Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Ich glaube, darauf können wir stolz sein. Ich habe aus anderem Anlass hier schon einmal gesagt: Ich denke, das ist eine neue Wertetradition, die auch die junge Generation wünscht.Die jungen Menschen in Hessen und in Deutschland wollen stolz auf das sein,was ihre Großeltern und Eltern nach 1945 geschaffen haben – nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand, sondern auch einen Wertestaat, in dem sich alle wohl fühlen. Die jungen Leute wollen nicht mehr nur an die Diktatur der Nazizeit erinnert werden, sondern stolz auf die Tradition sein, die sich in Deutschland in den letzten 60 Jahren zum Glück gefestigt hat.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die Ostpolitik aller deutschen Regierungen, begonnen im Jahre 1972, hat dazu beigetragen, dass wir sehr wohl auf die Geschichte des Krieges rekurrieren und die Gräuel nicht vergessen werden. Frau Hoffmann, das haben Sie zu Recht gesagt. Versöhnung lässt sich nur erreichen, wenn man die Erinnerung und das Gedenken wach hält. Das heißt, es gibt für die jungen Menschen, die zwei Generationen nach dem Krieg geboren wurde, überhaupt keinen Anlass, von einer „kollektiven Täterschaft“ oder von

„Kollektivschuld“ zu sprechen, sondern sie sprechen von einer kollektiven Verantwortung für das Gedenken und die Erinnerung als Voraussetzung für die Versöhnung der europäischen Staaten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Ich will hinzufügen: Meine Damen und Herren, vielleicht hatten Sie Gelegenheit, in den letzten Tagen eine sehr gute Geschichtssendung von Guido Knopp im ZDF zu sehen, die, wie ich fand, das Thema Vertreibung in einer außerordentlich abgewogenen, aber historisch trotzdem unglaublich bedrückenden Art und Weise aufgearbeitet hat – und zwar für alle Staaten, die infolge der Kriegsgeschehnisse im Zweiten Weltkrieg Vertreibungen angeordnet haben. Das galt für die Deutschen, für die Stalinisten und auch für die Tschechen. Deshalb gehört die Wahrheit an einem solchen Tag der Freude auf den Tisch.

(Beifall bei der FDP)

Wir sollten auch bei einer solchen Debatte im Hessischen Landtag darauf achten, dass wir uns nicht um der kleinkarierten politischen Münze und eines aktuellen Wahlkampfs willen auseinander dividieren lassen. Wenn ich mir die drei Anträge anschaue, muss ich sagen: Sie sind in weiten Teilen völlig identisch. Es ist doch eine unglaublich positive Entwicklung der letzten Jahrzehnte, dass es bei der Einschätzung derartiger Vorgänge zwischen den vier Fraktionen im Deutschen Bundestag und in den Länderparlamenten im Grundsatz keine Unterschiede mehr gibt.

Die Frage – darauf komme ich noch –, wie man die Türkei am Ende behandelt, ist, wenn man sich die reine Antragsund Beschlusslage anschaut, eine Frage der Wertigkeit in bestimmten Einzelpositionen,ob nämlich mittlerweile die Entwicklung in einem solchen Land so weit gediehen ist, dass Verhandlungen aufgenommen werden und z. B. die Bedingungen von Kopenhagen erfüllt werden können. Wenn man will, kann man sagen, die Diskussion geht darum: Ist das Glas halb voll, oder ist es halb leer? – Deshalb will ich davor warnen, dass wir wieder künstliche Gegensätze hochspielen. Das ist die Attitüde, wie das leider die Vertreterin der GRÜNEN gemacht hat.

Meine Damen und Herren, ernsthafte Probleme, die es gibt, müssen auch ernsthaft benannt werden. Ich komme darauf zurück. Natürlich hat die bisherige EU einen großen Friedens- und Stabilitätsfaktor in der Welt gebildet. 52 Jahre lang haben wir hier eine Vereinigung eines halben Kontinents gehabt, die in der Welt von großer Bedeutung war.Die wirtschaftlichen Chancen sind ohne Zweifel vorhanden.

Frau Hoffmann, ich will einmal sagen: Es ist doch nicht so, dass Hessen und auch diese Regierung die Chancen,die in der rein wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegen, nicht erkannt haben. Ein Drittel aller hessischen Unternehmen investiert heute schon in die neuen Mitgliedstaaten. Wir sind unglaublich abhängig vor allem in der Wirtschaft des Rhein-Main-Gebietes, aber auch erheblich mit den kleinen und mittleren Betrieben in der ganzen Fläche in Hessen von den neuen Märkten, die wir durch den Beitritt erreichen. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wenn Kritik an der Landesregierung geübt wird. In dem Fall gibt es eine klare Kontinuität der Regierungen der letzten Jahre.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, in den Zeiten der Teilung sowohl Deutschlands wie auch Europas haben die Bezie

hungen insbesondere der Städte,des Landes und vor allen Dingen der vielen Privaten im kulturellen Bereich immer gehalten. Die Kultur war sozusagen das Ferment der Einheit in den Zeiten der Teilung.

Ich will einmal zwei Bereiche nennen, die ich selbst sehr intensiv mitverfolgt habe. Im Jahre 1980 ist es mir mit einem meiner ersten Beiträge in diesem Haus gelungen, das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt zu verankern und nicht nach Mainz gehen zu lassen.

(Armin Klein (Wiesbaden) (CDU): Besser wäre es in Wiesbaden gewesen!)

Das war die Auseinandersetzung. Das Deutsche Polen-Institut mit Herrn Dedecius,dem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, ist eines der großen kulturellen Markenzeichen Hessens und Deutschlands geworden. Das ist das, was uns weitergeführt hat. Die Darmstädter Sezession, 1908 gegründet und nach dem Krieg neu erstanden, hat mit dem Krakauer Kunstverein seit 1983 gemeinsame vierwöchige Malsessionen in Südfrankreich durchgeführt.

Meine Damen und Herren, was dort an Völkerverständigung erreicht worden ist, war die Voraussetzung für staatliche Einbindung und später die Zusammenarbeit in vielen Bereichen. Jede Stadt, die Verbindung zu Polen, zu Litauen, zu Estland und nach Ungarn eingegangen ist, hat im Grunde für die Friedensarbeit und die europäische Einigung mehr tun können, als das alle Bundesregierungen in diesen Jahren tun konnten.

Deshalb bin ich sehr froh,dass wir das weiterführen.Es ist wichtig, dass z. B. die Partnerstaaten mit dem Kernbereich Wielkopolska, Polen, mit Hessen zusammenarbeiten. Meine Damen und Herren, ich will auch nicht vergessen: Was wir etwas aus dem offiziellen Status der Partnerschaften herausgenommen haben, das sind die drei baltischen Staaten. In der Regierungszeit von Wallmann und Gerhardt haben wir als Land Hessen die Patenschaft für diese drei baltischen Staaten übernommen. Ich war als Fraktionsvorsitzende mit meiner Fraktion und der gesamten LPK im Jahre 1995, unmittelbar nach der Demokratisierung, in Vilnius, als noch die Barrikaden vor dem Parlament standen.

Die Affinität der Litauer zu Deutschland, zur deutschen Sprache, zur deutschen Forschung und zu unserer Kultur ist so groß, dass wir das unbedingt aufgreifen und ähnlich wie bei der Wielkopolska die Patenschaft, die es auch z. B. von Städten nach Tallinn, Estland, gibt, aufnehmen sollten. Herr Riebel, ich wäre sehr dafür, dass wir die baltischen Staaten wieder näher in unser Blickfeld rücken. Das, was wir z. B. mit dem litauischen Gymnasium über viele Jahre getan haben, weist darauf hin, dass wir dort gute Beziehungen haben.

Meine Damen und Herren, Litauen ist ein Beispiel dafür, dass trotz der zwei Katastrophen des Hitler-Stalin-Paktes diese Affinität zur deutschen Kultur nicht zur Entfremdung zu Deutschland geführt hat, sondern gerade zu einem Akt der Versöhnung wurde. Meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen wie die kulturellen Beziehungen sind die große Chance für Hessen als ein Land mitten in Deutschland, das in seiner Wirtschaft auf Export angewiesen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb glaube ich, dass wir als Hessen den Reformprozess gut weitertreiben können. Das gilt sowohl für Bulgarien wie auch für Rumänien.Wir wissen, wie schwierig die

Situation dort ist. Ich hatte Gelegenheit – der Präsident weiß das –, mit Rumänien Kontakte zwischen den Hochschulen zu bilden. Die Marburger Universität hat sich in den letzten zehn Jahren hieran sehr aktiv beteiligt. Wir müssen alles daransetzen – das ist unsere Aufgabe –, dass alle Beitrittskandidaten die Beitrittskriterien auch erfüllen können. Das ist doch die Sorge der CDU in Bezug auf die Türkei. Meine Damen und Herren, ich will das deutlich sagen: Wir müssen daran arbeiten, dass die Beitrittsfrage der Türkei nicht zu einer populistischen Debatte führt.

(Beifall bei der FDP und demonstrativer Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Freunde, das gilt für Sie, die links geklatscht haben, genauso: Die Unterstützung der deutschen Regierung – damals Kohl und Hallstein – ist für den wirtschaftlichen Bereich gesetzt worden. Es sind immer die Bedingungen genannt worden:Einhaltung der Menschenrechte, Unabhängigkeit der Gerichte, die Behandlung von Gefangenen in den Gefängnissen. – Ich will hinzufügen: Auch die FDP hat sich in ihrer Beschlussfassung auf dem letzten Bundesparteitag in dieser Frage sehr schwer getan, weil die einen sagen: Möglicherweise ist das, was an Fortschritten schon erreicht ist, dazu angetan, zu sagen, man kann jetzt schon sagen, dass der Beitritt klar ist. – Ich bin da sehr viel vorsichtiger. Die Mehrheit der FDP sieht das auch so. Wir sehen die Fortschritte, sagen aber deutlich: Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nicht zustimmen.

(Heike Habermann (SPD):Das steht auch nicht zur Debatte!)

Das heißt nicht, dass man die Verhandlungen nicht beginnt. Die Verhandlungen müssen beginnen können, damit sozusagen im Verlaufe des Verhandlungsprozesses klar wird, welche Desiderate noch da sind.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, ich will ganz deutlich sagen – da wird mir Herr Bouffier zustimmen –: Wir haben überhaupt keine Kenntnisse davon, wie z. B. junge 12- bis 14jährige Mädchen in Deutschland behandelt werden, die von männlichen türkischen Verwandten hier eingeflogen und zu Zwangshochzeiten gezwungen werden.Das wissen wir doch alles nicht.Wir wissen es erst dann, wenn daraus entsetzliche Kriminalfälle bis hin zur Ermordung werden. Sie tauchen in Frauenhäusern auf. Dann wissen wir, was passiert ist. Deshalb dürfen wir nicht und die GRÜNEN schon gar nicht die Augen davor verschließen,

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wer tut denn das?)

was eventuell an Menschrechtsverletzungen immer noch vorhanden ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Das ist doch die Frage.

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Herr Präsident,ich will zum Schluss kommen.– Ich glaube schon, dass die Einhaltung der gemeinsamen Werte, die

ich zu Beginn meiner Rede genannt habe, einschließlich der Religionsfreiheit für alle, auch eine Chance für das Christentum in der Türkei ist. Ich wiederhole das, meine Damen und Herren. Nicht nur das Bauen von Moscheen in Deutschland einzuklagen kann die Forderung sein – dann muss es auch die Möglichkeit geben,christliche Gotteshäuser in der Türkei zu bauen.

Ich glaube, dass wir die religiöse Offenheit als Teil unserer Menschenrechtsvorstellungen einklagen können. Sie sind auch Teil der Kopenhagener Bedingungen. Unter diesen Bedingungen ist die FDP bereit, einen Beitritt der Türkei zu fordern. Aber wir sagen: Noch ist sie nicht so weit. Sie muss dafür den Beitrag leisten, der für alle europäischen Beitrittsländer gefordert wird. – Schönen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Das Wort hat Herr Staatsminister Riebel.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist der Gedanke eines früheren Lehrers, den wir als Schülerinnen und Schüler fast ausnahmslos geschätzt, um nicht zu sagen, verehrt haben, bis heute wichtig geblieben, nämlich der Gedanke, dass das Heute nur im Spiegel des Gestern erkennbar ist.

Das auf unsere europapolitische Debatte übertragen heißt nicht anderes, als dass wir uns die jüngste, die jüngere und die 300, 400 Jahre alte Geschichte Europas einmal vor Augen führen müssen. Bei dieser Betrachtung komme ich zu dem Ergebnis, dass dieser im Weltmaßstab verhältnismäßig kleine Kontinent Europa in den letzten 300, 400 Jahren durch unzählige bilaterale und multilaterale kriegerische Auseinandersetzungen gekennzeichnet ist. Wir Deutsche haben insbesondere im vergangenen Jahrhundert mit dem Zweiten Weltkrieg einen Beitrag dazu geleistet. Damals sind wir von Verbrechern regiert worden.Als ich zu den Beitrittsfeierlichkeiten in der Wielkopolska war, kam bei mir schon das Gefühl der außerordentlichen Freude auf, dass das am 1. Mai geschehen kann, aber gleichzeitig, ohne dass ich das dort einem Dritten gesagt hätte, mehr als nur ein bisschen Scham über das, was wir Deutsche in Polen und anderen Ländern zu verantworten haben.

Deswegen komme ich zu dem Ergebnis – jenseits all der Dinge, die richtigerweise lobend hervorgehoben werden, welche Chancen die Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Mittel- und Osteuropa insbesondere für unser Land Hessen bringt –, dass man die Freude und die Inhalte, die damit zusammenhängen, nicht auf dieses Thema verkürzen kann. Der 1. Mai ist aus meiner Sicht deswegen ein besonderer und in der Tat ein historischer Tag,weil,soweit Menschen überhaupt prognosefähig sind, nach menschlichem Ermessen für die Zukunft ausgeschlossen erscheint – wenn ich das auch sagen darf:für alle Ewigkeit und alle Zukunft –, dass diese 25 europäischen Staaten, die sich zur EU zusammengeschlossen haben, noch einmal gegeneinander Krieg führen. Das halte ich für das wichtigste Thema in diesem Zusammenhang: Krieg scheint unter den 25 für die Zukunft ausgeschlossen zu sein. Damit wird eine Sehnsucht erfüllt, die alle Menschen im Herzen tragen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Anzumerken ist noch,auch daran will ich erinnern,dass in der Geschichte der Menschheit parlamentarische Demokratien untereinander noch nie Kriege geführt haben – mit einer Ausnahme, dem Falkland-Krieg.Aber den kann man bei dieser historischen Betrachtung vernachlässigen.

(Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Argentinien war damals keine Demokratie!)

Weil das so ist, ist der Demokratisierungsprozess, den wir wo auch immer begünstigen und bestärken müssen, die zentrale Frage, um Frieden nach den offenbar gemeinsamen Vorstellungen zu sichern.

Deshalb können wir festhalten, dass die Europäische Union am 1. Mai ihre ganz außerordentliche Chance genutzt hat, Frieden, Freiheit und Sicherheit der 25 in Europa zu stärken, zu festigen, festzuschreiben, und dass Staaten, die aus meiner Sicht immer zu Europa gehört haben,nunmehr am Projekt dieser europäischen Integration teilnehmen.

In einer der Diskussionen, die ich in den Kreisen und Städten führe,hat sich jemand gemeldet und gesagt,Polen komme dann endlich auch zu Europa. Mein Hinweis war, bei allem Respekt vor dem Redebeitrag: Natürlich ist Polen ein uralter, schon immer europäischer Staat.

(Beifall bei der FDP)

Er kommt nicht sozusagen als Neuling zur Europäischen Union, sondern er war schon immer dabei, aber er war für Jahre und Jahrzehnte getrennt.