargelegt, dass er in den Vorschlägen der Kommission „eine akzeptable Verhandlungsgrundlage“ sieht. Er selber hat das noch einmal ein bisschen modifi ziert, spricht aber von einer Summe von 975 Milliarden Euro, ist also ganz nahe bei der Kommission. Herr Zeller und Kolleginnen und Kollegen von der CSU, bitte treten Sie Ihrem Parteikollegen entgegen und sagen Sie: Für Deutschland ist 1 % die Verhandlungsgrundlage und nicht mehr.

(Beifall bei der SPD)

Ich fühle mich bei diesen Äußerungen an die Scheckbuchpolitik der Kohl-Regierung erinnert.

(Beifall der Abgeordneten Heidi Lück (SPD))

Daran soll offensichtlich angeknüpft werden. Sie wissen, immer dann, wenn Europa in der Krise war, haben Kohl und Waigel das Scheckbuch gezückt zulasten der deutschen Steuerzahler

(Beifall bei der SPD)

und haben damit den deutschen Finanzierungsanteil am EU-Haushalt ganz massiv nach oben getrieben. Nur eine Zahl – das war allerdings die höchste, aber sie ist bezeichnend für diese Scheckbuch-Diplomatie und -Politik –: 1994 kam ein Drittel aller Ausgaben aus dem EU-Haushalt praktisch von den deutschen Steuerzahlern – ein Drittel! Unter Bundeskanzler Schröder ist der deutsche Finanzierungsanteil drastisch zurückgeführt worden.

(Zuruf von der SPD: Hört, hört! – Alfons Zeller (CSU): Wir sind doch ärmer geworden!)

Sie wissen, er liegt jetzt bei 22 %.

Noch eine Erbschaft gab es in Bezug auf die Finanzierung der EU aus der Kohl-Regierung. Das ist der Britenrabatt. Aktuell steht er zur Diskussion.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Seit 20 Jahren!)

Nein, seit 21 Jahren, Herr Kollege, seit 1984 gibt es den Britenrabatt. Großbritannien kann jährlich dadurch 4,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zurückbekommen, und Kohl hatte damals zugestimmt – und das fi nde ich wirklich ein politisches Versagen –,

(Beifall bei der SPD)

dass Großbritannien selbst zustimmen muss, wenn der Anteil reduziert wird. So großzügig konnte man wirklich nur sein, wenn man nicht die Konsequenzen daraus zu ziehen hatte.

(Beifall bei der SPD)

Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass die deutsche Wirtschaft seit Jahrzehnten die deutsche Wirtschaft sehr vom gemeinsamen Markt profi tiert hat. Wir sind aber der Meinung, dass aktuell bei den Finanzierungsverhandlungen die deutsche Position durchgesetzt werden muss, und wir fordern Sie auf mitzuhelfen, auch im Europaparlament.

(Beifall bei der SPD – Dr. Otmar Bernhard (CSU): Frau Kollegin, vor allem nach einem Beitritt der Türkei, gell?)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Deml, bitte.

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Die Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden hat gezeigt: Die EU hat Akzeptanzprobleme. Wir hatten in Deutschland keine Volksabstimmung. Aber wenn wir uns daran erinnern, wie die Wahlbeteiligung bei den letzten Europawahlen war, muss man feststellen, dass das Unbehagen gegenüber Europa durch Wahlenthaltung ausgedrückt wurde, und das müssen wir sehr, sehr ernst nehmen. Die Abstimmungen haben offenbart, dass Europa längst in der Krise ist aus Sicht der Bürger. Das ist ein Warnschuss. Die Europäische Union muss offener und demokratischer werden und die Bürger stärker einbeziehen.