Protokoll der Sitzung vom 14.12.2005

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die 57. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Aktuelle Stunde

Für die Aktuelle Stunde ist die SPD vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde zum Thema: „Familie, Kinder, Zukunft – für eine bessere Kinder- und Familienpolitik in Bayern“ beantragt. In der Aktuellen Stunde dürfen die Redner grundsätzlich nur fünf Minuten sprechen. Die Regeln sind bekannt. Der erste Redner hat auf Antrag eine Redezeit von zehn Minuten. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, gibt es entsprechende Verlängerungen, und zwar zusätzlich dann fünf Minuten für eine Fraktion.

Erste Wortmeldung: Frau Kollegin Werner-Muggendorfer.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident! Es sind nur wenige Kollegen, die uns zuhören, aber ich nehme an, dass die anderen an den Bildschirmen sitzen werden, da man die Debatte über das Internet verfolgen kann.

Das Thema „Familie, Kinder, Zukunft – für eine bessere Familien- und Kinderpolitik in Bayern“ berührt eine Materie, die in die Zukunft weist, und passt in einen so neuen und schönen Plenarsaal, der hoffentlich auch für die Zukunft gerüstet ist. Es handelt sich um ein landespolitisches Thema, das in die Bundespolitik eingebettet ist.

Deswegen freut es mich ganz besonders, dass sich die Große Koalition auf Bundesebene dieses Thema zum Schwerpunkt gesetzt hat und eine familienfreundliche Gesellschaft erreichen will. Familienpolitik hat in dieser Koalition die höchste Priorität. Damit wird ein Weg fortgesetzt, den Renate Schmidt als Ministerin eingeschlagen hat. Uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten freut ganz besonders, dass dieses Kapitel des Koalitionsvertrages die Handschrift der Sozialdemokraten trägt, vor allem – das ist besonders erfreulich –, dass es fast wörtlich aus dem Wahlmanifest der SPD abgeschrieben ist.

Als Eckpunkte nenne ich das Elterngeld auch für Männer, das eine echte Alternative zum Erziehungsgeld darstellt, das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das sich auch um die Kleinen kümmert, die Erhöhung des Kindergeldes, was zum Teil schon in der Vergangenheit geschehen ist und die materielle Situation der Familien verbessert hat, sowie die Einrichtung der Familienkasse, die eine Zusammenführung der familienpolitischen Leistungen bewirkt. Diese Bedingungen sind uns vom Bund vorgegeben. Wir sollten vom Land aus unseren Beitrag leisten. Deshalb ist es wichtig, den landespolitischen Teil zu beleuchten. Wir beklagen alle das Dilemma, dass die vorhandenen Kinderwünsche der jungen Menschen nicht in die Realität

umgesetzt werden. Fast 80 % aller jungen Menschen wünschen sich Kinder – statistisch gesehen 2,4 Kinder –, aber umgesetzt wird dieser Wunsch leider nicht. Das hat ökonomische wie gesellschaftliche Konsequenzen. Das betrifft einmal die stille Reserve der Frauen am Arbeitsmarkt, aber auch das ungenutzte Betreuungspotential der Männer, das nicht ausgeschöpft werden kann, wenn es nicht gelingt, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Wenn der Wunsch nach Kindern nicht umgesetzt wird, können sich weniger Familien bilden. In diesem Zusammenhang muss man den Begriff der Familie defi nieren. Ich hoffe, dass diese Defi nition bei uns nicht mehr strittig ist. Von Familie kann gesprochen werden, wenn Kinder vorhanden sind.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen einhellig dazu kommen zu sagen, dass wir dann von Familie sprechen, wenn Kinder vorhanden sind. Wie sieht es aber in der Realität aus? Klar ist und ich will dies herausstellen: Die Bedeutung der Familie ist für uns alle ungebrochen. Jeder will irgendwo daheim sein. Gerade wir Politikerinnen und Politiker können am allerbesten beurteilen, dass es wichtig ist, zu einer Familie heimkehren zu können.

Wie stellt sich die Situation für unsere jungen Menschen dar? Normalerweise befi nden sich unter den Besuchern immer Schulklassen; leider ist das heute nicht der Fall. Die jungen Menschen haben einen Kinderwunsch, durchlaufen eine Ausbildung, bekommen vielleicht einen Arbeitsplatz, aber danach traut sich niemand mehr, den Arbeitsplatz aufzugeben oder einen Karriereknick in Kauf zu nehmen, um für Kinder da zu sein. Das große Dilemma ist – das bedauern wir in Bayern –, dass keine Betreuungsplätze zur Verfügung stehen, die es ermöglichen würden, eine vernünftige Berufstätigkeit und Familie unter einen Hut zu bringen.

(Beifall bei der SPD)

Ich erinnere mich gerne an einen Kongress, den die frühere Sozialministerin veranstaltet hat, auf dem verschiedene Ehepaare ihre Situation geschildert haben. Es waren sechs Paare anwesend, die erklärt haben, wie sie Kinder und Beruf unter einen Hut bringen. Es war eindeutig, dass sie entweder auf die Karriere verzichtet haben oder einen Karriereknick in Kauf genommen haben. Erfreulicherweise gibt es bei den Arbeitgebern ein Umdenken. Die „Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.“ initiiert in Bayern Kinderkrippen und Ganztagsschulen. Die Arbeitgeber haben allmählich begriffen, dass sie von der Einrichtung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten profi tieren, sie haben begriffen, dass das dazugehört und sich die Konkurrenz um die besten Köpfe verschärfen wird. Man hat dann engagierte und beruhigte Mitarbeiter, die wissen, dass ihre Kinder gut versorgt sind. In diesem Punkt kommt auch das Tagesbetreuungsausbaugesetz den Unternehmen entgegen, weil es möglich ist, betriebliche Einrichtungen zu schaffen.

Man muss in diesem Zusammenhang auch das Elterngeld nennen; es handelt sich um einen richtigen Ansatz. Nach dem Bezug des Elterngeldes nach einem Jahr tritt aber

ein großes Problem auf. Elterngeld ist sicher richtig und wichtig, aber nach dem Ablauf der Bezugsdauer muss etwas Weiteres folgen. Dann muss die Kinderbetreuung durch Kinderbetreuungsplätze einsetzen, und in diesem Punkt besteht bei uns in Bayern häufi g Fehlanzeige. Das Landeserziehungsgeld – wir loben es sehr – ist mittlerweile zu einem Steinbruch für die Schließung von Haushaltslücken verkommen. Es ist fast nichts mehr übrig. Alleinerziehende sind meistens die Leidtragenden. Besser wäre es, die Wichtigkeit von Betreuung, Bildung und Erziehung nicht nur in Sonntagsreden immer wieder zu beteuern, sondern den Forderungen auch Taten folgen zu lassen. Gerade die unter Dreijährigen müssen in den Fokus genommen werden.

Die Kommunen müssen sich komisch vorkommen. Jahrelang haben sie Kinderkrippen geschaffen, sind dabei nicht vom Staat unterstützt worden, und jetzt werden die Krippenplätze hinzugezählt, weil man eine gute Statistik vorweisen will.

Da muss man sich schon ein wenig komisch vorkommen. Kinder sind unsere Zukunft. Das sagt sich zwar ganz leicht, aber es ist nicht so einfach, das in politische Taten umzusetzen. Wir sind in Bayern noch meilenweit davon entfernt, alles zu tun, damit Kinder wirklich unsere Zukunft werden können.

Der Staat hat die Pfl icht zum Handeln. Wir wollen niemandem die Kinder wegnehmen, um das einmal klar zu sagen. Wir müssen den Eltern und den Erziehungsberechtigten bei ihrer Erziehungsleistung helfen; dieser Gesichtspunkt wird noch zu sehr vernachlässigt. Ich erinnere nur an unseren Antrag, mit dem wir gefordert haben, den Kindergarten als Kompetenzzentrum für die erste Erziehungsberatung im niedrigschwelligen Bereich zu gestalten.

(Beifall bei der SPD)

In unserer wissensintensiven Gesellschaft gilt nämlich: Wer zu wenig kann und zu wenig weiß, wird immer geringere Chancen haben. Bildung spielt eine riesige Rolle. Die nachfolgenden Redner werden dazu noch etwas sagen können.

Keine noch so gut nachsorgende oder betreuende Sozialpolitik kann ausgleichen, was in den ersten Lebensjahren versäumt wird. Uns muss ganz klar sein: In den ersten Lebensjahren wird der Grund gelegt, und das kann man später nicht mehr nachholen. Wir brauchen Lebenschancen für alle. Alle sollen dabei sein. Wir dürfen niemanden zurücklassen. Wir müssen jedes Kind und jede Familie fördern und ihnen das Leben erleichtern. Wir können es uns moralisch und ökonomisch nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen. Deshalb gilt die Devise: Für jeden Spatz einen Platz.

(Zuruf von der SPD: Und für jedes Spätzchen!)

Jedes Kind sollte einen Betreuungsplatz bekommen. Das bedeutet auch, dass in Bayern endlich einmal ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung formuliert werden muss. Diesen Anspruch gibt es noch nicht einmal für Drei- bis

Sechsjährige. Wir fordern ihn auch für Zweijährige, damit die Eltern planen können und wissen, wie sie dran sind.

(Beifall bei der SPD)

Die Statistiken sind bekannt. Wir können uns jetzt dann wieder darüber streiten, ob der Versorgungsgrad 5,7 % oder 2,4 % beträgt, je nachdem, was man hineinrechnet.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Das ist auf jeden Fall zu wenig!)

Kollege Wahnschaffe, genau, das ist auf jeden Fall zu wenig. Kinder kosten Geld; das wissen wir auch. Das ist ein wichtiger Teil unserer Überlegungen. Dieser Tage wird in diesem Haus über Büchergeld und Studiengebühren diskutiert. Wir müssen den Familien helfen, diese Kosten zu bewältigen. Deshalb muss das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei sein. Die Beitragsfreiheit für die Eltern muss unser Ziel sein. Die Devise hier sollte sein: Fünfjährige zahlen nichts. Wir wissen alle – jede Statistik belegt das, und die Erzieherinnen und Lehrer bestätigen das –, dass sich jedes Kind, das in den Kindergarten geht, anschließend in der Schule leichter tut.

Für Sprachprobleme gilt dasselbe: Da muss ein Programm für die Kinder vor der Schule aufgelegt werden. Diese Aufgabe darf nicht einfach den Erzieherinnen und Erziehern aufgehalst werden, und die Zeit dafür darf nicht einfach aus den Stundendeputaten herausgeschnitten werden.

Ich wünsche mir – es ist bald Weihnachten, und da darf man sich etwas wünschen –, dass Bayern endlich ein familien- und kinderfreundliches Land wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich wünsche mir, dass wir ein familienfreundliches Land und eine familienfreundliche Infrastruktur haben und dass die Gleichstellungspolitik auch in diesem Zusammenhang gesehen wird. Ich wünsche mir, dass die Bayerische Staatsregierung nach ihrer Hightech-Offensive – und nach was weiß ich für Offensiven – endlich einmal eine Familienoffensive oder eine Kinderoffensive in Angriff nimmt.

(Beifall bei der SPD – Franz Maget (SPD): Das muss Task Force Family heißen!)

Ja, genau, wenn man das auf Englisch sagt, klingt das in den Ohren der Staatsregierung wahrscheinlich besser. Ich bin aber für das Bayerische und für das Deutsche. Ich möchte eine Familienoffensive und eine Kinderoffensive, und dazu gehört eine Bestandsaufnahme.

(Franz Maget (SPD): Task Force Family!)

Frau Kollegin, das Signal ist schon rot, und „röter“ wird es nicht mehr. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Ich möchte meinen letzten Satz noch zu Ende sagen. Dazu gehört,

dass man zuerst eine Bestandsaufnahme macht und klarlegt, wo etwas fehlt. Man muss einfach feststellen, dass wir an dieser oder jener Stelle Defi zite haben. Es ist kein Wunder, dass man viel Geld in die Hand nehmen muss, wenn vorher zu wenig Geld ausgegeben wurde. Wir sind heute dafür verantwortlich, was in Zukunft geschieht. Deshalb müssen wir uns für die Kinder und die Familien in Bayern jetzt einsetzen.

(Beifall bei der SPD)

Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Unterländer.

(Franz Maget (SPD): Jetzt haben Sie eine einmalige Chance, Herr Unterländer! Task Force Family! – Joachim Wahnschaffe (SPD): Nicht nur wünschen! – Zuruf der Abgeordneten Karin Radermacher (SPD) – Franz Maget (SPD): Frau Radermacher fordert dazu einen Untersuchungsausschuss! – Heiterkeit bei der SPD)

So einmalig ist die Chance nicht. – Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eine ungewöhnliche Entwicklung – vielleicht hängt sie mit dem neuen Plenarsaal zusammen –, dass ich in einer Aktuellen Stunde, unmittelbar an meine Vorrednerin anschließend, sagen kann: Ja, Sie haben Recht.

(Heiterkeit bei der CSU – Beifall bei der SPD)

Sie haben mit Ihren Aussagen Recht, was die Priorität der Familienpolitik im Freistaat Bayern betrifft.

(Unruhe)

Wir sind der Meinung, dass eine Initiative für die Familien unbedingt erforderlich ist. Wir sind aber auch der Meinung, dass eine derartige Initiative über viele Jahre hinweg bereits entwickelt worden ist. Jetzt gehen unsere Bewertungen schon wieder auseinander. Bayern ist und bleibt aus unserer Sicht Familienland Nummer eins.

(Widerspruch bei der SPD)

Daran kann auch Ihr Schlechtreden nichts ändern. In Bayern leben die Familien besser. Die Situation ist bei uns im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor erheblich günstiger. Bayern ist ein attraktiver Familienstandort. Nach dem von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Prognos Familienatlas lebt fast die Hälfte der Familien dort, wo es sich gut leben lässt, also in kreisfreien Städten und Landkreisen. Die im Ländervergleich günstige wirtschaftliche Situation fi ndet gerade bei den armutsgefährdeten Haushalten ihren Niederschlag. So ist das durchschnittliche Einkommen von allein erziehenden Familien um 240 Euro über dem Durchschnittswert der westdeutschen Länder. Auch die Sozialhilfequote bei Kindern und Jugendlichen ist mit 3,5 % nur halb so hoch wie im Bundesdurchschnitt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, zentrales Anliegen ist uns eine gesicherte Existenz für die Familie. Daher muss auch in der Familienpolitik die Vermeidung