Protokoll der Sitzung vom 10.05.2016

Kollegin Kamm, glauben Sie es mir, ich habe die Erfahrung nach 20 Jahren Arbeit in diesem Bereich: Der Wunsch eines Kindes oder eines Jugendlichen ist manchmal auch eingeflüstert und entspricht nicht immer dem Kindeswohl; da gibt es entsprechende Erfahrungen. So etwas kann man also nicht in einem Antrag festschreiben. Deshalb bleiben wir als SPDFraktion bei unserer Enthaltung zu dem Antrag.

Ich hebe nochmals hervor: Natürlich geht es uns um das Kindeswohl; es geht uns um die richtige Jugendhilfe zum richtigen Zeitpunkt. Wir brauchen die Jugendlichen, die jetzt zu uns kommen. Das sagen sowohl Handwerk als auch Industrie. Auch die bayerische Wirtschaft äußert sich dahin gehend, dass wir diese Jugendlichen brauchen. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Frau Kollegin Weikert. Bitte bleiben Sie noch da; die Frau Kollegin Kamm hat sich zu einer Zwischenbemerkung gemeldet.

Liebe Kollegin Weikert, Sie haben den Antrag leider nicht in seiner Zielsetzung gelesen; denn hier steht ganz deutlich, dass die vorläufige Inobhutnahme kindeswohlorientiert zu gestalten ist. Das ist die Zielsetzung des Antrags.

(Zuruf von der CSU: Wie gut, dass sie alles weiß!)

Wogegen wir uns wehren, ist die Tatsache, dass mit der Neuregelung, die am 1. November 2015 in Kraft getreten ist, die Jugendlichen in eine vorläufige Inobhutnahme genommen werden und in dieser vorläufigen Inobhutnahme die Situation des Jugendlichen eben nicht genau abgeklärt wird. Da wird kein ordentliches Clearingverfahren durchgeführt, und die Jugendlichen werden nach einer ziemlich reduzierten Betreuung anschließend im Bundesgebiet verteilt.

Dieses Verteilungsverfahren halten wir für nicht gut. Das müssen Sie auch so sehen. Sie müssen auch sehen, dass es nicht gut ist, wenn sich in Bayern 4.500 Jugendliche in vorläufiger Inobhutnahme befinden. Darin können wir doch wirklich übereinkommen. Was Sie vorhin gesagt haben, nämlich dass die Bundesratsinitiative der Bayerischen Staatsregierung abzuwehren ist, habe ich in meinem Beitrag übrigens auch angeführt.

Danke schön. – Frau Weikert bitte.

Ich habe diesen Antrag sehr wohl gelesen, und da steht:

… vorläufige Inobhutnahme kindeswohlorientiert zu gestalten.

Dabei ist insbesondere auf folgende Punkte zu achten:

Es muss sichergestellt werden, dass die vorläufige Inobhutnahme tatsächlich nicht länger als zwei Wochen dauert, …

Das ist das enge Korsett, von dem ich vorhin gesprochen habe. Auch bei einer vorläufigen Inobhutnahme sind zwei Wochen kein langer Zeitraum. Wenn man wirklich sicherstellen will, dass man dieses Kind, diesen Jugendlichen an ein verantwortliches Jugendamt in einem anderen Bundesland abgibt, kann man den Zeitraum hierfür nicht auf zwei Wochen reduzieren. Ich habe Ihren Antrag also, wie gesagt, sehr wohl gelesen.

Im Übrigen, Frau Kamm: Angesichts der nur noch wenigen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die jetzt noch zu uns kommen, bräuchten wir dieses Verteilungssystem bald vielleicht überhaupt nicht mehr. Wir könnten sie nämlich sehr wohl in Bayern aufnehmen. Wir bräuchten sie; wir haben die Infrastruktur dafür. Also braucht man eigentlich gar nicht mehr auf das Verteilungssystem einzugehen. Deshalb hat es mich gewundert, dass ihr diesen Antrag jetzt noch hochzieht.

Kollegin Kamm, ich weiß es nicht im Hinblick auf ganz Bayern, aber ich weiß, dass sich in der Stadt Nürnberg – und Nürnberg ist immerhin die zweitgrößte Stadt in Bayern – kein Jugendlicher mehr in einer Notunterkunft befindet. Inzwischen streitet man sich schon wieder um sie.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Frau Kollegin Weikert. – Nächster Redner ist Herr Dr. Fahn. Bitte schön.

(Unruhe)

Jetzt hat Herr Dr. Fahn das Wort. Bitte schön.

Sind Sie jetzt mit Ihrer Kommunikation am Ende? – Schön.

Zunächst einmal: Frau Weikert hat viel von Herrn Söder und den unbegleiteten Flüchtlingen gesprochen, die aus der Jugendhilfe herausgenommen werden sollen. Das sollen wir verhindern. Okay, da gebe ich Ihnen recht. Aber das hat mit dem Antrag, der heute diskutiert wird, eigentlich gar nichts zu tun. Das ist ein eigenes Thema, wozu man einen neuen Antrag stellen kann. Das wäre ganz wichtig, sinnvoll und interessant.

Wir beschäftigen uns konkret mit den sieben Punkten des Antrags der GRÜNEN, nur darum geht es. Zum Anliegen, keine Kindeswohlgefährdung bei der Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zuzulassen, sagen auch wir auf der einen Seite klar Ja: Eine Kindeswohlgefährdung wollen wir natürlich nicht. Aber das heißt auf der anderen Seite nicht, dass wir deshalb dem Antrag der GRÜNEN zustimmen; denn es geht im Antrag der GRÜNEN um sieben Punkte, die ich kurz aufschlüsseln will.

Erstens. Auch wir sehen ganz klar diese zeitliche Begrenzung der Inobhutnahme von maximal zwei Wochen. Mehr geht hinsichtlich der Durchführbarkeit nicht. Auch ist zu befürchten, dass im Laufe des Frühjahrs und des Sommers die Flüchtlingszahlen wieder ansteigen werden. Deshalb ist eine starre Festlegung auf zwei Wochen aus organisatorischen und praktischen Gründen nur schwer oder kaum umsetzbar. Daher stört uns das starre Festhalten an zwei Wochen. Wir von den FREIEN WÄHLERN fordern immer flexible Lösungen. Sie hätten schreiben können: Das ist in zwei Wochen anzustreben. Dann könnten wir eher darüber reden.

Zweitens. Da die Jugendlichen keine erziehungsberechtigten Eltern haben, vertritt sie rechtlich das Jugendamt. Warum sollen wir zusätzlich eine unabhängige Stelle haben? Auch dies fordern Sie in Ihrem Antrag. Wir haben gut funktionierende Jugendämter und wollen keine Parallelstrukturen.

Drittens. Auch die geforderte, recht nebulös formulierte Berücksichtigung sogenannter sozialer Beziehungen hat uns gestört. Wer garantiert, dass es sich bei angeblich sozial nahestehenden Personen nicht um Personen handelt, die man überhaupt nicht kennt

oder die irgendwelche Probleme haben? Deswegen ist dieser Punkt für uns nicht umsetzbar. Auch den erweiterten Verwandtschaftsbegriff sehen wir durchaus kritisch. Durch das Einbeziehen weiterer zahlreicher Personen wird die Verwaltung vor viel größere Probleme gestellt, also ohnehin schon da sind.

Viertens. Dem Spiegelstrich "... die aufnehmenden Kommunen müssen gut vorbereitet sein" stimmen wir zu. Das ist in Ordnung.

Fünftens. Im Hinblick auf die ungewisse Entwicklung der Flüchtlingssituation ist die Forderung, frei gewordene Plätze in Jugendhilfeeinrichtungen zu erhalten, durchaus richtig. Kurzsichtige Kapazitätsverringerungen sind nicht zielführend.

Sechstens. Eine von Beginn an umfassende medizinische Versorgung ist sinnvoll. Aber es ist wichtig, die Sinnhaftigkeit einer unabhängigen Beschwerdestelle auf Landesebene in die Überlegungen einzubeziehen. Deshalb können wir dem Antrag der GRÜNEN nicht zustimmen.

Siebtens. Wir erleben es bei den Anträgen der GRÜNEN immer wieder, dass für die Integration bayernweit neue Stellen gefordert werden. Die Formulierung im Antrag wird den Problemen in den Kommunen nicht gerecht. Eine dezentrale Lösung vor Ort wäre besser als eine aufgepfropfte Landesstelle, die jetzt eingerichtet werden soll.

Frau Kamm hat von Länderöffnungsklauseln gesprochen. Darüber, ob diese sinnvoll sind oder nicht, kann man diskutieren. Aber das steht nicht im Antrag. Deswegen möchte ich mich jetzt dazu nicht äußern.

Fazit: Einige Punkte des geforderten Maßnahmenkatalogs sind durchaus sinnvoll. Das möchte ich nicht bestreiten. Aber manche Forderungen sind zu starr formuliert, nicht machbar, nicht umsetzbar und schaffen Parallelstrukturen. Deswegen halten wir den Antrag nicht für zielführend. Wir lehnen den Antrag deshalb ab.

(Beifall bei den FREIEN WÄHLERN)

Danke schön, Herr Dr. Fahn. – Unser letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Herr Staatssekretär Hintersberger. Bitte schön.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich möchte zusammenfassen: Ich bin den Kolleginnen Kaniber und Weikert sehr dankbar, die deutlich gemacht haben, dass Ihr Antrag wirklich überholt

(Angelika Weikert (SPD): Auch in Bezug auf Herrn Söder!)

und nach der Diskussion im Ausschuss auch schwer nachvollziehbar ist. Der Großteil der Forderungen ist Bestandteil des Gesetzes. Der Antrag ist in sich widersprüchlich. Sie können nicht auf der einen Seite eine intensive, umfassende Betreuung fordern und gleichzeitig auf der anderen Seite dieses technische Fenster mit der kürzest möglichen Zeit von 14 Tagen festlegen. Auch betrifft der Antrag Bereiche, insbesondere den kommunalen Bereich, die außerhalb der Einflussnahmemöglichkeiten der Staatsregierung liegen.

Wir haben in Bayern mittlerweile für die unbegleiteten Minderjährigen unwahrscheinlich viel erreicht, auch gute Strukturen, und unsere Kommunen entlastet. Ich kann sagen: Den unbegleiteten Minderjährigen in Bayern geht es in der Inobhutnahme der Jugendhilfe in den Anschlusseinrichtungen der vielen guten sozialen Träger und der freiwilligen Helfer gut.

Liebe Kollegin Kamm, ich kann überhaupt nicht verstehen, warum hier – ich sage: künstlich – Emotionen erzeugt werden, um dies eher negativ darzustellen. Damit wird eine Stimmung verbreitet, die insgesamt weder gut noch zielführend ist. Die bundesweite Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen ist festgelegt und erfolgreich angelaufen. Über 4.000 unbegleitete Minderjährige wurden von den bayerischen Kommunen bereits zur bundesweiten Verteilung angemeldet. Wer genau hinschaut, stellt fest: Die genannte Zahl der unbegleiteten Minderjährigen in Not- und Übergangslösungen stammt vom Ende des letzten Jahres. Der Anteil Bayerns, der ursprünglich Ende Oktober 2015 noch bei rund 29 % lag, konnte mittlerweile auf rund 21 % gesenkt werden. Es sind, in absoluten Zahlen ausgedrückt, knapp 14.000 unbegleitete Minderjährige. Dies bedeutet eine spürbare Entlastung der Kommunen und des ganzen Schul- und Gesundheitssystems, aber auch günstigere Voraussetzungen für die Kinder und Jugendlichen, weil sie eine dementsprechend günstigere Infrastruktur vorfinden.

Gleichzeitig wurde im Zuge der Gesetzesänderung zur bundesweiten Verteilung dem Kindeswohl klipp und klar höchste Priorität eingeräumt. Wenn irgendetwas dem Kindeswohl entgegensteht, erfolgt keine Verteilung. Auch dies ist festgelegt. Das wird in jedem Einzelfall geprüft. Die jungen Menschen werden deshalb sofort nach ihrer Ankunft medizinisch untersucht. Außerdem prüft das Jugendamt sofort, ob verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Dann wird die Familie zusammengeführt, aber nicht nach der von Ihnen vorgesehenen erweiterten Definition. Ich möch

te das, was Frau Kollegin Kaniber hierzu vorhin ausgeführt hat, eindeutig unterstreichen.

Was die Clearingstellen betrifft, die den Bedarf an besonderen Maßnahmen klären, etwa ob Erziehungshilfe gewährt werden soll, die der unbegleitete Minderjährige benötigt: Eine derartige Entscheidung ist dort sinnvoll, wo das Kind bzw. der Jugendliche verbleibt, nämlich sozusagen im Stammhaus. Dort gehört er hin; dort wird der unbegleitete Jugendliche die nächste Zeit, die nächsten Jahre leben. Ebenso bietet die Jugendhilfe bereits in der vorläufigen Inobhutnahme die von Ihnen geforderte pädagogische und medizinische Versorgung und Betreuung.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, die Forderungen nach Berücksichtigung, der Aspekt der sozialen Bindung usw. sind Bestandteil der gängigen Praxis. Ich möchte an dieser Stelle auch eine Lanze brechen für all die Menschen, die ehrenamtlich oder im Angestelltenverhältnis Tag für Tag lebendig und mit viel Herzblut und Leidenschaft die Betreuung garantieren. Ein herzliches Dankeschön dafür, dass dies in Bayern wirklich gut und im Interesse des Kindeswohls geschieht.

Noch ein Punkt, der die Forderung im Hinblick auf die Dauer der vorläufigen Inobhutnahme betrifft: Sie fußen hier auf falschen Annahmen. Bereits jetzt beläuft sich die Phase der vorläufigen Inobhutnahme in der Regel auf nicht mehr als drei Wochen. Kürzere Fristen werden angestrebt, aber – das ist deutlich gemacht worden und auch richtig so – sie dürfen nicht zulasten der jungen Menschen gehen. Von daher widersprechen Sie sich in Ihrem Antrag zum Teil selbst.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch eine gesonderte Beschwerdestelle ist nach meiner Überzeugung in keiner Weise nötig – ganz im Gegenteil, sie ist sogar kontraproduktiv. Den unbegleiteten Minderjährigen stehen die vorhandenen Beschwerdestrukturen der Jugendhilfe in Bayern genauso zur Verfügung wie allen anderen Jugendlichen. Das ist gut und richtig so.

Wir sind der Überzeugung, dass sich das System der bundesweiten Verteilung bestens bewährt hat. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten in einem Abschmelzungsprozess bis zum Königsteiner Schlüssel, in dem ein Anteil von 15,5 % festgelegt ist, weiterhin sehr intensiv an einer Verteilung arbeiten. Wir stellen fest, dass sich die Aufnahmekommunen in den Ländern mittlerweile gut auf die Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen eingestellt haben. Die Kinder und Jugendlichen sind nicht trotz, sondern wegen der bundesweiten Verteilung gut untergebracht und betreut.

Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Weikert zu?

Gleich. – Nur so ist gewährleistet, dass die Strukturen die einzelnen Jugendämter nicht überfordern. Dies kommt auch der Qualität der Betreuung und damit jedem einzelnen Jugendlichen zugute. Ich bitte daher, diesen überholten und in vielen Teilen widersprüchlichen Antrag abzulehnen. – Jetzt Frau Kollegin Weikert.

(Beifall bei der CSU)

Danke schön, Herr Staatssekretär. – Einen Moment, lassen Sie ihm noch den Beifall. Jetzt ist die Frau Weikert an der Reihe. Bitte schön.