Protokoll der Sitzung vom 14.06.2018

(Allgemeiner Beifall)

Meine Vorgänger haben im Schnitt 123 neue Initiativen pro Jahr ergriffen. Meine Kommission – wenn ich dieses übertriebene Possessivpronomen hier einführen darf – beschränkt sich auf 20 bis 23 Initiativen pro Jahr, das reicht. Weniger ist mehr, und weniger ist häufig besser als zu viel.

(Beifall bei der CSU)

Wir haben 150 Gesetze überprüft und verschlankt. Wir haben 51 Rechtsakte zurückgezogen. Einige im Europäischen Parlament sind darüber nicht happy, weil sie sagen, ihr gebt uns nicht genug Arbeit. Ich sage dann immer, es liegen noch 400 Entwürfe vor, macht mal. Es braucht nicht dauernd etwas Neues. Auch parlamentarische Arbeit, von der nicht Tag für Tag in der Presse berichtet wird, ist wichtige Arbeit.

Ein Problemfeld ist auch die Erweiterung der Europäischen Union. Ich gehöre zu denen, noch als Premierminister, die sehr intensiv dafür geworben haben, dass sich die Europäische Union nach Mittel- und Osteuropa erweitert – nicht weil wir Hegemonialansprüche hatten, sondern weil die Menschen das wollten, diese neuen Demokratien, diese jungen Volkswirtschaften, die aus einem System zentral administrierter Wirtschaft in ein marktwirtschaftliches System überwechselten. Sie wollten Teil dieser Europäischen Union sein. Ich bin froh, dass uns das gelungen ist, allerdings vieles nicht in perfekter Form. Vieles ist schief. Richtig war es aber, diesen Versuch zu starten, europäische Geschichte und europäische Ge

ografie wieder zusammenzuführen. Das halte ich nach wie vor für eine historisch notwendige Tat, die in den Neunzigerjahren und Anfang der Zweitausenderjahre getan werden musste.

Wir haben es jetzt – nicht deshalb, aber auch deshalb, aber nicht nur deshalb – mit der Flüchtlingsproblematik zu tun. Nun hat man mir geraten, heute elegant an diesem Thema vorbeizusegeln.

(Heiterkeit)

Wenn niemand mir das geraten hätte, wäre ich selbst auf die Idee gekommen, dass heute nicht der Tag ist, um hier detaillierte Vorschläge vorzutragen. Ich bin trotzdem in diesen Fragen für europäische Lösungen und gegen nationale Alleingänge.

(Beifall bei der SPD, den FREIEN WÄHLERN und den GRÜNEN)

Ich finde diese Beifallssalve fast schon verdächtig.

(Heiterkeit)

Ich bin für europäische Lösungen. Ich bin aber auch für gut durchdachte, schnelle europäische Lösungen. Man kann nicht ewig auf europäische Lösungen warten.

(Beifall bei der CSU, Abgeordneten der SPD und der FREIEN WÄHLER)

Sie müssen doch zugeben, dass ich das sehr geschickt mache.

(Allgemeine Heiterkeit)

Ich sage das alles nur deshalb, weil ich jetzt zu einem längeren Selbstlob kommen möchte.

(Heiterkeit)

Wenn die europäischen Mitgliedstaaten, die europäischen Regierungen, die durchdachten, endgültig ausformulierten Vorschläge der Europäischen Kommission zur Änderung des Dubliner Regelwerkes – das haben wir im Jahr 2016 vorgelegt – nicht nur diskutiert, sondern in großen Teilen auch angenommen hätten, dann würden sich viele Probleme nicht stellen.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der SPD: Bravo!)

Es reicht nicht, dass fast jede Regierung nach europäischen Regelungen und Lösungen ruft und dass die Kommission die einzige ist, die europäische Regelungen und Lösungen sucht. Das reicht nicht. Die Regie

rungen haben Verantwortung nicht nur in ihrem Land, sondern auch auf dem Gesamtkontinent zu tragen.

(Beifall bei der SPD, den FREIEN WÄHLERN und den GRÜNEN)

Im Übrigen ist die Nichtregelung, obwohl es schon seit Jahren einer Regelung bedurfte, nicht auf deutsches Fehlverhalten zurückzuführen. Die Kommission ist sich mit der Bundesregierung in der Auffassung einig, dass wir eine solidarische Flüchtlingsverteilung in Gesamteuropa brauchen. Es kann nicht sein, dass die einen alle Last tragen und die anderen auf den Zuschauerrängen sitzen. Das geht nicht.

(Allgemeiner Beifall)

Ich wollte noch etwas in Sachen Flüchtlinge sagen. Ich hätte gerne, dass wir überall in Europa dieselben Asylregelungen haben. Die Anerkennungsquoten schwanken heute zwischen 0 und 98 Prozent – bei gleicher Nationalität des Antragstellers hat dieser also je nach Mitgliedstaat, wo er den Antrag stellt, eine oder eben keine Chance, als asylberechtigt anerkannt zu werden. Wenn es so ist, dass wir eigentlich grundsätzlich der einvernehmlichen Auffassung sind, dass Europa ein offener Kontinent für Flüchtlinge bleiben muss, für diejenigen, die aus politischen Gründen, aus religiösen Gründen, aus kulturellen Gründen, aus Gründen des Klimas flüchten, bin ich nachdrücklich dafür, dass man dies weiterhin macht. Uns muss aber auch klar sein, dass wir nicht ein permanenter, manchmal fast erschlichener Aufenthaltsort für Wirtschaftsflüchtlinge sein können. Das schaffen wir nicht. Europa ist ein großer Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern. Wir können nicht alle Wirtschaftsflüchtlinge der Welt aufnehmen. Wir müssen sehr darauf achten, dass wir uns nicht nur mit den Folgen der Flüchtlingsproblematik auseinandersetzen, sondern auch mit den Ursachen.

(Allgemeiner Beifall)

Deshalb ist eine neue europäische Afrikapolitik absolut vonnöten. Wir haben als Kommission einen Afrikatreuhandfonds über rund drei Milliarden Euro aufgelegt. Wir haben einen externen Investitionsplan für Afrika in Höhe von 44 Milliarden Euro in die Wege geleitet. Ich weiß, dass der "Mittelstürmer" der deutschen Bundesregierung, mein guter Freund Gerd Müller, uns dauernd auffordert, Marshallpläne zuhauf vorzulegen. Wir haben einen vorgelegt. Die Mitgliedstaaten haben uns versprochen, als wir diese 44 Milliarden Euro in Aufstellung gebracht haben, auch 44 Milliarden beizutragen. Das haben sie aber nicht getan. Sonst wären aus diesen 44 Milliarden Euro 88 Milliarden Euro geworden. Der Plan der Kommission besteht darin, vor Ort in Afrika Arbeitsplätze zu

schaffen, damit die jungen Menschen sich nicht mehr ins Meer stürzen müssen. Es ist klüger und im Übrigen auch billiger, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen, anstatt Schiffe untergehen zu lassen.

(Allgemeiner Beifall)

Wir brauchen einen stärker aufgestellten Schutz der Außengrenzen – nicht um aus Europa eine Festung zu machen; das ist überhaupt nicht mein Konzept. Europa hat in den Jahren 2016/17 750.000 Menschen von außerhalb Europas Asyl gewährt. Das ist zweimal mehr als die USA und Kanada zusammen. Jeder, der schreibt, Europa entwickle sich zu einer Festung, nimmt das Zahlenwerk nicht zur Kenntnis. Dabei geht es nicht um Zahlen; es geht darum, dass wir Menschen eine neue Heimat bieten, die ihre Heimat aus den genannten Gründen verloren haben. Ich bin nicht dafür, dass Europa eine Festung wird. Ich bin aber auch nicht dafür, dass wir die Außengrenzen ungenügend schützen. Jeder redet über den Schutz der Außengrenzen. Das ist ja auch in Bayern ein beliebtes Thema. Wer weiß denn, dass heute schon 100.000 Grenzbeamte die Außengrenzen schützen? Das sind die Beamten von Zoll, Polizei – tutti quanti – der externen Grenzländer. Es gibt 1.250 Beamte der Europäischen Union, die im Einsatz sind. Die Kommission schlägt vor, bei der Bestückung der nächsten Finanzierungsperiode 2021 bis 2027 das Haushaltsvolumen zu verdreifachen, indem wir uns vornehmen, bis zu 35 Milliarden für den Grenzschutz ausgeben zu können, damit wir in dieser Periode 10.000 Grenzbeamte zusätzlich anstellen können. Ich finde das gut, ich finde das teilweise aber auch lächerlich; denn mit 10.000 Mann kann man die Berge nicht versetzen. Wenn es also in Deutschland oder in Österreich regierende Menschen gibt – es sind ja Menschen wie die anderen –, die denken, das müsste schneller gemacht werden, wäre ich für eine diesbezügliche Ausführung dankbar, aber das kostet Geld. Wer mehr fordert, der muss auch mehr zahlen, und jeder wird mehr zahlen.

(Beifall bei der SPD, den FREIEN WÄHLERN und den GRÜNEN)

Die Wirtschafts- und Währungsunion muss vertieft werden, nicht einfach so im Galopp, hopp hopp, sondern vernünftig überlegt und vernünftig angelegt. Wir schlagen in dem Finanzrahmen für die nächsten Jahre zwei neue Instrumente vor, eines über 25 Milliarden Euro, um den Ländern, die dem Euro gerne beitreten würden, bei ihren Reformanstrengungen zu helfen, und 30 Milliarden Euro Darlehen, um im Falle asymmetrischer Schocks dafür zu sorgen, dass Bildungs- und Investitionspolitik nicht nach unten korrigiert werden. Wir tun dies alles, indem wir – das hat die Landtagspräsidentin überdeutlich formuliert – dem

Subsidiaritätsgedanken nicht nur anhängen, sondern ihn auch umsetzen. Ich bin ein großer Anhänger der Subsidiarität. Sie ist Teil der katholischen Soziallehre; zu der möchte ich mich hier bekennen. Oder muss ich sagen: der christlichen Soziallehre? Die Protestanten sind mir so lieb wie meine eigene Truppe. Aristoteles hat das Prinzip erfunden. Es gibt heute noch viele Christdemokraten, die denken, Aristoteles wäre ein Christdemokrat gewesen. Wir wissen es nicht besser.

Subsidiarität ist wichtig. Wir müssen dafür sorgen, dass europäische Entscheidungen doch national, regional und sehr oft auch lokal getroffen werden – wo diejenigen sitzen, die es besser wissen als wir in Brüssel. Deshalb haben wir zum Beispiel die Fälle, in denen es der Erlaubnis der Kommission bedurfte, im Beihilferecht, um 97 Prozent gesenkt. Die Menschen müssen wissen, dass die Kommission ihre Finger nicht in jeden Topf steckt.

Bayern war vorbildlich im Umgang mit Flüchtlingen im Herbst 2015.

(Allgemeiner Beifall)

Da mussten Hallen gebaut werden. Ich habe einige in der Gegend von Passau im Herbst 2015 besucht. Es mussten Container herbeigeschafft werden, es mussten Schulen gebaut werden. Da hat es damals die Rede gegeben, man müsse in Brüssel anfragen, ob man das tun darf. Dann habe ich auch aufgrund einer barschen Zurechtweisung der Bundeskanzlerin gesagt: Damit hören wir auf, es ist Dringlichkeit geboten, man kann nicht monatelange Genehmigungsverfahren in die Wege leiten und die Menschen auf der Wiese und in den Bergen hocken lassen. Insofern sind wir viel näher an der Wirklichkeit, als viele denken.

Um ein Stück Wirklichkeit zurückzuerobern, bin ich nachdrücklich der Auffassung, dass wir in Sachen sozialer Dimension Europas mehr leisten müssen, als wir es zurzeit tun.

(Beifall bei der SPD, den FREIEN WÄHLERN und den GRÜNEN)

Deshalb haben wir im November letzten Jahres in Göteborg den Grundsockel sozialer Rechte in die Wege geleitet. Ich war 17 Jahre lang Arbeitsminister; ich weiß, was in den Betrieben, in den Werkstätten, in den Fabrikhallen los ist. Diese Menschen fühlen sich von Europa nicht genügend anerkannt und finden, dass wir über ihre Würde hinweg Politik machen. Ich hätte gerne, dass wir das ändern und dass wir diese soziale Säule zu Gesetzestexten heranreifen lassen, so wie wir das in Sachen Entsenderichtlinie gemacht haben. Ab sofort gilt in Europa das Prinzip "Gleicher

Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort". Ich finde das normal.

(Allgemeiner Beifall)

Ich fände es auch normal, wenn wir in Sachen Steuerpolitik nicht unbedingt einen neuen Rhythmus anschlagen würden – das Tempo ist einigermaßen hoch –, sondern wenn wir Ernst machen würden mit dem Satz, dass Gewinne dort besteuert werden müssen, wo die Gewinne zustande kommen. Das betrifft vor allem die Internetriesen. Das ist kein Programm gegen die USA, sondern das ist einfach steuerliche Gerechtigkeit. Steuerliche und soziale Gerechtigkeit gehen zusammen.

(Allgemeiner Beifall)

Ich habe heute in einer Münchener Tageszeitung gelesen, ich sei nicht willkommen. "Münchner Merkur" heißt das Produkt.

(Heiterkeit)

Da steht sinngemäß, ich wäre Chef einer anonymen, blinden, überwuchernden Bürokratie und Technokratie. Sie werden deshalb verstehen, weil ich diese Bürokraten im Griff behalten muss, dass ich jetzt hier aufhöre und mich schnellstens wieder nach Brüssel zurückbewege, damit dort keine weiteren Dummheiten vom Zaun gebrochen werden. Ich möchte den Münchnern hier sagen – das habe ich mir extra heraussuchen lassen, obwohl sie das schon wussten –: Es gibt 32.000 Beamte der Europäischen Kommission, das heißt, ein Beamter auf 15.937 Bürger. In München, "Lichtgestalt Bayerns", "führende Macht des Kontinents", einer von mir heiß geliebten Stadt, gibt es einen Beamten auf 40 Einwohner. Ich habe es dann lieber mit meinen vielen Bürokraten zu tun, die eigentlich so viel nicht kosten, nämlich genau 6 Prozent des europäischen Haushalts. Der gesamte europäische Haushalt – das ist eine Debatte, die ins Haus steht – wird sich demnächst auf 1,11 Prozent des Bruttosozialprodukts belaufen. Das ist genau der Preis einer Tasse Kaffee pro Bürger und Tag. Europa sollte uns mehr wert sein als eine Tasse Kaffee. – Vielen Dank!

(Anhaltender allgemeiner Beifall)

Herr Präsident, nach diesem Beifall bleibt mir nur noch, Ihnen ein ganz herzliches Dankeschön zu sagen. Ich darf Ihnen auch für Ihren Eintrag in das Ehrenbuch des Bayerischen Landtags danken. Ich spreche das deshalb an, weil Sie diesen Eintrag mit einem großen Herzen versehen haben, also mit einem großen Herzen für Europa und damit auch für Bayern. Herzlichen Dank und alles

Gute für Sie, vor allen Dingen Gesundheit! Alle guten Wünsche begleiten Sie.