Protokoll der Sitzung vom 21.06.2006

Es ist Geschichtsklitterung, wenn sie davon sprechen, dass wir die Ballungsraumzulage abschaffen wollten. Das ist ein absoluter Unsinn.

(Christa Naaß (SPD): In bestimmten Bereichen haben Sie sie aber abgeschafft! – Christa Steiger (SPD): Sie sollten einmal ins Archiv gehen, Herr Unterländer!)

Der aktivierende Sozialstaat ist dringend geboten, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir müssen Anreize schaffen, damit Menschen aus Sozialhilfekarrieren herauskommen. Dazu reichen die Instrumente momentan nur im Ansatz, und ihre Anwendung muss optimiert werden. Dazu dient auch dieser Antrag. Bei der Schaffung dieses Gesetzeswerkes wurde der Kardinalfehler begangen, dass es keine ausreichend gesetzlich vorgeschriebene Sanktionen gab und dass damit auch die Kontrollinstrumente bei Missbrauchsentwicklungen nicht ausreichend vorhanden waren. Auch besteht kein Bezug zwischen Beitrags- und Lebensleistung bei Personen, die über einen längeren Zeitraum Beiträge in die Arbeitslosenversicherung bezahlt haben. Sie bekommen nicht mehr Arbeitslosenhilfe als jemand, der nur einige Jahre Beiträge bezahlt hat. Das ist aus meiner Sicht eine Ungerechtigkeit, die man nicht akzeptieren kann.

Zum Dritten sind fälschlicherweise auch die Kommunen mit ihren Erfahrungen über die Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen und über gemeinnützige Arbeit nicht in ausreichendem Maße in die Verantwortung genommen werden. Es gibt positive Beispiele für Gemeinden.

(Christa Steiger (SPD): Es gibt auch negative Beispiele!)

Ich denke an den Landkreis Miesbach oder an den Landkreis Würzburg, Herr Kollege Ach, wo sich der Landrat, der Stimmkreisabgeordnete und die Frau Vizepräsidentin massiv dafür einsetzen, die Zuständigkeiten der Kommunen zu erweitern, die mit großem Wissen und innovativen Ansätzen Langzeitarbeitslose in die Beschäftigung bringen. Das nenne ich wirksame Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, nicht aber das Organisationschaos, das mit Hartz IV angerichtet worden ist.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Das Chaos haben aber Sie mit angerichtet!)

Notwendig ist es, die richtigen Ansätze, die sich aus dem SGB II-Änderungs- und Fortentwicklungsgesetz ergeben haben, aus landes- und kommunalpolitischer Sicht weiter zu entwickeln. Vor allem auch aus Gründen der Fortentwicklung des Sozialstaates und der Arbeitsmarktpolitik ist es notwendig, die Forderungen, die unser Antrag enthält,

in die bundespolitische Diskussion einzubringen. Viele Anreize müssen beseitigt werden. Die Regelsätze müssen regionalisiert werden. Auch die Möglichkeit, mehr Pauschalen zu leisten, muss wieder verstärkt werden. Die Mischverwaltung muss dort abgebaut werden, wo sie zu Problemen führt. Die Schnittstellenproblematik muss beseitigt werden. Das von Kurt Biedenkopf zu Recht angeprangerte Organisationschaos hat nichts damit zu tun, wer dieses Gesetz gemacht hat. Seien wir doch ehrlich genug: Wir müssen dort, wo Änderungen notwendig sind, gemeinsam anpacken. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum Sie sich hier so zieren.

(Joachim Wahnschaffe (SPD): Sie wollen also das Chaos verbessern! – Christa Steiger (SPD): Wer ziert sich wo?)

Aufgrund der positiven Erfahrungen, die ich gerade geschildert habe, ist es notwendig, die Zahl der Optionskommunen auszudehnen, weil nur auf diese Art und Weise die Kommunen, die ihr Know-how nicht in Arbeitsgemeinschaften in ausreichendem Maße einbringen können, mit einer neuen alleinigen Zuständigkeit tatsächlich tätig werden können. Schließlich ist es erforderlich, dass die gesetzlich zugesicherte jährlich Nettoentlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Millionen Euro ab 2007 sichergestellt ist. Hierfür muss die Beteiligung des Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung mindestens in dem für die Jahre 2005 und 2006 festgeschriebenen Umfang von 29,1 % fortgesetzt und gesetzlich festgeschrieben werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir abschließend noch vier Bemerkungen, die mir bei dieser Diskussion besonders am Herzen liegen.

Erstens ist es unser erklärtes Ziel, Menschen und Familien, die über viele Jahre von der Sozialhilfe abhängig waren, in die Lage zu versetzen, aus der Abhängigkeit von staatlichen und kommunalen Transfersystemen herauszukommen. Dafür müssen wir noch stärkere Anreize und Unterstützungsmaßnahmen schaffen.

Zweitens. Es ist notwendig, gemeinnützige Tätigkeiten, gerade auch auf kommunaler Ebene, stärker anzuerkennen. Ich weiß, das stellt in der politischen Wahrnehmung häufi g noch ein Problem dar.

Drittens. Es ist ein Fehler in der Arbeitsmarktpolitik und in der volkswirtschaftlichen Entwicklung, dass in den letzten Jahren einfache Tätigkeiten nicht mehr den Stellenwert haben, damit jemand aus dem Niedriglohnniveau heraus eine reguläre Tätigkeit erhält. Hier sehe ich wesentliche Ansatzpunkte, wie wir für Langzeitarbeitslose bessere Alternativen schaffen können.

Viertens. Das übergreifende Ziel muss sein, Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik so zu verbessern, dass genügend Arbeitsplätze vorhanden sind, um die Probleme zu reduzieren, wirtschaftliches Wachstum zu steigern und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Vor dem Hintergrund der immer noch sehr schwierigen Entwicklung bei Hartz IV bitte ich, unserem Dringlichkeitsantrag als weiterem

Schritt auf dem Weg zur Verbesserung der Situation zuzustimmen.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Da müssen Sie Ihren Wirtschaftsminister Glos fragen!)

Nächste Wortmeldung: Frau Kollegin Steiger. Bitte, Frau Kollegin.

Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Herr Unterländer, mit diesem Antrag stellen Sie in meinen Augen eines klar: Die CSU hat in der Koalition keinen Einfl uss. Sie müssen zugeben, die Tinte von der Abstimmung im Bundestag ist noch nicht trocken, das Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz ist im Bundesrat noch nicht verabschiedet. Doch Sie machen die Arbeit der CSU-Landesgruppe und die Arbeit des CSU-Bundeswirtschaftsministers. Ich frage mich: Kann sich die CSU in Berlin nicht artikulieren? Haben Sie diesen Einfl uss nicht? Werden Sie in Berlin überhaupt nicht mehr gehört?

(Beifall bei der SPD)

Das müssen Sie sich hier schon fragen lassen.

(Joachim Unterländer (CSU): Da wird der Stellenwert des Landtags untergraben!)

Herr Unterländer, ich untergrabe hier gar nichts. Es gibt vielmehr Kompetenzen auf Bundes- und andere auf Landesebene. Das sollten Sie bei der Diskussion um die Föderalismusreform eigentlich mitbekommen haben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Unterländer, Sie haben von Organisationschaos gesprochen. Um es so auszudrücken: Es läuft in manchen Bereichen sicher suboptimal. Das geschieht, wenn man eine Verwaltung und manche Dinge komplett verändert. Aber woher kam denn das von Ihnen angesprochene Chaos? Wer hat im Vermittlungsausschuss nicht alles Mögliche hineinverhandelt? – Es war doch beispielsweise Herr Koch, der diese Mischung haben wollte. Wir wollten das nicht. Sie sagen, die Arbeitssuchenden bräuchten Anreize. Ich sage Ihnen, die Arbeitssuchenden brauchen Arbeitsplätze!

(Beifall bei der SPD)

Was aber macht Herr Wirtschaftsminister Glos? Der Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ spricht Bände. Der rot-grüne Bundeswirtschaftsminister Clement hat bei den Arbeitgebern und bei den Arbeitgeberverbänden nachdrücklich um Ausbildungs- und um Arbeitsplätze geworben. Es sind viele dazugekommen. Das ist wichtig und notwendig gewesen. Herrn Glos aber muss man zum Jagen tragen. Das kann doch nicht sein. Ich frage Sie deshalb: Was soll der Aktionismus, den Sie hier mit diesem Antrag an den Tag legen? – Ich halte das für Populismus, genauso wie die Aussage des CSU-Bundestagsabgeordneten Müller, der die Arbeitspfl icht wieder

aufwärmt, quasi aus dem Sommerloch. Dabei wissen wir doch genau, dass das ein Unfug ohnegleichen ist.

Wenn Sie mit der Arbeit der CSU in der Koalition im Bundestag nicht zufrieden sind, dann bedenken Sie: Herr Stoiber hätte es in der Hand gehabt, alles anders zu machen. Er hatte sich in Berlin ein Superministerium zusammenschneidern lassen. Solche Anträge wie der hier vorliegende wären dann passé.

(Johanna Werner-Muggendorfer (SPD): Genau!)

Aber nein, kaum ist ein Dreivierteljahr vergangen, kommen wieder solche Anträge. Meine Damen und Herren, ich fi nde, das spricht Bände!

(Beifall bei der SPD)

Fakt ist, dass die Union die Arbeitsmarktreform Hartz IV mit beschlossen hat. Gerade Sie waren es, das habe ich schon gesagt, die im Vermittlungsausschuss Dinge hineinverhandelt haben, die Sie jetzt beklagen, und die verbesserungswürdig sind, das wissen wir alle. Ich sage jetzt, diese Dinge wären besser auch nicht hineingekommen, die Mischverwaltungen beispielsweise.

(Beifall bei der SPD)

Nun sind alle im Koalitionsausschuss – wir, die SPD, die CDU und auch Sie, die CSU – über das weitere Vorgehen einig gewesen. Herr Ministerpräsident Stoiber trägt die Änderung des neuen Gesetzes mit, so war auch zu lesen. Lassen Sie dieses Gesetz doch erst einmal in Kraft treten.

(Beifall der Abgeordneten Johanna Werner-Mug- gendorfer (SPD))

In Ihrem Antrag gehen Sie stattdessen davon aus, dass das Gesetz nicht ausreicht. Ich weiß nicht, wie hellsichtig Sie sind.

Sie haben gesagt, man muss Zuordnungen und Verwaltungen verändern. Es ist eine Illusion sondergleichen, wenn Sie glauben, das schaffe Arbeitsplätze. Das schafft keinen einzigen Arbeitsplatz, auch das wissen wir. Ich frage Sie: Was steht im Fortentwicklungsgesetz zu Hartz IV? Ich will ein paar Punkte herausgreifen, die bereits deutliche Änderungen gebracht haben. Das gilt zum Beispiel für die Beweislastumkehr. Sie beklagen in Ihrem Antrag, das Schonvermögen würde angehoben. Das ist schlichtweg falsch. Die Vermögensschonung ist verändert worden. Das betrifft beispielsweise die Freibeträge zugunsten der Alterssicherung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

(Beifall bei der SPD)

Die Bürokratie wurde entzerrt. Pfl egefälle, Gefangene sowie Patienten in stationären Einrichtungen werden von vornherein vom Arbeitslosengeld II ausgenommen. Damit fällt die Prüfung weg. Die Kontrollen wurden verschärft. Das neue Gesetz sieht die fl ächendeckende Einführung

eines Außendienstes der Arbeitsgemeinschaften der Arbeitsverwaltung und der Kommunen vor, damit verstärkt Kontrollen durchgeführt werden. Alles, was Sie vorhin genannt haben, was nach Ihrer Auffassung sein müsste, steht im Fortentwicklungsgesetz drin. Ich frage mich deshalb, was Sie mit Ihrem Antrag eigentlich wollen.

(Beifall bei der SPD)

In der Koalitionsvereinbarung steht, Herr Kollege Unterländer und meine Damen und Herren von der CSU, dass die Kosten im Laufe der Jahre herunter gefahren werden. Was Sie, Herr Unterländer, vorhin wegen des Lohnabstands und der Anreize gesagt haben, das ist ebenfalls falsch. Lesen Sie nicht immer nur den „Bayernkurier“!

(Zuruf von der CSU: Ha!Ha!)

Das Arbeitslosengeld II verstößt nicht gegen das Lohnabstandsgebot. Selbst eine vierköpfi ge Familie kommt mit einem Nettoeinkommen von etwas mehr als 1000 Euro über das Arbeitslosengeld-II-Niveau. Das zeigt das Arbeitspapier des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts – WSI –. Die größte Gruppe unter den Bedarfsgemeinschaften stellen die allein lebenden Langzeitarbeitslosen mit 58 %. Bei ihnen ist es so, dass sie bereits mit einem Nettoeinkommen von weniger als 700 Euro pro Monat besser dastehen als mit dem Arbeitslosengeld II. Für Familien sind die Geldleistungen der Arbeitsagentur nicht so hoch, dass es vorteilhaft wäre, einen angebotenen Job auszuschlagen. Auch Erwerbstätige, das wissen wir alle, bekommen Familienleistungen. Die alte Bundesregierung hat das Kindergeld zweimal deutlich angehoben. Sie haben auch verschwiegen, dass tatsächlich viele Bedarfsgemeinschaften nicht die Höchstsätze der Grundsicherung beziehen. Viele Bedarfsgemeinschaften leben nicht ausschließlich von der staatlichen Finanzierung, sondern verfügen zumindest über ein geringes Erwerbseinkommen. An eine vierköpfi ge Familie zahlte die Agentur im Juli 2005 – das sind nachgewiesene Zahlen – durchschnittlich 919 Euro aus. Das ist deutlich weniger als das, was Sie gesagt haben, als Sie von 1500 bis 1700 Euro sprachen.

(Joachim Unterländer (CSU): Das sind offi zielle Zahlen!)

Meine Zahlen sind offi zielle Zahlen. Die Bundesregierung hat 2005 festgestellt, dass es keine dramatische Kostensteigerung durch die Hartz-IV-Reform im Vergleich zur alten Regelung gegeben hat. Auch das hat WSI bestätigt: Die Gesamtausgaben für die Grundsicherung waren um nur 2 % höher, als sie mit der Arbeitslosenhilfe auf der einen Seite und der Sozialhilfe auf der anderen Seite gewesen wären, denn die müssen Sie ebenfalls einrechnen. Was Sie heute hier vorgetragen haben, trifft deshalb nicht zu.

Ich muss Ihnen sagen, wenn immer Ihre Missbrauchsdiskussion kommt: Bodenlos ist, was die aktuell amtierende bayerische Sozialministerin im „Bayernkurier“ am 19. Juni von sich gegeben hat. Das muss man lesen. Sie sagte:

Die Sozialleistungen müssten auf ein erforderliches Maß begrenzt werden. Die bisher vom Bundestag verabschiedeten Veränderungen reichten nicht aus.

Sie begründet das beispielsweise so – ich zitiere –: