Protokoll der Sitzung vom 23.04.2015

sagen, es ist gut, dass der Senat seit zwei Wahlperio den seine europapolitischen Aufgaben und Leitlinien formuliert und dann auch die Umsetzung überprüft. Wir haben in der vergangenen Woche im zuständigen Ausschuss auch eine Bilanz gezogen, und im Ergebnis regen wir an, auch in der kommenden Wahlperiode einen solchen Ausschuss wieder einzusetzen und dabei auch die Regeln der Information durch den Senat und der Zusammenarbeit weiterzuführen, die sich nach unserer einstimmigen Auffassung im Ausschuss sehr bewährt haben.

An der Stelle darf ich vielleicht einen Einschub

machen und sagen, dass ich mich – und ich glaube, da darf ich vielleicht für alle sprechen – einmal ganz herzlich bei der Verwaltung hier im Haus, aber auch außerhalb, sowohl in Bremen, aber auch in Berlin und Brüssel, für die Arbeit bedanken möchte, die die Mitarbeiter gemeinsam mit uns machen. Manchmal ist es ein bisschen die Gegenseite, man reibt sich aneinander, aber wir wissen doch selbst, ohne die gute Arbeit der Verwaltung wären wir hier gar nichts, und deswegen ganz herzlichen Dank!

(Beifall)

Ich möchte beginnen mit einem Aspekt bremischer

Europapolitik, die im Bericht nicht so sehr vorkommt, die Frau Hiller aber angesprochen hat, nämlich dem Ausschuss der Regionen. Sie wissen ja, dass ich dort aktiv für Bremen mitwirken durfte, und ich möchte Ihnen sagen, mich hat diese Erfahrung sehr beein druckt. Man sitzt dort im Ausschuss der Regionen neben anderen Ländervertretern aus Österreich und Deutschland, neben Provinzgouverneuren und regi onalen Abgeordneten, vor allen Dingen aber auch neben Bürgermeistern kleiner und großer Städte.

Ich möchte Ihnen sagen, das sind keine Euromanti

ker, wie Sie es vielleicht von mir annehmen, den Ruf habe ich ja. Es sind Frauen und Männer, die in ihren Städten die europäischen Gesetze umsetzen müssen,

oft unter sehr schwierigen Bedingungen, und wenn sie dann dort sind, vermutlich auch keine besseren Menschen sind als Sie und ich, aber ich muss Ihnen sagen, Sie müssten einmal die Atmosphäre in diesem Ausschuss miterleben des gegenseitigen Respekts, der Achtung der Vielfalt nationaler, harter Interessen, Sprachen und Kulturen, und gleichzeitig des Willens zur Einigung! Das müssen Sie einmal erleben, dann haben Sie einen Eindruck von europäischem Geist und europäischer Arbeit, und das ist eine sehr positive und prägende Erfahrung.

Die Mitglieder dieser Versammlung wissen näm

lich aus ihrer Aufgabe vor Ort und aus der Arbeit in Brüssel, dass das gemeinsame Recht und die geregelte Zusammenarbeit in den Institutionen und das Vertrauen, das durch diese Arbeit entsteht, auch heute nicht selbstverständlich sind, sondern für sich ein unglaublich kostbarer Schatz, den wir hüten müs sen, und zwar durch tägliche Erneuerung, dadurch, dass wir uns an dieser Arbeit nach unseren Kräften beteiligen. Das sollte meiner Ansicht nach die Bot schaft dieser Debatte heute sein: Wir sind Europa, meine Damen und Herren, und nicht irgendjemand anders irgendwo anders.

(Beifall)

Für mich gibt es zwei grundlegende Lehren der

europäischen Integration, die heute vor 70 Jahren mit dem Sturz des Naziregimes begonnen hat und die bei allen Krisen und bei allen Schwierigkeiten weiterhin gültig und für mich von niemandem widerlegt sind.

Erstens: Staaten und Völker müssen ihre Grenzen

respektieren. Das ist leider immer noch nicht oder wieder in Europa nicht selbstverständlich, wie wir gerade in der Ukraine sehen mussten. Sie müssen gleichzeitig so zusammenarbeiten, als gäbe es diese Grenzen für die Menschen nicht, das ist das Geheim nis beider Seiten europäischer Politik. Diese Lehre müssen wir weiter beherzigen.

Zweitens: Kein Staat in Europa kann heute in der

globalisierten Welt seine Handlungsfähigkeit und damit seine Souveränität noch allein erhalten, auch das große Deutschland nicht. Wir müssen unsere Souveränität nicht abgeben, wir müssen sie nicht weggeben, so ist es nicht, sondern wir müssen sie aus freiem Entschluss teilen und zusammenführen, um sie gemeinsam bewahren und ausüben zu können. Das ist für mich die zweite Lehre.

Ich finde, dass für diese beiden Lehren aus den

Katastrophen des 20. Jahrhunderts das Modell der Europäischen Union sehr erfolgreich ist – sicherlich sehr unvollkommen, die konkrete Politik der EU ist so fehlerhaft und umstritten wie jede andere Politik, aber ich kenne keine besseren Ideen. Wenn wir zum Beispiel an das Flüchtlingsdrama denken, über das wir gestern diskutiert haben, ist für mich mehr, allerdings besseres Europa die Lösung, und nicht weniger Europa.

(Beifall)

Ich bin weiterhin überzeugt, dass Frieden – das

war eine Zeitlang schon einmal abgeschrieben, ja, Frieden, das ist für die Großväter und sonst jemanden wichtig –, immer noch Frieden, aber auch Wohlstand und Freiheit und Solidarität, heute mehr denn je Solidarität, und internationale Handlungsfähigkeit die mächtigen Triebkräfte und Ergebnisse der euro päischen Einigung sind. Ich wünsche mir, dass die Arbeit an dieser europäischen Einigung weiterhin in dieser Bürgerschaft zu Hause sein wird. Wir schreiben in unserer Landesverfassung: Die Freie Hansestadt Bremen ist ein „Glied der deutschen Republik und Europas“. Danach sollten wir auch handeln.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ebenso wie die Einheit

Europas muss auch die Demokratie täglich von uns erneuert werden, denn beide begründen sich aus sich selbst und müssen von sich aus überzeugen. Sie haben keine höhere Weihe, sondern sie selbst sind es, die die Menschen immer wieder neu überzeugen müssen, deswegen möchte ich noch einige Sätze über das Herzstück parlamentarischer Demokra tie sagen, nämlich über uns, über die Stellung der Abgeordneten, allerdings will ich nicht über Diäten oder über Stühle reden.

Wenn ich nach 20 Jahren Lehrjahren jetzt ein Fazit

ziehen darf: Wir, dieses Haus insgesamt, aber auch jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete für sich, müssen alles daran setzen, unsere Unabhängigkeit zu schützen und zu bewahren. Wir sind nämlich nach unserer Verfassung beauftragt, wir haben das Mandat auf Zeit von Wählerinnen und Wählern, vier Jahre lang Politik zu gestalten, zwar auf der Grundlage eines Programms, mit dem wir angetreten sind, ja, aber wir haben nicht den Auftrag, die Interessen und den Willen dieses oder jenen Wählers umzusetzen. Im Übrigen kennen wir sie auch gar nicht, Gott sei Dank, wir haben geheime Wahl. Wer immer sich beruft auf die Interessen desjenigen, der ihn gewählt haben soll, dann ist das schon verkehrt.

In Artikel 83 unserer Landesverfassung steht:

„Die Mitglieder der Bürgerschaft sind Vertreter der ganzen bremischen Bevölkerung.“ Weiter heißt es dort: Sie sind „nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.“ Ich weiß sehr wohl, dass es eine große Spannung gibt zwischen der Realität und dem Auftrag unserer Verfassung, das ist mir bekannt, aber trotzdem ist sie ein Kernstück unserer parlamentarischen repräsen tativen Demokratie, und wir müssen alles dafür tun, dass wir dem wenigstens nahekommen.

Die Unabhängigkeit von Abgeordneten ist immer

schon bedroht gewesen durch den Einfluss mächtiger Lobbygruppen, auch, wenn ich das einmal sagen darf, mit Verlaub, durch demonstrierende Polizisten, die

uns zwingen wollten, durch die Garage ins Haus zu kommen, durch rigiden Fraktionsdruck – den soll es ja auch einmal gegeben haben – und durch zu großen Respekt vor der Verwaltung, durch die Angst um die Wiederwahl, und manchmal auch und oft genug, fürchte ich, einfach durch unsere eigene Faulheit.

Heute sind neue Formen massiver Einflussnahme

hinzugekommen, zum Beispiel durch Shitstorms im Netz – das kann ziemlich unangenehm sein, wenn man sich dagegen nicht zu wappnen weiß –, den verführerischen Glanz von „Gefällt-mir“-Buttons, robuste Gruppen mit Einzelinteressen, die die wun derbaren neuen Formen von Bürgerbeteiligung so missverstehen, dass ihr Wille, ihr Einzelwille, weil sie ja Bürger sind, – wie sie sagen, deswegen automatisch auch Gesetz werden muss, bis zu dem anmaßenden und antidemokratischen Ruf „Wir sind das Volk“. Das war einmal vor 25 Jahren ein zündender Ruf zum Sturz einer Demokratie.

(Abg. D r. G ü l d n e r [Bündnis 90/Die Grünen]: Diktatur!)

Vielen Dank! Sie hören tatsächlich einmal zu, ich bin schwer begeistert!

(Heiterkeit)

Ja, der Ruf einer demokratischen Bewegung zum

Sturz einer Diktatur. Heute ist er anmaßend und ausgrenzend, denn jede Gruppe, die auftritt, kann immer nur sagen, dass sie „auch“ das Volk ist, es ist ihr gutes Recht, darauf hinzuweisen, aber niemand ist „das“ Volk.

Die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, sich

zu Wort zu melden, teilzunehmen am Austausch der Argumente, sind gerade sehr erfreulich gewachsen durch neue Medien, aber auch durch unsere Bereit schaft, neue, spontane und auch regelhafte Formen des Dialogs einzuführen, auch zwischen den Wahlen. Ich selbst habe 20 Jahre lang – ich glaube, in dem Fall tatsächlich mit einigem Erfolg – daran gearbeitet, die Möglichkeiten direkter Demokratie, die unsere Verfassung seit 1947 vorsieht, auch anwendbar zu machen. Das aber ist nur eine punktuelle Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Ich jedenfalls wollte sie nie schmälern, für mich war es immer nur eine Ergänzung.

Alle neuen und alten Formen der Beteiligung, der

Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern müssen wir ausbauen und nutzen, aber wir dürfen das, was wir hören, nie mit „dem“ Volkswillen verwechseln. Das eigene politische Urteil über den Nutzen für das Gemeinwesen – das ist unser Auftrag! – kann und darf durch nichts ersetzt werden. Wenn ich das einmal zugespitzt ausdrücken darf: Wir dürfen den Vorwurf der Abgehobenheit dieses Hauses nicht fürchten, denn richtig verstanden ist das nur eine andere Seite unserer Unabhängigkeit, die ohne Distanz nicht

möglich ist. Ich glaube, dass diese Unabhängigkeit die Abgeordneten gerade der nächsten Bürgerschaft vielleicht besonders brauchen werden.

Zu guter Letzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen:

Bevor ich mich wirklich auf das Sofa zurückziehe, möchte ich Ihnen gestehen, dass ich sehr gern Ab geordneter in diesem Hohen Haus gewesen bin. Dafür möchte ich mich bei Ihnen bedanken, denn Sie haben mir das möglich gemacht, die eine mehr – zum Beispiel die Zwischenruferin –, der andere weniger, aber am Ende fast alle gemeinsam. Las sen Sie sich bloß nicht einreden, dass wir hier nur vorgefasste Meinungen austauschen würden! Nein, dieses Parlament kann sehr wohl wirken zwischen uns, untereinander, und auch nach draußen. Man lernt viel voneinander, jedenfalls wenn man hier im Haus nicht nur noch surft, postet oder twittert. Ich jedenfalls habe viel von Ihnen gelernt.

(Anhaltender Beifall)

Es gibt mir zu denken, dass ich in der ganzen

Zeit nie so deutlich geworden bin in meiner Aus drucksweise, dass es einmal zu einem Ordnungsruf des Präsidenten gereicht hätte. Vielleicht ist er aber einfach nur ein bisschen zu nachsichtig, das ist auch möglich. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie mit meinen Zwischenrufen einmal abgelenkt haben sollte, bisweilen war das allerdings auch die Absicht.

(Heiterkeit)