Protokoll der Sitzung vom 22.08.2002

Ferienzeit genutzt haben, um die Antworten auf dieses Desaster zu geben.

(Abg. Frau S t a h m a n n [Bündnis 90/ Die Grünen]: Haben Sie doch schon längst!)

Ich komme gleich dazu! Lieber Herr Mützelburg, Sie wissen besser als ich, dass sechs Wochen überhaupt nicht reichen, um nur eine einzige Antwort zu nennen. Das heißt, Sie nutzen dies, um hier politischen Honig zu saugen! Ich habe Verständnis aus der Situation, in der Sie sind als Opposition, aber ansonsten fehlt mir jegliches Verständnis dafür, dass Sie das nach sechs Wochen Ferienzeit hier von mir verlangen. Das zum einen, weshalb es heute hier keine Antwort gibt!

Ich werde Ihnen gleich die Maßnahmen nennen, die wir konkret angegangen sind, denn Sie haben mich zu Recht zitiert, dass ich gesagt habe, ich warte nicht, bis ich im Juni ein schlechtes Ergebnis bekomme. Sie können auch überall nachlesen, dass ich dieses schlechte Ergebnis schon vor dem Dezember 2001 prophezeit habe, weil ich meine Schulen kenne! Ich kenne mich in den Schulen aus, ich kenne die Lehrerinnen und Lehrer, deren Probleme, die Schulleiter, deren Probleme. Ich weiß das, ich brauchte nicht dieses furchtbare Zeugnis zu bekommen, Herr Mützelburg!

(Abg. M ü t z e l b u r g [Bündnis 90/Die Grünen]: Dann hatten Sie ja Zeit genug!)

Deshalb haben wir ganz viele Maßnahmen eingeleitet, die ich Ihnen alle noch einmal nenne, obwohl Frau Hövelmann in ihrem Debattenbeitrag einige sehr wesentliche schon genannt hat. Ich werde sie Ihnen nennen, aber bevor ich das mache, sage ich Ihnen noch einmal genau, warum ich angetreten bin.

Die Zielsetzungen meiner Arbeit: Ich möchte hier in Bremen mehr Kindern zu höheren Schulabschlüssen verhelfen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist mein allererstes Ziel, weil ich aus einer langjährigen, nichtpolitischen Erfahrung weiß, dass wir unseren Kindern dann Chancen verbessern und eröffnen, wenn wir die schulische und berufliche Ausbildung so gut wie möglich gestalten. Das war der erste Punkt.

Zweiter Punkt: Wir müssen alle Begabungen unserer Kinder frühzeitig erkennen. Das tun wir sehr häufig nicht. Wir müssen sie dann auch viel gezielter fördern, als wir das bisher getan haben. Diesen Begabungen, die in unseren Schulen vorhanden sind, müssen wir viel besser gerecht werden, als wir das bisher in unserem bremischen Schulsystem tun.

Drittens: Jetzt gibt es aber auch Schwächen unserer Schülerinnen und Schüler, auch die erkennen wir leider nicht, weil offensichtlich die Lehrerinnen und Lehrer, Herr Mützelburg, nicht dazu ausgebildet worden sind, diagnosefähig zu werden. Deshalb ist das eine Baustelle, an der wir auch arbeiten und wozu wir auch Antworten zu geben haben. Aber zu diesem Punkt, wie kommen wir dazu, unseren Kindern bessere Abschlüsse zu geben, dazu, muss ich sagen, müssen wir die Diagnose, und zwar ganz früh in der Grundschule, schon deutlich verbessern.

Jetzt kommt ein weiterer Punkt, und den nehmen Sie mir bitte nicht krumm! Das besondere Desaster der Pisa-E-Ergebnisse ist doch, dass wir in den Familien, die bildungsfern sind, so ein furchtbares Ergebnis haben, dass 38 Prozent dieser Kinder, obwohl sie als Fünfzehnjährige getestet worden sind, auf dem Stand eines Fünftklässlers geblieben sind. Das ist ein Desaster, das wir natürlich auch in den vergangenen Jahren immer wieder erfahren haben, wenn wir von den Ausbildungsbetrieben die Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten bekamen.

Bei der Deutschen Bundesbahn hat man mich einmal damit konfrontiert, die haben den Aktenordner gezogen und haben gesagt: Lesen Sie sich das einmal durch! Schauen Sie sich die Ergebnisse der Ausbildungseingangsprüfung einmal an! Ich bin fast in Ohnmacht gefallen, was ich da zu lesen hatte, und das aufgrund dieser Ergebnisse! Wir brauchen aber auch einen qualifizierten Beruf, der sich aus einem Hauptschulabschluss entwickelt. Deswegen müssen wir auch hierauf eine Antwort geben.

Ich kann nicht diese Familien allein lassen, sondern ich muss genau diese Familien, diese 38 Prozent, viel gezielter fördern, damit sie auch zum Hauptschulabschluss kommen, und zwar möglichst schon nach zehn Jahren und nicht erst nach zwölf Jahren oder noch durch Einschaltung von Volkshochschulkursen oder sonst etwas. Ich muss sie viel gezielter fördern, während sie ihre Schulzeit in der allgemeinen Schule verbringen.

Jetzt zu den Maßnahmen, die wir konkret eingeleitet haben! Wir haben mit der Kollegin Frau Röpke schon seit Dezember 2001, vorher mit ihrer Vorgängerin, die Maßnahmen diskutiert, und wir sind dabei, sie in sehr engem Schulterschluss umzusetzen. Das ist nicht immer selbstverständlich, dass Ressorts so offen und kooperativ zusammenarbeiten, wie wir das hier in Angriff genommen haben. Sie können aber nicht erwarten, dass das alles, die Sprachtests, die Sprachförderung im Kindergarten, die Ausbildung der Erzieherinnen, von jetzt auf gleich umgesetzt werden kann. Das sind ganz wichtige Dinge.

Übrigens, Herr Rohmeyer, Ihnen wollte ich sagen, ich orientiere mich nicht am deutschen Meister, dann müssen Sie bitte in der Sportlersprache sagen, ich orientiere mich am Champions-League-Sieger, und

das ist Finnland. Die haben 60 Prozent Abiturienten, davon sind wir weit entfernt!

(Abg. R o h m e y e r [CDU]: Sie wollen Bremen ernsthaft immer noch mit Finnland vergleichen? – Abg. Frau H ö v e l m a n n [SPD]: Deutschland!)

Nein, Deutschland! Ich will den Industriestandort Deutschland mit dem Industriestandort Finnland vergleichen! Die haben eine hohe Technologie, denken Sie an viele Firmen, Nokia fällt mir ein, auch andere Firmen, die wirklich exzellent sind. Aber – das sage ich jetzt hier entschuldigend zu unseren Lehrerinnen und Lehrern – die haben zwei Prozent Migrantenkinder, wir haben hier getestet 40,6 Prozent! Das müssen wir all denjenigen, die uns attackieren, sagen. Vergleichen Sie bitte nicht die Ausgangssituation von Bayern mit 20 Prozent mit unserer mit 40,6 Prozent!

(Beifall bei der SPD)

Das ist auch eine Ursache, das wissen wir doch alle, die zu diesem furchtbaren Ergebnis geführt hat, weil wir noch nicht die Antwort darauf gefunden haben, wie wir diese Kinder eben viel gezielter fördern, als wir das bisher getan haben.

Den ersten Punkt habe ich genannt. Ich habe den zweiten Punkt auch genannt, Einsetzung eines runden Tisches schon zu Beginn des Jahres 2002. Die Ergebnisse werden nach einer sehr gründlichen Analyse im Oktober dieses Jahres erwartet, und ich werde sie Ihnen präsentieren. Ich habe gesagt, wir alle tragen Verantwortung. Ich habe Sie persönlich angesprochen, ich habe hier im Haus mehrfach die Elternhäuser angesprochen. Erziehung und Bildung fangen in den Elternhäusern an!

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Es gibt aber auch Familien, die wir gezielt fördern müssen, die das nicht aus eigener Kraft leisten können, meine Damen und Herren. Jeder, der sagt, wir können Chancengleichheit erzielen, der kennt die Wahrheit nicht. Wir bekommen keine Chancengleichheit hin, aber wir müssen uns heftig darum bemühen für die Kinder, die zum Teil mit gleichen kognitiven Leistungen antreten und nicht die Chancen bekommen, die Kinder aus Familien mit einem Bildungshintergrund bekommen. Das ist übrigens auch ein dramatisches Ergebnis aus Pisa, wenn Sie sich das einmal anschauen, dass Kinder mit gleichen kognitiven Voraussetzungen aus bildungsfernen Haushalten vierfach schlechtere Bildungschancen haben in Deutschland. Das ist kein Bremer Problem, sondern ein Problem in Deutschland, das ist eine Schande, meine Damen und Herren. Das haben

unsere Kinder in Deutschland, in Bremen nicht verdient.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Ich habe über die Eltern gesprochen, und ich habe allen Eltern in Bremen einen Brief geschrieben, in dem wir ganz dezidiert auch noch einmal darauf hingewiesen haben, dass sie alle eine Mitverantwortung tragen. Wir können nicht den Lehrerinnen und Lehrern den Auftrag geben, das allein umzusetzen, sondern sie müssen ihren Beitrag auch dazu leisten.

Wir haben mehrere Schulleiterveranstaltungen durchgeführt, in denen wir mit den Schulleitern die Ursachen diskutiert haben. Eine Ursache ist ohne Frage die fehlende Testkultur an Bremer Schulen. Wir haben in Bremen leider nicht die Einstellung, dass Leistungen, dass Ziele gesetzt werden.

(Glocke)

Irgendjemand, Herr Präsident, hat mir einmal erzählt, die Redezeiten gelten nicht für Senatoren. Können wir das eben klären?

(Abg. D r. K u h n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Normal ist das richtig! – Abg. E c k - h o f f [CDU]: Normal hält sich der Senat daran!)

Heute halte ich mich nicht daran, weil das Thema viel zu wichtig ist, Herr Eckhoff!

(Beifall bei der SPD)

Ich habe mit den Schulleitern dieses Problem der fehlenden Testkultur besprochen. Die Schulleiter teilen meine Auffassung, dass es dringend erforderlich ist, hier umzudenken. Wir müssen dazu kommen, dass wir nicht immer nur reden, was wir in die Schulen geben, sondern wir müssen auch darüber reden, was bekommen wir an Rückmeldungen aus den Schulen, wie schaffen wir es, die Sitzenbleiberquote zu senken! Das ist mein Ziel.

Ich sage nicht, wir dürfen die Kinder nicht mehr sitzen bleiben lassen. Aber mein Ziel, Herr Rohmeyer, ist, die Schulen so auszustatten, dass sie das Geld gezielt einsetzen zur Förderung derjenigen, denen sie im Halbjahreszeugnis sagen: Du schaffst es nicht. Die sollen gezielt gefördert werden! Die sollen Nachhilfe bekommen, nicht von ihren Eltern, die sich das erlauben können, weil sie eine dicke Brieftasche haben, sondern weil wir die Verantwortung haben, weil wir das an die Schulen übertragen und sagen, liebe Lehrerinnen und Lehrer, bitte gezielt fördern, um die Sitzenbleiberquote zu senken!

Das ist angekommen bei den Schulen, die natürlich fragen: Okay, aber wie sollen wir es denn ma

chen? Jetzt hat Frau Hövelmann gesagt: Sprachkurse! Das ist eine ganz klare Antwort, da habe ich nicht erst bis zu Pisa-E gebraucht, sondern das haben wir am 1. Februar 2002, Herr Mützelburg, bereits durchgeführt, und es hat eine große Zustimmung gegeben in der Bevölkerung und auch bei den Schulen. Das läuft!

Wir machen Leseintensivkurse, das dient zur Förderung von Kindern. In der zweiten Klasse, meine Damen und Herren, gibt es die ersten Kinder, die keine Spur von Rechnen, Schreiben, Lesen mitbekommen haben. Das sind nicht viele, ein Kind, zwei Kinder, das ist unterschiedlich an den Schulen. Diese Kinder sind bisher überhaupt nicht berücksichtigt worden, die sind mit durchgeschleppt worden. Das war schwierig, aber sie sind eben nicht gezielt gefördert worden.

Wir haben im letzten Jahr in drei Feldversuchen herausgefunden, wenn man diese Kinder ein Vierteljahr aus den Klassen herausnimmt, sie in Kleingruppen mit nur acht Kindern fördert, dann gibt es auf einmal ein Aha-Erlebnis. Diese Kinder, von denen wir gedacht haben, die schaffen es nie, die kommen auf einmal zurück in die Klasse, sind stolz wie Oskar und sagen: Ich kann jetzt lesen, ich kann jetzt schon ein bisschen schreiben, ich kann schon ein bisschen rechnen. Das, Herr Rohmeyer, verstehe ich unter einer gezielten Förderung von Kindern, die es brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Das möchte ich entsprechend weiter fördern, und das ist eine Maßnahme, Herr Mützelburg, wo wir nicht auf irgendwelche Pisa-Diskussionen im Parlament gewartet, sondern gesagt haben, wir kratzen alles zusammen, was wir haben, nehmen den Schulen – was Sie eben kritisiert haben, was ich genau richtig finde – die mit der Gießkanne verteilten Mittel weg und sagen, wir wollen jetzt genau sehen, wofür ihr Sozialstrukturmaßnahmen ausgebt, ich will genau jede einzelne Stunde von euch belegt haben. Findet am Nachmittag eine Schach-AG statt, oder fördert ihr, wie ich das als Senator will, schwache Kinder, oder, was ich auch okay finde, macht ihr eine ganz gezielte Begabtenförderung über computergesteuerten Unterricht, wie auch immer? Wir können da Dinge parallel entwerfen, das ist auch okay.

(Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Herr Lemke, dafür brauchen wir verlässliche Richtlinien! Wo sind sie denn?)

Wir brauchen verlässliche Richtlinien. Aber wir brauchen als Wichtigstes grundsätzlich ein Umdenken, Frau Linnert! Wir brauchen ein Umdenken bei Eltern, bei Lehrern und bei Bildungspolitikern. Wir müssen eine bessere Schule schaffen, und zwar nicht, indem wir uns hier den Schädel einschlagen, sondern indem wir einen gemeinsamen Schulterschluss

hinbekommen. Da sind wir unseren Kindern gegenüber einfach in der Verantwortung.

Wir haben ja einige wenige Schüler, die hier noch dieser Diskussion folgen, die müssen doch eigentlich sagen: Das darf doch kein Wahlkampfthema sein, das muss doch ein Thema sein, das in die Zukunft gerichtet ist für unsere Stadt. Das Ergebnis ist so vernichtend, ich leide wirklich unter den Ergebnissen. Aber bitte, lassen Sie uns das nicht für einen Wahlkampf missbrauchen, sondern lassen Sie uns auch diese Chancen nutzen!

(Beifall bei der SPD – Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Das ist ein Wahl- kampfthema!)

Herr Mützelburg hat nach weiteren Maßnahmen gefragt. Ich habe nicht die Vergleichsarbeiten erwähnt. Im November 2001 habe ich angeordnet, dass wir Vergleichsarbeiten in Klasse drei, in Klasse sechs, in Klasse zehn schreiben. In allen Bremer Schulen hat das mit Erfolg stattgefunden, an Bremerhavener Schulen übrigens auch. Da haben sie es nur nicht in Klasse zehn gemacht, weil sie es schon seit Jahren in Klasse neun machen, und das habe ich nicht in Frage gestellt. Wissen Sie, was die Konsequenz dieser Vergleichsarbeiten ist? Dass auf einmal Lehrerinnen und Lehrer aus den unterschiedlichen Klassen miteinander kommunizieren über Inhalte, über Ziele, sie reden mit anderen Schulen, das ist absolut gewollt, und das empfinde ich als ausgesprochen positiv!

Diese Standards, ausgehend von der KMK, werden wir weiter ausbauen. Es wird dort im nächsten Jahr zentrale Aufgaben geben. In diesem Jahr – ich musste ja diese Vergleichskultur erst einmal implementieren – haben wir es den Schulen überlassen. Im nächsten Jahr gibt es standardisierte, zentral ausgegebene Aufgaben, um zu sehen, wo befinden sich die einzelnen Schulen.

Jetzt wieder etwas Wichtiges, übrigens etwas, was ich in Finnland gelernt habe, die sagen: Macht nicht ein Ranking im Sinne von name, blame, shame, sondern schaut euch das Ranking, das ihr danach ja bekommt, an, und achtet darauf, dass die Schulen sich in einer Vergleichbarkeit mit anderen Schulen befinden. Ich kann nicht eine Osterholzer Schule mit einer Schwachhauser Schule vergleichen, aber untereinander gibt es sehr wohl vergleichbare Schulen! Da würde ich sehr gern dann die Schulen, die nicht die Ergebnisse erhalten wie die vergleichbaren Schulen, motivieren, sich mit neuen Methoden auseinander zu setzen oder erst einmal zu analysieren: Wie kommt das denn? War da Unterrichtsausfall? Hat da eine Lehrerin nicht das erreicht, was sie sich vorgenommen hat? Hat sie Disziplinarprobleme?

Diese Vergleichsarbeiten, meine Damen und Herren, sind eindeutig eine richtige Maßnahme, Herr Mützelburg. Wir haben nicht gewartet, sondern sie

haben alle im Mai 2002 stattgefunden und werden in diesen Wochen auch bearbeitet und analysiert. Eine richtige und konsequente Antwort auf die PisaE-Untersuchung!