Protokoll der Sitzung vom 15.10.2003

Meine Damen und Herren, ich fürchte, genau dies ist die zynische Absicht. Sie wollen offenbar zeigen, dass eine

Gesellschaft ohne das Soziale auskommen kann. Den Preis dafür zahlen andere.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Aber am Ende zahlen auch Sie den Preis dafür.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Glauben Sie das, was Sie da erzählen?)

Herr Irmer, brüllen Sie doch nicht so. – Können Sie den Herrn Irmer einmal ein bisschen leiser stellen?

Frau Kollegin, bei 15 Minuten muss ich ein bisschen abwarten, bis ich dämpfe. Aber ich bitte schon, darauf zu achten, dass hier vorne jemand spricht. – Herr Kollege, hier vorne spricht jemand und hat das Wort ganz alleine.

(Volker Hoff (CDU): Das ist vergnügungsteuerpflichtig! – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Schmerzensgeld!)

Ja, ich verstehe, dass es wehtut, das soll es auch. – Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an vier Punkten klarmachen, was gerade in Hessen passiert.

Erstens hat sich das Land als verlässlicher Partner für alle Träger der sozialen Wohlfahrtspflege verabschiedet. Wer im Internet nachlesen muss, dass zwei Drittel des Landeszuschusses gestrichen werden – wohlgemerkt für Kernaufgaben,

(Zuruf des Abg.Volker Hoff (CDU))

die der Staat im Sinne der Subsidiarität übertragen hat –, und dies ohne Vorankündigung, ohne mit den Trägern zuvor zu reden, ohne Beratung, wie man möglicherweise einen stufenweisen Ausstieg gestalten könnte oder sozialverträglich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen könnte, der wird sich nie mehr auf diese Landesregierung verlassen. Schon morgen könnte er im Regen stehen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Beispiel nenne ich hier den Flughafensozialdienst. Der Vertrag mit den Kirchen besteht seit 25 Jahren und wurde über Nacht gekündigt. Das ist ein unglaublicher Vorgang, den es in Hessen zuvor nie gegeben hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Die Regierung zeigt erneut ihr wahres Gesicht: wohlfeile Reden zum Thema Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement, wohlfeile Reden zum Thema Integration. Nach der schmierigen „Ausländer-raus“-Kampagne 1999 wurde das Thema Integration zu einem wichtigen Themenfeld – angeblich.

(Zuruf des Abg. Boris Rhein (CDU))

Dies sind alles Lippenbekenntnisse. Der Landesausländerbeirat wurde geschleift, ein Landesintegrationsbeirat, natürlich ergänzt durch die Vertriebenenverbände, wurde gegründet. Herausgekommen ist nichts oder nicht sehr viel. Aber dafür werden jetzt sämtliche Sozialberatungsstellen für Migrantinnen und Migranten in Hessen platt gemacht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das war das Geschenk der Landesregierung zum 20-jährigen Jubiläum der AGAH.

Das Gleiche gilt für das, ach, so hoch gelobte, Ehrenamt. Da wird in meiner Heimatstadt Friedrichsdorf von einem Staatssekretär der Landesregierung – der sich gerade mit seinem Chef unterhält – der Ehrenamtspreis vergeben, weil es dort eine ehrenamtliche Hospizgruppe und ein Mütterzentrum gibt, das ausgesprochen gute Arbeit leistet.Der Staatssekretär lobt diese Initiativen,er lobt vor allem die Landesregierung, die diese Zuschüsse in schwierigen Zeiten vergeben hat.

Meine Damen und Herren, es sind gerade einmal 3.000 c, die das Mütterzentrum im Jahr bekommt. Schon die Hochglanzbroschüre der Landesregierung zum Ehrenamt kostet erheblich mehr. Diese Hospizgruppe, von der ich sprach,erhält überhaupt keine Landesförderung,aber der Landesarbeitsgemeinschaft, der Koordinierungsstelle, wurden gerade 10 % der Mittel gekürzt. – So viel zum Thema Ehrenamt. Da ist PR-Show, da ist der schöne Schein gefragt, aber nicht die Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das Gleiche gilt bei allen kleinen Trägervereinen in der sozialpolitischen Landschaft: Ehrenamtliches Engagement, das z. B. zur Gründung eines Frauenhauses oder einer Beratungsstelle geführt hat, wird mit der Giftliste beantwortet, aus der die eigene Kündigung hervorgeht,

(Zuruf des Abg. Boris Rhein (CDU))

aus der hervorgeht,dass ab Januar sämtliche notwendigen Hilfen für Klientinnen und Klienten eingestellt werden müssen, dass die Mitarbeiterinnen entlassen werden müssen, da sonst das eigene ehrenamtliche Engagement mit persönlicher Haftung und Verschuldung bedroht wird. – Meine Damen und Herren, was Sie hier machen, ist ein absoluter Skandal.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Walter Lübcke (CDU))

Drittens. Sie zeigen erneut Ihr wahres Gesicht, wenn es um Menschen in Notlagen geht. Bei der unsäglichen Wisconsin-Debatte haben Sie immer behauptet, Sie wollten ganzheitlich helfen.

(Zuruf des Abg.Volker Hoff (CDU))

Sie haben Sonntagsreden gehalten, was denn alles in diesen Job-Offensiv-Centern angeboten werden soll. Ihre Giftliste zeigt jetzt das wahre Gesicht: keine Spur mehr von Hilfen für Menschen in Notlagen. Weder Jugendnoch Drogenberatung,

(Gerhard Bökel (SPD):So ist es,es ist unglaublich!)

noch Erziehungsberatung, weder Frauenprojekte noch Hilfen für den beruflichen Wiedereinstieg sind der Landesregierung auch noch einen Cent wert.Alle Projekte in sozialen Brennpunkten sind auf null gestellt. Damit verweigern Sie die Hilfe genau dort, wo sie besonders notwendig ist,

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

dort, wo sie zur Integration in die Gesellschaft beiträgt.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Ja, von Integration verstehen Sie nichts, Herr Irmer.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist richtig!)

Spiel- und Lernstuben sind kein Luxus, den man gerade einmal kaltschnäuzig über die Wupper gehen lassen kann.

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU) – Tarek AlWazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mein Gott, Herr Reif ist auch wieder da!)

Sie sind eine Chance für eine bessere Zukunft für die Kinder und allemal notwendiger als ein Elitegymnasium für schwerstbegabte Kinder in einem Schloss im Rheingau.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Titel Ihrer „Operation sichere Zukunft“ klingt wie Hohn in den Ohren der Betroffenen,

(Zurufe von der CDU)

die ihre Stelle verlieren, weil die Einrichtung dichtgemacht wird.Hohn in den Ohren der Beraterinnen und Berater, die keine Möglichkeit mehr sehen, ihre Klienten weiterzuvermitteln. Suchthilfe, Wohnhilfe, Erziehungshilfe usw. sind betroffen. Wohin sollen sich die Menschen wenden, wenn die Mittel für Beratungs- und Anlaufstellen gestrichen sind?

Meine Damen und Herren, Sie sorgen für das Aus von acht Frauenhäusern in Hessen. Das sind Anlaufstellen für Frauen und Kinder in allergrößter Not in diesem Land.

(Zuruf des Abg. Dr.Walter Lübcke (CDU))

Sie streichen alle Orientierungskurse für Frauen nach der Familienphase, die wieder in den Beruf einsteigen wollen und damit in die finanzielle Selbstständigkeit kommen wollen.

(Zuruf des Abg. Dr.Walter Lübcke (CDU))

Lassen Sie das Geschwätz vom Familienland Hessen. Ich kann es nicht mehr hören.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie meinen damit offenbar ausschließlich Besserverdienende, oder Heile-Welt-Familien.Auch Alleinerziehende, auch geprügelte Frauen und Kinder sind in diesem Land Familien und brauchen die Unterstützung des Landes.