Meine Damen und Herren, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass jetzt im Foyer die Ausstellung der Lebenshilfe eröffnet wird. Ich bitte Sie, daran teilzunehmen.
Wir beginnen wieder um 15 Uhr mit den beiden Anträgen zur Arbeitsmarktpolitik, den Tagesordnungspunkten 32 und 50. Guten Appetit.
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU betreffend Handlungsnotwendigkeit der Bundesregierung zur Verbesserung der katastrophalen Situation auf dem Arbeitsmarkt – Drucks. 16/2070 –
Antrag der Fraktion der SPD betreffend Erfahrungen aus Dänemark und Niederlande aufnehmen – Kurswechsel in der hessischen Arbeitsmarktpolitik einleiten – Fördern und Fordern in Verantwortung für die Menschen – Drucks. 16/2013 –
Vereinbart sind 15 Minuten Redezeit – Auf der Tribüne begrüße ich unseren ehemaligen Kollegen Aloys Zumbrägel. Herzlich willkommen, lieber Aloys.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute völlig zu Recht, wie fast in jeder Plenarsitzung, das Thema Arbeitsmarkt.Wir diskutieren dies ausgerechnet heute zu Recht, weil wir uns jüngst mit einer großen Reisegruppe unter Beteiligung der Wirtschaft und der Tarifpartner an anderer Stelle umsehen und feststellen konnten, dass Deutschland im Vergleich zu anderen weit hinterher hinkt. Die Kollegin Schönhut-Keil und andere Kollegen, die dabei gewesen sind, wollen heute über ihre Reise Berichte abliefern, weil wir davon ausgehen, dass alle interessiert, was wir in Dänemark und Holland gesehen haben.Aber wenn man über Arbeitsmarkt diskutiert, muss man zunächst feststellen, dass die Arbeitsmarktpolitik von Rot-Grün endgültig gescheitert ist.
Von den hehren Ankündigungen Ende der Neunzigerjahre – man muss hin und wieder an das Versprechen des
Bundeskanzlers erinnern, die Arbeitslosigkeit halbieren zu wollen – ist nicht nur nichts übrig geblieben, sondern es ist im Gegenteil sehr viel schlechter, um nicht zu sagen: katastrophaler, geworden. Die jüngsten Zahlen sind alles andere als ein Beleg dafür, dass diese Bundesregierung das Problem der Arbeitslosigkeit jemals wird beseitigen können.
Seit der Diskussion um Hartz und der Vorlage des Berichts im August 2002, also wenige Wochen vor der Bundestagswahl – einige erinnern sich noch an die Inszenierung im Französischen Dom in Berlin –, bis zum heutigen Tage haben die Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland um 730.000 abgenommen, also nicht zugenommen, sondern abgenommen.Wer da noch von erfolgreicher rot-grüner Arbeitsmarktpolitik redet, der muss schon sehr fantasievoll in die Debatte gehen.
Schauen wir uns an, was Hartz I bis IV alles vorhatte. Die Personalserviceagenturen, die man möglicherweise heute schon als totalen Ausfall beschreiben kann, haben gerade einmal 7.700 Vermittlungen bei einem Gesamtaufwand von 230 Millionen c als Ergebnis gebracht. Die Ich-AGs, von denen angeblich bisher 100.000 Arbeitslose profitiert haben, sollten ursprünglich einmal ein Volumen von über 400.000 neuen Beschäftigungsverhältnissen bringen. Ich erinnere an Jobfloater. Ich erinnere an bessere Vermittlung und moderne IT-Systeme und vieles andere mehr, was der Bundeskanzler zur Chefsache erklärt hat. Die Frage ist, was von alldem am Ende, ein Jahr nach der Vorlage des Hartz-Konzeptes, übrig geblieben ist.
Einmal ganz zu schweigen davon, dass die Chefsache Bundesagentur für Arbeit – ein Thema, das uns jüngst sehr bewegt hat – mitten in einer Diskussionsphase steckt, wobei alle Beteiligten immer wieder zugeben, dass sie eigentlich schon lange wissen, wohin es eigentlich gehen soll. Diesen Kurs unterstützen wir, wenn er denn bis zum Ende und konsequent betrieben wird. Wir unterstützen nämlich jeden Kurs, der dahin geht, dass diese Bundesagentur mit ihren 90.000 Beschäftigten endlich dazu kommt, das zu tun, wofür sie eigentlich einmal ins Leben gerufen worden ist, nämlich Menschen, die nicht erwerbstätig sind, in Arbeit zu vermitteln. Alle Kraft, die diesem Ziel dient, wird von uns ausdrücklich und deutlich unterstützt.
Bei aller Debatte um Arbeitsmarktprogramme, bei aller Debatte, was Hartz IV angekündigt und nicht realisiert hat, muss am Ende eine Erkenntnis für uns alle sehr deutlich werden, nämlich die Erkenntnis, dass Arbeitsmarktpolitik immer nur die Folge von Wirtschaftspolitik ist, anders herum: dass Arbeitsmarktpolitik am Ende zwar das eine oder andere reparieren kann, aber Arbeitsplätze erst einmal über eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik geschaffen werden müssen.
Meine Damen und Herren, erfolgreiche Wirtschaftspolitik findet in einem Land nicht statt, in dem wir mehr verhindern, als dass wir fördern, wenn es um neue Technologien geht, wenn es um neue Verkehrsprojekte geht. Ich hatte gestern Abend wieder das Vergnügen, mit Herrn Kaufmann über den Ausbau des Frankfurter Flughafens zu diskutieren, und habe zum wiederholten Mal den Versuch unternommen, Herrn Kaufmann aus seinen Alternativen für wirtschaftliche Prosperität in der Rhein-MainRegion irgendeinen greifbaren und vernünftigen Satz zu entlocken.
(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Jetzt werden Sie nicht unverschämt! Wer keinen vernünftigen Satz gesprochen hat, waren Sie!)
Es ist mir wiederum nicht gelungen, außer dem, dass wir heute Morgen wieder gehört haben, dass Sie alles wieder mit einem Regionalkreis beheben wollen. All das ist nur Makulatur im Vergleich zu dem, was wir eigentlich brauchen, nämlich eine Wirtschaftspolitik, die diesen Namen auch verdient.
Wenn in diesen Tagen Unternehmen, wie beispielsweise die IT-Branche,aber auch viele andere gewerblich-technische Branchen davon sprechen, dass sie den Standort Deutschland verlassen, und dafür von Sozialdemokraten in Berlin als Vaterlandsverräter beschimpft werden, weil sie etwas – wie ich finde – sehr Konsequentes und sehr Logisches formulieren, indem sie nämlich sagen: „Unternehmen, die wir in Deutschland halten wollen, müssen möglicherweise auch konsequent sein und Erträge und Umsätze außerhalb Deutschlands suchen, um den Standort Deutschland nicht endgültig und letztendlich für die Unternehmensteile zu gefährden, die noch in Deutschland sind“, dann finde ich das zunächst einmal rein ökonomisch betrachtet eine sehr richtige Aussage.
Ich werde einen Deibel tun, jemandem, der das so formuliert, Vaterlandsverrat vorzuwerfen. Meine Damen und Herren, er tut genau das Gegenteil. Ein Unternehmenschef wie der von Siemens hat zunächst einmal die Verpflichtung, für sein Unternehmen zu sorgen und die Arbeitsplätze – im Falle Siemens weltweit 400.000 – zu sichern. Die Politik hat dafür zu sorgen – wenn wir das wollen, sind wir dazu in der Lage –, dass möglichst viel von dem, was große, international tätige Konzerne unternehmen, in Deutschland stattfindet.
Wir müssen endlich aufhören, das Wort „Globalisierung“ als Schimpfwort zu benutzen. Nicht zuletzt hat die Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte davon profitiert und tut das bei schwacher Binnenkonjunktur heute noch, dass wir diese starke Globalisierung, dass wir diesen starken Außenhandel haben. Deswegen ist es falsch, die Globalisierung und die damit verbundenen Ungleichgewichte und möglicherweise Verzerrungen in der Wirtschaft auf Arbeitsmärkten immer wieder ins Feld zu führen, wenn es darum geht, den Standort Deutschland und seine Zukunft zu diskutieren. Im Gegenteil, wir sollten und müssen die Chancen, die sich daraus ergeben, konsequent nutzen.
Es ist falsch, wenn es darum geht, beispielsweise über die Frage zu diskutieren: „Sind deutsche Löhne noch wettbewerbsfähig?“, immer gleich mit dem Totschlagargument zu kommen: Wollen Sie etwa polnisches Niveau? – Das wollen und können wir nicht, was Polen und Tschechien und andere für Unternehmen an Löhnen möglich machen. Ich sage noch einmal deutlich: Das wollen wir nicht. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Unternehmen wie beispielsweise – ich nehme einmal ein klassisches deutsches Unternehmen – die Automobilbauwirtschaft, ob das BMW, Opel oder Daimler-Benz sind, die 15, 18, 20 % Personalkostenanteil in ihren Gesamtaufwendungen haben, dann sehr wohl darüber nachdenken müssen, wenn sie andernorts diese Personalkosten um 2, 3, 4 % in absoluten Zahlen nach unten drücken können.
Ihnen geht es nicht darum, in Deutschland polnische Löhne einzuführen. Ihnen geht es nur darum, dass sie in
der Summe aller Standortfaktoren in der Lage sind, ihre Kosten wettbewerbsfähig zu strukturieren. Personalkosten sind ein wichtiger, aber nicht immer der abschließend entscheidende Standortfaktor.
Deswegen sind es oftmals nur die kleinen, aber sehr wichtigen Margen bei den Personalkosten, über die wir zu reden haben,und nicht etwa über eine Drittelung oder Viertelung der Löhne. Häufig sind es nur die Stabilisierung einer bestimmten Lohngröße in den Unternehmen und gleichzeitig die Perspektive für die Zukunft, insbesondere für eine Flexibilisierung der Arbeit, die die Unternehmen veranlassen, auch und gerade ihren Standort in Deutschland zu behalten und möglicherweise auszubauen. Denn all diejenigen, die in Osteuropa tätig sind, führen als ersten Grund nicht die Tatsache des Lohndumpings an, sondern die dort sehr viel flexibleren Arbeitsmärkte.
Kommen wir zu Dänemark und den Niederlanden. Ich glaube, Herr Schäfer-Gümbel – er wird wahrscheinlich für Ihre Fraktion zu dem Thema sprechen –, Frau SchönhutKeil und andere:Wir haben alle eines gemeinsam wahrgenommen. Die Zahlen sprechen für sich. In Dänemark und in Holland sind im Zeitraum von 1993 bis 2003 großartige Erfolge erzielt worden mit – das muss man erwähnen, wenn man schon über Zahlen spricht – gigantischen Rückgängen der Arbeitslosigkeit. Von 1993 bis 2003 haben die Dänen ihre Arbeitslosigkeit von 9,6 % auf 5,6 % heruntergefahren.
Die Holländer haben ihre Arbeitslosigkeit von 6,2 % auf 3,8 % zurückgefahren. Das sind die Erfolge, die sich nicht wegreden lassen. Bei der Beantwortung der Frage, woran das liegt, wird man zu zwei, drei sehr klaren Ergebnissen kommen, nämlich erstens zu der Erkenntnis – ich glaube, auch dort stimmen wir überein –, dass es dort einen breiten Konsens zwischen den Tarifpartnern und vielen gesellschaftlichen Gruppen dahin gehend gibt, dass man erkannt hat, dass der Staat nicht alle Defizite kompensieren kann, die durch Volkswirtschaften mit hohen Standards im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften an Kosten entstehen. Das heißt, man hat sowohl in Dänemark als auch in Holland im Konsens erkannt, dass das wichtigste Instrument moderner Industriearbeitsmarktpolitik die Flexibilität der Arbeitsmärkte ist.
Jetzt sage ich gleich noch dazu, bevor das am Ende falsch ausgelegt wird: Ich möchte keine dänischen Verhältnisse, was den Kündigungsschutz anbelangt. In Dänemark gibt es nämlich faktisch keinen Kündigungsschutz. Dort hat ein Arbeiter in aller Regel einen Kündigungsschutz von einem Tag. Das heißt, er kommt heute zur Arbeit und erfährt heute, dass er morgen seinen Job verloren hat.
Meine Damen und Herren, das ist die eine Seite. Die andere Seite ist – da gebe ich Frau Schönhut-Keil Recht, die mit einer nicht zweifelhaften Handbewegung sehr deutlich macht,was dahinter steckt –,dass die Dänen ein soziales Auffangbecken und ein Sicherungssystem haben, das beachtenswert ist.Aber alle Delegierten der Reisegruppe, inklusive der Gewerkschaftsvertreter,haben die Frage gestellt, wie die Dänen das auf Dauer finanzieren.
Ich will jetzt dazu sagen: Die Volkswirtschaften Dänemarks und Hollands in allen Ehren, sie sind aber sicher
lich nicht nur von der Quantität, sondern auch von den internationalen Beziehungen und von den Außenhandelsbeziehungen her nicht mit der deutschen vergleichbar.
Wir halten aber fest, dass einer sehr hohen Flexibilität des Arbeitsmarktes ein sehr, sehr gutes soziales Netz gegenübersteht. Ich habe es an einem Abend beim Bier einmal so bezeichnet, dass der Manchesterkapitalismus mit Sozialismus gepaart ist.
Ich sage ausdrücklich dazu: Das ist ein dänisches Modell, das wir aus vielen Gründen, auch aus gesellschaftspolitischen Gründen, sicherlich nicht kopieren können; aber wir können davon lernen, was künftig die richtigen Akzente sein müssen.
Meine Damen und Herren, ich bin auch damit einverstanden, wenn Sie feststellen, dass wir die Beschäftigungserfolge in den Niederlanden und in Dänemark einer sehr, sehr hohen Erwerbsquote der Frauen und einem sehr, sehr hohen Anteil der Teilzeitbeschäftigung zu verdanken haben. Ich glaube, wir sollten in Deutschland allesamt erkennen, dass wir da vieles nachzuholen haben.
Da haben wir viele spannende Aufgaben im Diskurs mit der Wirtschaft. Am Ende gilt auch dort, dass die Wirtschaft die Arbeitsplätze zunächst anbieten muss. Ich bin an der Stelle allerdings zuversichtlich, schon deswegen, weil die Arbeitskraft insbesondere von Frauen zukünftig sehr viel mehr nachgefragt werden wird. Das zeigt die Entwicklung der Demographie in unserem Land.
Halten wir also fest:Was wir von den Dänen und Holländern lernen können, ist Flexibilität. Jeder dritte Däne verliert im Verlauf eines Jahres seinen Arbeitsplatz. Es sind noch nicht einmal diejenigen mitgezählt, die möglicherweise mehrfach ihren Arbeitsplatz verlieren. Es wird nur berücksichtigt, wer am 31.12. einen anderen Arbeitsplatz hat als am 01.01.eines Jahres.30 % der Dänen wechseln in einem Jahr ihren Arbeitsplatz. Aufgrund dieser hohen Fluktuation haben sie natürlich auch sehr viel höhere Potenziale in Richtung neuer Jobs. Das ist eine Feststellung, die man dort im Gespräch mit Betroffenen immer wieder hört.
Meine Damen und Herren, zweiter Punkt. Sowohl Holland als auch Dänemark machen eines sehr deutlich. Die Unterstützung derjenigen, die langzeitarbeitslos sind, die sozial schwach sind, die Defizite mit in den Arbeitsmarkt bringen, welche auch immer das sein mögen, muss dezentral auf kommunaler Ebene stattfinden. Ich glaube, auch das ist ein unstreitiges Ergebnis dieser Reise.Auch da bin ich sehr gespannt, was Herr Schäfer-Gümbel und andere dazu sagen werden. Sowohl Dänemark als auch Holland haben für sich eindeutig erkannt, dass sie das Problem lokal, geographisch gesehen, an der Wurzel packen müssen. Deshalb müssen die Kommunen für Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zuständig sein.
Das ist ein Punkt, den wir in Deutschland ebenfalls diskutieren. Es gibt auf der Tagesordnung dieses Plenums möglicherweise morgen noch einmal Gelegenheit, die Frage zu erörtern, was gerade in Deutschland passiert. Ich denke,wir werden nachher noch etwas zum aktuellen Ver
handlungsstand in Berlin hören. Es ist von uns nicht zu akzeptieren, dass Sie sich nach wie vor, insbesondere die Sozialdemokraten, weigern, das einzusehen. Sie sind nach wie vor auf der Spur:Wir haben eine Bundesagentur.– Sie haben das Bundesamt in Bundesagentur umbenannt. Wenn Sie sich den Gesetzentwurf zu Hartz III anschauen, dann stellen Sie fest, dass sich von 500 Seiten 300 Seiten mit dieser Umbenennung beschäftigen. Ich glaube, bis heute haben es weder die Mitarbeiter noch die Vorsitzenden und Vorstände der Bundesagentur verstanden, dass sie jetzt nicht nur anders heißen als vorher, sondern auch andere Aufgaben wahrzunehmen haben.