Protokoll der Sitzung vom 29.03.2007

Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass es hier im Hause – auch von meiner Seite – eine relativ weitgehende Übereinstimmung darüber gibt, die U1- bis U9-Gesundheitsuntersuchungen von Kindern verpflichtender zu gestalten, als es bisher der Fall ist. Aber meiner Meinung nach reicht das nicht aus. Wir fordern eine Kindergarteneingangsuntersuchung, und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem diese U-Untersuchungen nicht stattfinden, nämlich im dritten Lebensjahr.

Es ist doch absurd, dass bei uns Kinder in den Kindergarten kommen und dass gerade vor dem Zeitpunkt, zu dem diese Entscheidung fällt, nicht der Entwicklungsstand untersucht wird und keine Beratung der Eltern stattfindet. Wir halten es für unbedingt notwendig, eine solche Kindergarteneingangsuntersuchung einzuführen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sind alles Angebote – das möchte ich ausdrücklich betonen –, die sich an alle Familien richten. Das sind Angebote, die allen Familien in allen Situationen, in allen wirtschaftlich guten und schlechten Lebenslagen zur Seite stehen sollen.

Wir wollen aber auch, dass ein präventives verlässliches Hilfs- und Unterstützungssystem für Familien in besonderen Lebenslagen aufgebaut wird.

Wir halten so etwas für notwendig. Manchmal zeichnen sich Krisen ab. Daneben gibt es auch Familien, von denen wir wissen, dass es den Eltern besonders schwerfällt, ihrer Rolle gerecht zu werden. Hier halten wir es für notwendig, dass vor Ort die Jugendhilfe in besserer Abstimmung mit den anderen Einrichtungen zusammenwirkt, um diesen Eltern zu helfen.

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ich komme zum Schluss meiner Rede. – Weiterhin halten wir es für notwendig, dass alle Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben, besser geschult werden. Hier bestehen erhebliche Defizite bei Ärzten, aber auch bei Mitarbeitern der Jugendhilfe. Das gilt auch für Mitarbeiter der Krankenhäuser.

Außerdem halten wir eine Öffentlichkeitskampagne für sinnvoll,die die Bevölkerung darüber aufklärt,dass es solche Angebote gibt. Wir möchten ein Landesprogramm, das allseits bekannt und von allen Familien akzeptiert wird. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion erhält Frau Eckhardt das Wort.

(Claudia Ravensburg (CDU): Die CDU-Fraktion hat zu diesem Thema einen Dringlichen Antrag vorgelegt!)

Ach so, Entschuldigung. Ich habe gerade eben den Vorsitz übernommen und das anders gesehen. – Frau Ravensburg, Entschuldigung, selbstverständlich erteile ich Ihnen gerne das Wort.

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit geben,unseren Dringlichen Antrag zu begründen.

Vergangene Woche hätte ich Ihnen noch gesagt, dass Kindesvernachlässigung in erster Linie ein Problem in größeren Städten ist, weil dort die soziale Kontrolle fehlt. Der Tod der kleinen Jacqueline aus meiner Heimat – sie lebte in einem Ort mit 1.300 Einwohnern – hat mich diese Woche eines Besseren belehrt. Offenbar unbeobachtet von der Gemeinschaft musste ein 14 Monate altes Kind verhungern. Niemand hat etwas bemerkt. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Denn auch das Jugendamt des Landkreises hatte keinerlei Hinweise. Die Nachbarn hegten keinen Verdacht. Die Familie hatte zwar im Ort wenige Kontakte, aber der Vater ging einer geregelten Arbeit nach.

Ich sehe da nur einen Weg. Ich glaube, ein Kinderarzt, der das Kind rechtzeitig gesehen hätte, hätte die Unterernährung sofort erkennen können.

Ich bin deshalb davon überzeugt, dass wir den Weg, zu einer verbindlichen Vorsorgeuntersuchung zu kommen, unbedingt weiter beschreiten müssen. Die Bundesratsinitiative von Hessen und dem Saarland ist richtig. Ich bin davon überzeugt, dass wir eine bundesweite Regelung brauchen.

Der Ort Bromskirchen ist der Landesgrenze zu Nordrhein-Westfalen sehr nah. Es wäre für die Eltern ein Leichtes, einfach einen Ort weiterzuziehen und die Kinder der Familie dadurch der Kontrolle zu entziehen.

Trotzdem können wir in Hessen nicht mehr länger warten. Es war der richtige Schritt, Haushaltsmittel einzustellen, um mit dem Screeninginstitut der Universität Gießen ein hessisches Verfahren für die Einladung zu den Vorsorgeuntersuchungen aufzubauen. Hier geht es nicht um Strichcodes. Hier geht es um ein verbindliches Verfahren zur Einladung, nicht etwa, um die Eltern unter einen Generalverdacht zu stellen, sondern um die Kinder zu schützen, die unsere Hilfe unbedingt benötigen.Außerdem soll auch den Eltern Hilfestellung gegeben werden. Das Wohl der Kinder muss über allem stehen.

Die größte Gefahr bei der Kindesvernachlässigung besteht in den ersten drei Lebensjahren. In diesem Alter kann Nahrungs- oder Flüssigkeitsmangel ebenso wie Gewalt gegenüber den Kindern sehr schnell lebensgefährlich

werden. Deswegen macht mir die Lücke in den Untersuchungsintervallen, die es beim Alter von drei Jahren gibt, große Sorgen. Bisher hat nur eine Krankenkasse gehandelt. Sie hat eine neue Untersuchung „U3a“ eingeführt. Das Wohl des Kindes darf aber nicht von der Wahl der Krankenkasse abhängen. Es wäre richtig, wenn alle Kassen nachziehen würden.

Wir müssen dafür sorgen, dass gerade in den ersten Lebensjahren die Untersuchungsintervalle so kurz sind, dass die Kindesvernachlässigung noch rechtzeitig erkannt werden kann. Die Vorsorgeuntersuchungen können allerdings nicht die einzige Maßnahme sein. Da stimmen wir mit den GRÜNEN überein. Aber sie würden es dem Jugendamt ermöglichen, zunächst einmal diejenigen Familien herauszufinden, bei denen die Kinder aus den verschiedensten Gründen zur Untersuchung nicht vorgestellt wurden.

Wir müssen die Jugendämter einschalten. Als Gemeinschaft können wir unsere Augen nicht davor verschließen, dass es Eltern gibt, die z. B. wegen Drogenkonsums oder aus anderen Gründen mit der Betreuung ihrer Kinder überfordert sind. Wegsehen ist das Allerschlechteste, was wir tun können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der Abg. Hannelore Eckhardt (SPD))

Wir müssen dringend helfend eingreifen.Einen guten Ansatz bieten die Hebammennetzwerke. Deshalb wollen wir sie in Hessen ausweiten.

Bereits während der Schwangerschaft bauen die Hebammen ein Vertrauensverhältnis zu den werdenden Müttern auf.Hebammen können den Frauen und der gesamten Familie frühzeitig ihre Hilfe anbieten, damit sie dem neuen Leben mit dem Kind gewachsen sind.

Die Anhörung, die wir hier im Landtag durchgeführt haben, hat gezeigt, dass wir darüber hinaus alle Beteiligten sensibilisieren und über ihre Rechte und Pflichten aufklären müssen. Bei Ärzten, Erziehern und Lehrern besteht immer noch Unsicherheit darüber, was sie tun müssen und was sie tun können, wenn sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Das Projekt „Faustlos“ setzt genau hier an. Es will die Kinder stark machen.

Das Wohl des Kindes und seine Gesundheit müssen über allem stehen, auch über dem Datenschutz. Fortbildungsveranstaltungen für alle beteiligten Gruppen, also für die Mitarbeiter des Jugendamts, der Justiz und der Polizei, sind erforderlich. Das machen wir schon seit zwei Jahren. Das ist der richtige Weg.

Kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Frau Präsidentin, ich möchte nur noch einige wenige Sätze sagen. – Einen hundertprozentigen Schutz können aber auch sie nicht leisten.Deshalb haben wir alle die Verantwortung. Es ist gut, dass die Bevölkerung sensibilisiert ist und Verdachtsfälle meldet. Wegsehen ist der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Heinrich Heidel (FDP))

Als nächste Rednerin spricht für die SPD-Fraktion Frau Eckhardt.

Frau Präsidentin,meine Damen und Herren! Mittlerweile ist es doch recht spät geworden. Ich meine damit aber nicht Tag und Stunde. Vielmehr meine ich, dass viel Zeit seit der ersten Debatte vergangen ist, die wir in diesem Haus zum Thema Kindesvernachlässigung und -misshandlung geführt haben. Es ist nämlich über ein Jahr vergangen.

Das ist ein Jahr, in dem nicht sehr viel Hilfreiches für all die Kinder geschehen ist, die täglich dem Martyrium der Vernachlässigung und Misshandlung ausgesetzt sind. Da bin ich einer etwas anderen Meinung als Frau Kollegin Ravensburg.

Die Zeit arbeitet gegen die betroffenen Kinder und auch gegen die Eltern, die dringend Hilfe und Unterstützung brauchen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn sie sind, aus welchen Gründen auch immer, leider mit ihren kleinen Kindern völlig überfordert.

Frau Ministerin, wir erkennen durchaus an, dass Sie mithilfe der verpflichtenden Vorsorgeuntersuchung noch mehr Kinder erreichen wollen. Wir erkennen auch an, dass die Vorsorgeuntersuchungen wichtig sind, um Fehlentwicklungen, Missbildungen, chronische Krankheiten usw. sehr viel früher zu erkennen. Dann kann man auch eingreifen und das behandeln. Das ist wichtig und richtig.

Aber das reicht nicht aus,um die betroffenen Kinder,über die wir heute sprechen, tatsächlich alle zu erreichen und sie wirksam zu schützen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Kinder- und Jugendärzte sind längst auf Distanz gegangen. Sie warnen vor einer trügerischen Sicherheit und wehren sich dagegen, die gesamte Verantwortung übernehmen zu müssen. Leider sind sie auch fachlich im Moment noch nicht dazu in der Lage.

Frau Ministerin, auch ein noch so ausgeklügeltes, landauf und landab funktionierendes Einladungs- und Kontrollsystem wird nicht verhindern, dass einige Wochen verstreichen können, in denen im Ernstfall für ein Kind nichts geschieht, das sich in einer riskanten Situation befindet. Frau Ministerin, bitte realisieren Sie auch: Es gibt Familien, in denen Briefe gar nicht erst geöffnet werden, auch solche nicht, in denen eine Einladung zu einer Vorsorgeuntersuchung steckt.

Vielmehr brauchen wir dichtere Intervalle bei den Vorsorgeuntersuchungen. Ein Säugling ist beispielsweise in sehr viel höherem Maße gefährdet als ein größeres Kind.

Es wird immer vom Verhungern gesprochen.

(Zuruf)

Ja eben, sie gehen nicht hin. Frau Ministerin, genau das ist der Punkt. Darauf werde ich gleich zu sprechen kommen. – Wissen Sie, wie schnell ein Säugling verdurstet? Das geschieht innerhalb von zwei oder drei Tagen.

Die Zeitspannen, die zwischen den Untersuchungen von U2 bis U5 liegen, sind wirklich groß. Im Ernstfall hat ein kleines Kind da überhaupt keine Chance.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten die Last nicht alleine den Ärzten aufbürden. Vielmehr brauchen wir ein ganzes Maßnahmenbündel im Rahmen nachhaltig wirkender Präventionsprogramme.

(Beifall der Abg. Sabine Waschke (SPD))

Wir brauchen niedrigschwellige Hilfen und eine bessere Vernetzung aller beteiligten Akteure. Da sind wir alle einer Meinung.