Protokoll der Sitzung vom 31.03.2006

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 65. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde erteilt.

Vor Aufruf der Regierungserklärung erlauben Sie mir zu dem Tagesordnungspunkt einige kurze Bemerkungen mit Blick auf die Landesparlamente: Die Föderalismusreform ist sowohl für den Bayerischen Landtags als auch für alle anderen Landtage ein bedeutender Vorgang, vielleicht der wichtigste seit Jahrzehnten. Es geht schließlich um mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Gefordert ist aber auch Gestaltungskraft. Die damit verbundene Verantwortung ist für uns eine Herausforderung. Die Gestaltungsmöglichkeiten für den Landtag sind kein Selbstzweck. Vordergründig geht es auch nicht um einen Machtzuwachs für die eine oder andere Seite. Letztlich geht es um die Frage, bei welcher Verteilung der Aufgaben und der Verantwortung die beste Struktur für Deutschland gefunden werden kann, um die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes zu gestalten.

Im Rahmen der Debatte in der Föderalismuskommission habe ich darauf hingewiesen, dass die Landtage keine nachgeordneten Parlamente gegenüber dem Bundestag sind – einige Sachverständige haben vernehmlich etwas gemurmelt –, denn sie haben einen eigenen Gestaltungsbereich. Ich erlaube mir daher von hier aus auch eine Anmerkung zur Debatte in den Bundestagsfraktionen. Ich wünschte mir, dass in den Bundestagsfraktionen nicht nur gesehen wird, dass in einigen Fachbereichen Aufgaben auf die Länder verlagert werden, sondern dass der Bundestag insgesamt mit der Föderalismusreform enorm hinzugewinnt: Denn wenn die Zahl der zustimmungsbedürftigen Regelungen im Bundesrat reduziert wird, dann ist der Bundestag auf all diesen Feldern künftig die letzte Instanz. Er muss dann nicht mehr – mehr oder weniger zähneknirschend – Ergebnisse des Vermittlungsausschusses politisch umsetzen. In diesem Sinne wünsche ich mir auch eine partnerschaftliche Diskussion in und zwischen den parlamentarischen Gremien im Hinblick auf all diese Gestaltungsfragen.

Der Bayerische Landtag – es sei an dieser Stelle vermerkt – hat mit der Enquete-Kommission auch aus heutiger Sicht einen ganz wesentlichen Impuls für die Entwicklung der und für die Arbeit in der Föderalismuskommission sowie für die ganze Debatte gegeben. Deswegen möchte ich heute der damaligen Kommission, ihrem Vorsitzenden und den Mitgliedern sowie den Sachverständigen, die mitgewirkt haben, recht herzlich danken. Die Ergebnisse der Föderalismuskommission des Bayerischen Landtags haben die Position der Landtage und den Konvent der Landtage stark geprägt und auch Eingang in die Diskussion der Föderalismusreform gefunden, in der ich die Landesparlamente mit vertreten habe.

Wir haben insbesondere auch in den Debatten im Kreis der Vertreter der Landtage dafür gekämpft, dass diese Reform einen Kompromisscharakter hat, auch innerhalb der Länder. So gesehen ist nicht alles verwirklicht, was

wir etwa in Bayern in der Enquete-Kommission als Ziel formuliert haben. Aber gemeinsames Handeln ist immer nur bei entsprechender Kompromissfähigkeit möglich.

Ich rufe auf:

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten zur Föderalismusreform mit anschließender Aussprache

Dringlichkeitsantrag der Abg. Joachim Herrmann, Prof. Ursula Männle, Peter Welnhofer u. Frakt. (CSU) Föderalismusreform (Drs. 15/5206)

Dringlichkeitsantrag der Abg. Margarete Bause, Dr. Sepp Dürr, Ulrike Gote u. a. u. Frakt. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Reform des Föderalismus Bund-Länder-Beziehungen entfl echten – Landesparlamente stärken (Drs. 15/5207)

Dringlichkeitsantrag der Abg. Franz Maget, Susann Biedefeld, Karin Radermacher u. a. u. Frakt. (SPD) Der Föderalismus hat sich bewährt, muss aber zukunftsfähig gemacht werden (Drs. 15/5208)

Das Wort hat nun der Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Für Deutschland ist das Jahr 2006 ein Jahr des Aufbruchs. Die große Koalition ist eine historische Chance zu mutigen Schritten nach vorne. Die große Koalition will und kann den Reformstau in Deutschland abbauen. Dabei wäre die Neuordnung der Beziehungen von Bund und Ländern ein entscheidendes Signal für die Reformfähigkeit unseres Staates.

Für Bayern ist das Jahr 2006 ein geschichtsträchtiges Datum. Mit Stolz und Freude feiern wir 60 Jahre Bayerische Verfassung und 60 Jahre Bayerischer Landtag. Wir feiern auch die Erhebung Bayerns zum Königreich vor 200 Jahren. Das ist bedeutsam, da das mit der Beginn des modernen Bayerns ist. Dieser qualitative Sprung für die Staatlichkeit wirkt bis heute fort. Bayern gewann mit umfangreichen inneren Reformen eine Staatsqualität, die seit dem Durchbruch der Demokratie im 20. Jahrhundert selbstbewusst und zu Recht mit „Freistaat“ umschrieben wird.

In unserem Land ist über 200 Jahre ein besonderes Staatsbewusstsein gewachsen, das Bayern auszeichnet und seine Eigenstaatlichkeit trägt. Das ist das Markenzeichen Bayerns. Darauf sind wir stolz! Das wollen wir natürlich auch erhalten!

Alle meine Vorgänger haben zusammen mit dem Bayerischen Landtag die föderale Freiheit verteidigt und zum Wohle Bayerns genutzt: Fritz Schäffer, Wilhelm Hoegner, Hans Ehard, Hanns Seidel, Alfons Goppel, Franz Josef Strauß und Max Streibl.

Sie alle waren Föderalisten, weil sie mit Herz und Verstand bayerische Eigenstaatlichkeit mit Bundestreue verbunden haben. Sie alle waren Patrioten, weil der Föderalismus den Ländern Raum für Eigenstaatlichkeit und politische Luft zum Atmen gibt.

Wir bekennen uns zur föderalen Solidarität. Sichtbares Zeichen dieser föderalen Solidarität ist die fi nanzielle Unterstützung der anderen Länder in Deutschland. Allein im vergangenen Jahr hat Bayern über 2,2 Milliarden Euro in den föderalen Finanzausgleich einbezahlt. Damit zahlt Bayern in der Zwischenzeit ein Drittel des gesamten solidarischen Ausgleichs zwischen den 16 deutschen Ländern. Bayern ist im Übrigen das einzige Land, das sich vom Nehmer zum Geber entwickelt hat. Heute profi tieren die anderen Länder und ganz Deutschland von unserem Erfolg. In der Gesamtbilanz hat Bayern bis heute real wesentlich mehr einbezahlt, als es in den 70er und 80er Jahren bekommen hat.

Wir haben die Kraft zur Solidarität, weil wir mit eigenen Kompetenzen auch eigene Wege gehen konnten. Deswegen ist Bayern so leistungsstark geworden. Sie können heute lesen, dass sich der Trend auf dem Arbeitsmarkt in Bayern umgekehrt hat. So wird es auch aus Nürnberg vermeldet. Für Deutschland kann man das leider noch nicht sagen. Und deshalb muss in der Föderalismusreform der Grundsatz gelten: Nicht mehr Nivellierung, sondern mehr Freiheit zur Entfaltung der Kräfte eines jeden Landes. Das nutzt durch den Finanzausgleich letztlich allen.

Gerade der Freiraum der Länder zur Entfaltung ihrer eigenen Kräfte ist in den letzten 45 Jahren immer mehr geschrumpft. Zuständigkeiten von Bund und Ländern wurden bis zur Unkenntlichkeit gemischt und vermischt. Diese Entwicklung hat drei Ursachen:

Erstens. Der Bund hat den Ländern durch die lückenlose Ausschöpfung der konkurrierenden Gesetzgebung nach und nach alle – ich sage: alle – dort genannten politischen Gestaltungsmöglichkeiten genommen. Das Gesetzgebungsorgan Landtag ist schwächer geworden.

Zweitens. Der Bund hat mit der Rahmengesetzgebung über die Jahrzehnte hinweg seine Kompetenzen fl ächendeckend ausgeschöpft. Für die Länder blieb in diesem Rahmen fast kein Platz mehr. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entwicklung zum Beispiel in der Juniorprofessur-Entscheidung beanstandet und festgestellt: Die Rahmengesetzgebungskompetenzen sind von ihrem Charakter her nicht Bundes-, sondern Landeskompetenzen.

Drittens. Die in der ersten großen Koalition geschaffenen Mischfi nanzierungen haben Bund und Länder immer stärker aneinander gekettet. Dies hat den Bund mehr und mehr dazu verleitet, mit Geld politische Einfl ussmöglichkeiten schlichtweg zu erkaufen.

Diese Verfl echtungen sind fatal für unsere Demokratie. Gibt es irgendwo Missstände, kann jeder die Schuld auf den anderen schieben. Es mangelt an demokratischer

Transparenz, weil in nicht öffentlichen Zirkeln darüber entschieden wird, was geht und was nicht geht. Unklare Zuständigkeiten haben Gesetzgebung, Verwaltung und Finanzen zum Bermudadreieck politischer Verantwortung gemacht. Ich habe das im Vermittlungsausschuss häufi g erlebt.

Diese Entwicklung ging zulasten der Länderparlamente. Auch der Bayerische Landtag hat mehr und mehr Kompetenzen an den Bund und an die Europäische Union abgeben müssen. Im Umweltrecht, im Hochschulrecht und beim Hochschulbau, beim Dienstrecht und bei der Beamtenbesoldung – überall schreibt der Bund diesem Hohen Haus und damit jedem Abgeordneten vor, was das Land zu tun hat. Diese Verfl echtung hat unsere Politik immer wieder gebremst. Ich nenne Beispiele bei der bisherigen Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau:

Beim Forschungsreaktor in Garching hat Bayern den Finanzanteil des Bundes nach dem Hochschulbauförderungsgesetz fi nanziert. Trotzdem mussten wir die Zustimmung des Bundes zum Baubeginn einholen, um mit unserem Geld überhaupt bauen zu dürfen.

Bei der Fachhochschule Aschaffenburg wurde unsere Baumaßnahme für Technik und Wirtschaft erheblich verzögert. Wir mussten fast ein Jahr warten, bis wir die Baufreigabe im Rahmenplan erhalten haben.

Bei der Fachhochschule Amberg-Weiden mussten wir monatelang um die Erlaubnis ringen, bis der vom Bund beauftragte Wissenschaftsrat den zwei Standorten zustimmte. Ich sage es ganz deutlich: Das ist absurd. Diese übertriebene Verfl echtung ist bürokratisch, kostet Zeit und legt allen Ländern unnötige Fesseln an. So kann es nicht weitergehen.

Mit der Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung wollen wir drei große Schritte machen hin zu kraftvollen Ländern und zu einem entscheidungsfähigeren Bund.

Wir schaffen erstens mehr Freiheit für Bund, Länder und Kommunen. Das wollen wir erreichen durch eine tief greifende Entfl echtung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Wir reduzieren den Anteil der zustimmungspfl ichtigen Gesetze von 60 % auf rund 35 bis 40 %. Es erstaunt mich, dass dieses Ergebnis, diese Reduzierung, nun angezweifelt wird und nochmals überprüft werden soll. Das Bundesministerium der Finanzen – Bundesfi nanzminister Eichel persönlich – und auch die Länder haben die Gesetzgebung in der letzten Legislaturperiode mit umfangreichen Ressortabfragen untersucht. Das ist genau erörtert, diskutiert und aufbereitet worden. Die Auswertung ergab diese erhebliche Reduzierung des Anteils zustimmungspfl ichtiger Gesetze. Andernfalls wäre es in der Föderalismuskommission anders gelaufen.

Weniger zustimmungspfl ichtige Gesetze machen den Bund entscheidungsfähiger. Ein Beispiel dafür: Das Zuwanderungsgesetz, über das drei Jahre lang zwischen Bundestag und Bundesrat mit allen damit verbundenen Auswirkungen hin- und herverhandelt worden ist, wäre

de lege ferenda – also nach der neuen Verfassungslage – nicht mehr zustimmungspfl ichtig; es müsste damit vom Bundestag alleine verantwortet werden. Künftig brauchen wir wesentlich seltener das Plazet der Länder und den schwerfälligen Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag.

60 bis 65 % aller Gesetze für Deutschland werden künftig allein im Bundestag verabschiedet. Dafür verzichten die Landesregierungen freiwillig auf sehr viel Macht. Damit verändern wir die Grundarchitektur der bundesstaatlichen Ordnung zugunsten des Bundes und zulasten der Ministerpräsidenten respektive zulasten des Bundesrates. Und deshalb müssen zur Machtbalance nennenswerte Kompetenzen in die Landesparlamente verlagert werden – näher an die Aufgaben und näher an die Bürger. Viele Wünsche der Länder blieben unerfüllt. Das, was vorliegt – hier stimme ich dem Landtagspräsidenten nachdrücklich zu –, ist ein außerordentlich schwer errungener Kompromiss, das aber auch nur dann, wenn neue eigenständige Kompetenzen hier in diesem Hohen Hause tatsächlich ankommen.

Mit unserem Beitrag zur Entfl echtung machen wir den Pulsschlag deutscher Politik kraftvoller. Deutschland wird schneller und effi zienter. Der Bundestag gewinnt neue Kompetenzen und Unabhängigkeiten von den Ländern. Gleichzeitig gewinnen die Landtage im Gegenzug neue, eigenständige Kompetenzen. Sie können künftig weitgehend frei entscheiden über die Bildungs- und die Hochschulpolitik, über das Dienstrecht, das Besoldungs- und das Versorgungsrecht sowie über Ladenschluss, Gaststättenrecht, Presserecht und viele weitere Politikfelder.

Zur Gestaltungsfreiheit der Landtage trägt auch die neue „Abweichungsgesetzgebung“ bei. Die Landesparlamente sollen in klar defi nierten Bereichen vom Umweltrecht des Bundes abweichen können. Wir wollen diese Freiheit für eigene Wege und die besten Lösungen für Bayern. Dafür hat dieses Hohe Haus seit Jahren gekämpft.

Die Kritik am Umweltrecht verwundert schon sehr. Hier gewinnt in gleicher Weise der Bund. Er kann nun endlich sein Umweltgesetzbuch erlassen. Die Länder dagegen bewahren sich nur ihre materiellen Kompetenzen aus der bisherigen Rahmengesetzgebung. Ich betone: Sie alle hier in diesem Hohen Haus haben als Abgeordnete bisher Ihre Verantwortung für die Umwelt unter Beweis gestellt. Ich sehe keinen Grund, weshalb der Bundestag daran zweifeln könnte. Die Bewahrung der Schöpfung hat in Bayern seit Jahrzehnten Tradition und hohen Wert. Das gilt heute und in Zukunft, und mit gleichem Recht natürlich auch für alle anderen Länder.

Wir wollen auch weniger Mischfi nanzierung durch Bund und Länder erreichen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass der Bund in originäre Länderaufgaben hineinregiert.

(Beifall bei der CSU)

Dann kann der Bund nicht mehr politischen Einfl uss in Kompetenzfeldern der Länder durch Geld erkaufen.

Diese Möglichkeit des „goldenen Zügels“ wird endlich entscheidend reduziert.

(Dr. Sepp Dürr (GRÜNE): Das Geld muss ja keiner nehmen!)

Zum Thema Bundesmittel für Betreuung und Bildung habe ich einen einfachen und praktikablen Vorschlag: Wenn Abgeordnete des Bundestages der Meinung sind, dass die Länder mehr Geld, zum Beispiel für die Bildung, bräuchten, dann soll der Bund den Länderanteil an der Umsatzsteuer erhöhen.

(Beifall bei der CSU)

So können die Länderparlamente selbstständig und in eigener Verantwortung darüber entscheiden.

(Beifall bei der CSU – Susann Biedefeld (SPD): Und Haushaltslöcher stopfen!)

Das führt dann zu mehr Zielgenauigkeit beim Mitteleinsatz und deshalb zu besserer Bildung.

Meine Damen und Herren, in dieser Debatte will ich auch eines deutlich machen: Der Bundestag ist ein Gesetzgebungsorgan wie die Landtage, er hat keine höhere Weisheit als die Abgeordneten der Länderparlamente.

(Beifall bei der CSU)

Diese Überlegung steckt doch hinter all den Debatten, die heute geführt werden. Jeder Landtagsabgeordnete weiß, was gut ist für sein Land, und wir in Bayern wissen, was gut ist für Bayern.

(Zurufe von der SPD – Unruhe – Glocke des Prä- sidenten)