Protokoll der Sitzung vom 15.10.2015

(Beifall bei der SPD)

Flüchtlinge aus Böhmen, Schlesien, Pommern und Syrien teilen eine gemeinsame existenzielle Grunderfahrung, die Erfahrung von Krieg, von Not und Tod, von Leid und Elend und von Unrecht. Millionen Familienbiografien in Bayern sind von ihrem Flüchtlingsschicksal geprägt. Wir kennen das sehr gut, sagte der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Jugend Peter Paul Polierer im Gespräch mit der LandtagsSPD. Er sagte: Ein Flüchtling ist ein Flüchtling und ein Vertriebener ein Vertriebener, egal, ob vor 70 Jahren oder heute.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sorgen und Ängste der Einheimischen damals waren nach 1945 gewiss nicht geringer als heute. Aber die damalige Bayerische Staatsregierung hat ihre Ressentiments nicht noch verstärkt. Ich denke, das Hohe Haus und die Bayerische Staatsregierung sind in diesen Monaten gut beraten, eine Anleihe an Tatkraft und an Zuversicht, aber auch an Realismus bei Wilhelm Hoegner und der Aufbaugeneration unseres Landes zu nehmen.

(Beifall bei der SPD)

Nach den schlechten Kritikern und den sinkenden Umfragewerten für die Union hat die Öffentlichkeit heute die Regierungserklärung von Herrn Seehofer mit großer Spannung erwartet. Über der CSU war in den letzten Wochen viel Kritik niedergegangen. Die "BILD"-Zeitung attestiert Herrn Seehofer, er agiere wie ein Kleinkind, das bei Regen mit den Füßen aufstampft und schreit: Ich will nicht, dass es regnet. Die "Süddeutsche" schreibt vom flüchtlingspolitischen CSU-Klamauk. "Spiegel Online" beschreibt die Politik des CSU-Vorsitzenden als geschichtsvergessen, ohne Sinn und Verstand.

Herr Ministerpräsident, wir hatten Ihre Rede mit großer Spannung erwartet. Wir hatten erwarten dürfen, dass Sie heute sagen, wo es langgeht und was zu tun ist,

(Jürgen W. Heike (CSU): Hat er doch!)

statt sich in Larmoyanz zu baden, Bayern sei überfordert, und der Bund solle es jetzt richten.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CSU)

Der Herr Ministerpräsident hat heute Tatkraft simuliert, das heißt vorgetäuscht. Er hat Scheinlösungen präsentiert. Er ist in vielen Bereichen bewusst im Vagen geblieben und hat konkrete, handhabbare Lösungsvorschläge nicht vorgelegt.

(Kerstin Schreyer-Stäblein (CSU): Wo sind denn Ihre Vorschläge?)

Diese Regierungserklärung war eine Demonstration der Hilflosigkeit und der Machtlosigkeit.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir stellen fest, dass der bayerische Ministerpräsident außerparlamentarisch durchaus anders agiert als hier im Hohen Hause. Wir müssen den Eindruck gewinnen, als würde er vor seinen Reden hier im Parlament hin und wieder Kreide fressen. In den Bierzelten und Wirtshäusern hören sich seine Reden mitunter ganz anders an.

(Unruhe bei der CSU – Kerstin Schreyer-Stäblein (CSU): Unverschämt! – Glocke der Präsidentin)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt erst eine Woche zurück, als der Ministerpräsident von "Notwehr", "Nothilfe" und "Notmaßnahmen" sprach, die in Bayern nötig seien. Auch die Bayerische Verfassung kennt solche Maßnahmen. Geregelt sind sie in Artikel 48, der das Notstandsrecht zum Gegenstand hat. Wenn Notmaßnahmen nötig sind, muss die Staatsregierung unverzüglich den Landtag einberufen und ihn von allen getroffenen Maßnahmen unverzüglich verständigen.

Herr Seehofer hat nicht den Landtag, sondern die bayerische und die übrige deutsche Presse einberufen. Er hat angekündigt, Bayern werde gegen die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin Verfassungsklage in Karlsruhe einreichen.

Herr Ministerpräsident, wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie heute darlegen, auf welcher Grundlage Sie die Bundesregierung bzw. die Bundeskanzlerin verklagen möchten. Was sind Ihre Überlegungen und Planungen? Im Grundsätzlichen müssten Sie erklären: Sind Sie eigentlich noch Teil der deutschen Bundesregierung? Nehmen Sie Ihre Bundesverantwortung noch wahr?

(Lebhafter Beifall bei der SPD – Beifall bei Abge- ordneten der FREIEN WÄHLER und der GRÜ- NEN)

Es drängt sich mit Wucht der Eindruck auf, es gehe dem bayerischen Ministerpräsidenten um öffentlichen Alarmismus, um Stimmungsmache gegen die Bundeskanzlerin, um parteipolitische Polemik und um Kraftmeierei. Ich finde, es darf in diesen Zeiten für die Parteien nicht um billige Geländegewinne in der Tagespolitik gehen, selbst dann nicht, wenn einem die AfD im Nacken sitzt.

(Beifall bei der SPD)

Wir stehen vor grundlegenden Fragestellungen: Werden wir die globale Flüchtlingsbewegung des 21. Jahrhunderts mit dem Nationalstaatsmodell des 20. Jahrhunderts oder der Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts in Europa bewältigen können? Kehren wir 25 Jahre nach der deutschen Einheit und der überwunden geglaubten Teilung Europas in das Zeitalter des Schlagbaums – mit neuen Mauern, neuen Zäunen, neuem Stacheldraht – zurück? Der CSU-Generalsekretär sprach von einer "neuzeitlichen Völkerwanderung". Wird unsere Antwort darauf tatsächlich ein neuer Limes sein, von dem wir glaubten, er gehöre in das Geschichtsbuch oder in das Museum?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir denn nicht in unserer eigenen bayerischen Geschichte schmerzlich erfahren müssen, dass Grenzen immer auch mit Leid, mit der Einschränkung von Perspektiven auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem, kulturellem und demokratischem Gebiet, mit der Einschränkung des Geistes und, im schlimmsten Fall, von Menschenrechten verbunden sind? Haben wir nicht zur Kenntnis genommen, dass die Grenzöffnungen 1989 und 1990 mit einem demokratischen Zugewinn für Bayern und einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Freistaat verbunden waren? Niemals zuvor in der Geschichte des Freistaates Bayern – ich betone: ausgelöst durch die offenen Grenzen – waren der Volkswohlstand in unserem Land so schnell angestiegen und das Bruttoinlandsprodukt geradezu explodiert.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer – wie Herr Söder – Zäune um Bayern ins Gespräch bringt, wer – wie Herr Seehofer – das Hohelied auf den Nationalstaat preußischer Provenienz singt und wer – wie die CSUFraktion – einer Orbanisierung Bayerns und Europas das Wort redet, hat aus unserer Geschichte nichts, wirklich gar nichts gelernt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜ- NEN)

Das Parlament und die bayerische Öffentlichkeit hatten erwartet, heute von Ihnen, Herr Seehofer, Aufklärung zu erfahren, welches Konzept Ihrem Vorschlag, "Transitzonen" an den bayerischen Außengrenzen einzurichten, zugrunde liegt.

Vorweg: Es war richtig, dass die Bundesregierung mobile Grenzkontrollen eingeführt bzw. wieder eingeführt hat, um mehr Ordnung herzustellen. Viele Flüchtlinge kamen ohne Registrierung ins Land. Deshalb haben Bund und Länder am 24. September 2015 gemeinsam beschlossen, Warte- und Verteilzentren einzurichten, in denen die erste Aufnahme und Registrierung erfolgt. Das finden wir richtig.

Herr Ministerpräsident, Sie haben zuletzt öffentlich den Eindruck erweckt, Transitzonen in Freilassing oder in Passau könnten den Flüchtlingsdruck auf Bayern lindern und die Situation in den Grenzregionen entspannen. Das Gegenteil steht zu befürchten. Transitzonen werden an den Grenzen zusätzliche Belastungen herbeiführen. Bei derzeit 4.000 bis 5.000 neu einreisenden Flüchtlingen pro Tag müssten riesige Lager entstehen. Nach zehn Tagen würden sie sich auf 40.000 bis 50.000 Insassen anfüllen. Dies würde zu mehr Chaos führen statt zu mehr Ordnung, zu mehr Unsicherheit statt zu mehr Sicherheit. Herr Seehofer, würden Ihre Vorschläge, wie sie momentan auf dem Tisch liegen, umgesetzt, dann müssten unsere bayerischen Polizisten, die Helferinnen und Helfer und die Flüchtlinge selbst die Folgen ausbaden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir gehen davon aus, dass die Flüchtlinge es eher mit dem deutschen Lyriker Novalis halten werden: "Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da."

Die Flüchtlinge werden nach langer Anreise nicht anklopfen und sagen: Guten Tag, Herr Seehofer! Ich möchte mich in Ihrer Behörde melden. Sie werden die Transitzonen über die Wiesen und Wälder, Berge und Täler umgehen.

(Jürgen W. Heike (CSU): So ein Unsinn!)

Deshalb sagen wir, die SPD, klipp und klar: Warteund Registrierungszentren – bitte, ja. So haben wir es am 24. September gemeinsam vereinbart. Masseninternierungslager unter Aushöhlung des Individualrechts auf Asyl kann und wird es mit der Sozialdemokratie jedoch nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach das Dublin-III-System angesprochen, das auf eu

ropäischer Ebene Asylfragen regelt. Demnach muss ein Flüchtling in dem Staat um Asyl bitten, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat. Das sind insbesondere Italien, Griechenland und Ungarn.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Dublin III ist gescheitert. Ausgangspunkt und mitursächlich für die derzeitige ungeklärte Situation in Europa war im Übrigen ein Fehler der schwarz-gelben Bundesregierung. Diese hatte nämlich im Rahmen der Verhandlungen ein Aufnahmesystem für ganz Europa verhindert, da Deutschland damals unter den aufnehmenden Ländern nur auf Platz 14 lag. Vergangenheit!

Jetzt braucht es statt politischer Alleingänge eine europäische Lösung. Die Bundeskanzlerin – insoweit bin ich voll bei Ihnen – steht in einer besonderen Verantwortung, im guten Einvernehmen mit unseren Partnern eine Quotenlösung für Europa auszuhandeln, fair und nachvollziehbar. Verteilen wir die Flüchtlinge auf die 28 Mitgliedstaaten, werden Deutschland insgesamt und insbesondere Bayern entlastet. Die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland wird zurückgehen.

(Beifall bei der SPD)

Wir machen uns nichts vor: Die Länder, die Kommunen und die freiwilligen Helfer sind an ihren Belastungsgrenzen angekommen. Viele Bürgerinnen und Bürger, gerade diejenigen aus den Helferkreisen, fragen sich, ob das hohe Tempo, mit dem neue Flüchtlinge ankommen, auf Dauer verkraftbar ist und ob wir in der Lage bleiben, sie menschenwürdig unterzubringen und zu integrieren. Diese Sorgen dürfen wir weder ignorieren noch durch hilflose Parolen verstärken.

Deshalb sage ich: Wir müssen zusammenarbeiten, um die Flüchtlingsbewegung nach Bayern und nach ganz Deutschland in geordnete Bahnen zu lenken, zu verlangsamen und perspektivisch zu verringern. Dafür müssen wir die europäischen Horizonte erweitern und nicht einengen, die Zusammenarbeit verstärken und nicht aufkündigen. Herr Ministerpräsident, torpedieren Sie nicht weiter die Bemühungen der Bundesregierung und speziell der Bundeskanzlerin, eine europäische Lösung zu finden!

(Beifall bei der SPD)

Unsere humanitäre Verantwortung beginnt aber nicht erst auf bayerischem oder europäischem Boden. Deshalb hat die Bundesregierung beschlossen, Jordanien, den Libanon und die Türkei stärker zu unterstützen, um auch dort die Lebensbedingungen von Flüchtlingen zu verbessern. Frank-Walter Steinmeier ist es beim G-7-Außenministertreffen in New York gelungen, eine weitere Aufstockung der internationalen

Flüchtlingshilfe um insgesamt 1,8 Milliarden Dollar zu erreichen. Deutschland wird sich an dieser internationalen Initiative mit 100 Millionen Euro beteiligen. Wir haben unsere humanitäre Hilfe bereits um 400 Millionen Euro erhöht.

Wir wissen aber auch, dass der Kampf gegen die Fluchtursachen in den Heimatländern einen langen Atem erfordert. Dies gilt insbesondere für den blutigen Bürgerkrieg in Syrien. Dort muss das Töten nach fünf Jahren und 12 Millionen Flüchtlingen endlich ein Ende haben.

(Beifall bei der SPD, den FREIEN WÄHLERN und den GRÜNEN)

Wir begrüßen es, dass die Bayerische Staatsregierung heute ein Integrationspaket vorgestellt hat und damit die konkreten Vorschläge der Opposition aus der Vergangenheit – wenn auch mit deutlicher Verspätung – aufgreift. Wir werden genau überprüfen, ob Ihre Ankündigungen heute auch mit dem notwendigen Tempo umgesetzt werden. Dies war in der Vergangenheit nicht immer der Fall, nicht bei der Schaffung von neuen Erstaufnahmekapazitäten, nicht bei der Frage nach mehr Asylsozialberatung oder Dolmetschern und vielen anderen Fragen mehr. Auch deshalb hatten Sie, Herr Ministerpräsident, im Herbst 2014, reagiert und Ihre oberste Flüchtlingsmanagerin, Frau Sozialministerin Müller, entmachtet, weil sie offensichtlich damals mit den Organisationsfragen in der Flüchtlingspolitik in Bayern überfordert war.

(Widerspruch bei der CSU)

Bis zum heutigen Tag ist wertvolle Zeit verstrichen. Die Opposition hatte bereits bei den regulären Haushaltsverhandlungen Sofortmaßnahmen beantragt und auch einen Nachtragshaushalt für 2015 gefordert. All das haben Sie vor einem Jahr noch abgelehnt mit der Folge, dass das Integrationspaket erst jetzt, ein Jahr zu spät, greift. Schade um die zwölf Monate, die hierbei verschenkt wurden. Sie hätten besser früher auf die Opposition gehört.

(Beifall bei der SPD)