Protokoll der Sitzung vom 12.05.2004

Das sollte Ihnen zu denken geben. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie wissen es alle.

Ich will mit einem Hinweis schließen, der sich ebenfalls mit der Geschichte beschäftigt. Ich glaube, es ist nicht ganz falsch – ich lege Wert darauf, auch dies ohne Schaum vor dem Mund zu sagen –, dass wir als Zeitzeugen in den vergangenen Jahrzehnten zur Kenntnis genommen haben, dass sich Sozialdemokraten, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und insbesondere ihre führenden Köpfe bei Kernfragen europäischer und deutscher Politik sehr prinzipiell und grundsätzlich getäuscht haben. Ich will Ihnen das in aller Freundlichkeit sagen,wenn ich daran erinnere, wie Sozialdemokraten predigend durchs Land gezogen sind und die von Bahr erfundene Äquidistanz für das Allheilmittel aus damaliger politischer Sicht gehalten haben.

Heute ist aus der Rückschau zu sagen: Äquidistanz hieße und heißt auch heute noch die gleiche politische Entfernung zwischen Bonn und Moskau wie zwischen Bonn und Washington. Dass das ein prinzipiell falscher Gedanke war, ist heute offenkundig. Sie haben sich bei der grundsätzlichen Einschätzung der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der damaligen DDR getäuscht.Was damals Oskar Lafontaine verkündet hat, war ebenso falsch, wie heute erkennbar ist, wie – als letztes Beispiel – Ihr vehementes Bekämpfen des NATO-Doppelbeschlusses, von dem jeder weiß, dass er durchgesetzt werden musste. Diese politische Entscheidung hat zu sehr positiven Folgen für die Bundesrepublik Deutschland und ganz Europa geführt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Hier rufe ich Ihnen zu: Bei dem Thema EU-Beitritt und Beitrittsverhandlungen irren Sie genauso prinzipiell wie bei den drei von mir genannten Themen. – Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Herr Abg. Al-Wazir für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Riebel,wir haben uns vorgenommen,zumindest wir,in aller Ruhe,wie Sie gesagt haben,die Menschen mitzunehmen und Lust auf Europa zu machen. Ich kann Ihnen sagen: Sowohl der Antrag der CDU als auch Ihr Redebeitrag haben leider überhaupt keine Lust auf Europa gemacht,

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

sondern Sie haben heute versucht, die Europawahlkampagne der hessischen CDU im Landtag zu eröffnen. Sie haben das mit billigen Argumenten versucht, was den angeblich bevorstehenden Beitritt der Türkei zur Europäischen Union angeht.

Erstens.Die Europäische Union ist kein christlicher Klub. Die Europäische Union ist auch nicht das Abendland, sondern die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft, zu der jeder, unabhängig von seiner Religion, gehören kann, wenn er diese Werte teilt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Zweiter Punkt. Herr Riebel, man sollte in der Debatte über die Frage Abendland, Morgenland, die Sie hier angefangen haben, vielleicht nicht so heroisierend mit der europäischen Geschichte umgehen. Es gab die Renaissance und die Aufklärung,es gab aber auch die Inquisition und den Holocaust. Es ist nicht lange her, dass es in vielen Ländern der Europäischen Union mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht so weit her war. Ich darf daran erinnern,dass das Wahlrecht für Frauen in Deutschland 1918 und in Frankreich 1944 eingeführt worden ist.

Es ist gesagt worden, die Türkei erfüllt die Beitrittskriterien nicht. Nein, die Türkei erfüllt die Beitrittskriterien momentan nicht. Unzweifelhaft erfüllt die Türkei momentan die Kriterien für einen Beitritt zur Europäischen Union nicht. Aber die Türkei hat in den letzten Jahren auch unzweifelhaft Fortschritte gemacht, was die Situation der Menschenrechte und z. B. die Abschaffung der Todesstrafe angeht. Ich sage Ihnen: Unserer Meinung nach reichen diese Fortschritte nicht aus.Aber wir erkennen diese Fortschritte an.

Wir wissen auch,wie diese Fortschritte zustande kommen. Diese Fortschritte wären niemals zustande gekommen, wenn nicht die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union am Horizont wäre. Denn deswegen strengt sich die politische Elite der Türkei an, die Beitrittskriterien zu erfüllen. Frau Zeimetz-Lorz, wenn man sagen würde: „Es wird keinen Beitritt geben, wir machen mit den Gesprächen darüber Schluss“, dann würde die Türkei auf diesem Weg stoppen und zurückfallen. Das kann sich Europa aber nicht leisten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage Ihnen deswegen auch: Malen Sie nicht den Teufel an die Wand. – Sie haben das heute sehr nett ausgedrückt. Sie haben gesagt: „die besondere demographische Stärke, verbunden mit besonderer ökonomischer Schwäche“.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Ja!)

Herr Irmer ist genau der Richtige, der da ruft. – Wenn Sie auf eine Wahlkampfveranstaltung gehen, dann wird das da so ausgedrückt: Leute, Millionen armer Türken werden uns überrollen. – Sie wissen selbst, dass das Quatsch ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Hans-Jürgen Ir- mer (CDU): Das ist die Wahrheit!)

Denn der Beitritt steht nicht bevor.Außerdem kann es zu Entwicklungen kommen. Schauen Sie sich einmal Irland an.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist doch überhaupt nicht zu vergleichen!)

Irland war jahrhundertelang das Armenhaus Europas. Wenn es da eine Kartoffelkäferplage gab, verhungerten Millionen Menschen, weil es dort außer Kartoffeln fast nichts zu essen gab. Ich habe das jetzt einmal ganz brutal ausgedrückt. Millionen Iren sind in aller Herren Länder ausgewandert. Sie wanderten z. B. in die USA aus. Heute ist Irland ein Land mit Wachstumsraten, von denen fast alle anderen Länder der Europäischen Union träumen können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD – Frank Gotthardt (CDU): Ist das so, weil die Iren ausgewandert sind? Ist das das Konzept der Bundesregierung für die Bundesrepublik Deutschland?)

Inzwischen herrscht dort ein Lebensstandard, der mit dem der Vergangenheit nicht mehr vergleichbar ist.

Ich sage Ihnen deshalb:Vor 15 Jahren konnten wir uns alle nicht vorstellen, dass mit Estland, Lettland und Litauen nicht nur drei ehemalige Staaten des Ostblocks, sondern sogar drei ehemalige Staaten der Sowjetunion zur NATO und zur Europäischen Union gehören würden. Genauso wenig können wir uns jetzt vorstellen, welche Dynamik entstehen kann, wenn man der Türkei die richtige Perspektive gibt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen das sehr ernst. Denn ich hoffe, dass es auch unter Ihnen noch Menschen gibt, die langfristig und jenseits der Frage denken, wie viel Prozent man am 13. Juni 2004 mit welcher Kampagne auch immer erreichen will.

Es handelt sich da um ein langfristiges Friedensprojekt. Denn die Frage: „Sind der Islam und die Demokratie vereinbar?“, ist für Europa, also den Kontinent, der zwischen der arabischen Welt und Amerika liegt, die entscheidende Frage der Zukunft. Es ist die entscheidende Frage der Zukunft, weil wir ein Interesse daran haben, dass das Modell Türkei gelingt. Dieses Modell kann am besten gelingen, wenn es eine Perspektive zum Beitritt, keine Garantie des Beitritts, aber eine Perspektive des Beitritts gibt. Das bedeutet dann aber auch:Wenn die Bedingungen, die nicht verhandelbar sind, erfüllt sind, dann muss man auch zu dem Versprechen stehen, das von Konrad Adenauer über Helmut Kohl alle deutschen Bundeskanzler gegeben haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)

So sieht es aus.

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. – Ich wundere mich, dass die Partei Helmut Kohls, dass die Europapartei CDU solche Anträge stellt und dass von den Abgeordneten der CDU solche Reden gehalten werden. Eigentlich ist das fast schon das Ende der Europapartei CDU. Ich hoffe deshalb, dass Sie noch überlegen, ob Sie auf diesem Weg nicht umkehren wollen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das Wort hat Herr Abg. Dr. Jung für die CDU-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Von der SPD und den GRÜNEN wurde die Art und Weise beklagt, in der hier die Debatte geführt wird. Sie haben gesagt, das sei billiger Stil. Angesichts dessen, was

die SPD und die GRÜNEN hier zu dem Thema vorgetragen haben, muss ich diesen Vorwurf zurückreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Ich finde, wir haben mit dem ersten Absatz unseres Entschließungsantrags bewusst die historische Dimension deutlich gemacht, die sich mit dem 1. Mai 2004 in Europa aufgetan hat. Es wurde nämlich der Brückenschlag gemacht. Damit hat eine historische Vision, die Winston Churchill damals in Zürich proklamierte, ihre Erfüllung gefunden. Das ist ein historischer Beitrag. Frau Wagner, Sie haben zu Recht auf die historische Dimension hingewiesen. Bei der Frage, welche Vision es für Europa gibt, geht es auch um die Fragen des Friedens, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit. Da sind wir einen Schritt vorangegangen.Der Eiserne Vorhang wurde überwunden.Es war immer auch die Politik der Bundesregierungen von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl, zu verdeutlichen, dass die deutsche Einheit immer nur eine Seite der Medaille ist und dass sich die andere Seite auf die Europäische Union bezieht. Ich finde deshalb: Es ist ein Tag der Freude, dass am 1. Mai 2004 dieser Brückenschlag über den ehemaligen Eisernen Vorhang gelungen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Auch das gehört zur Debatte dazu: Wer hat denn damals, als es um die Freiheit und die soziale Gerechtigkeit und um die Frage der Einheit Europas ging,gehandelt? Es waren doch die Ungarn, die damals den Stacheldrahtzaun aufgeschnitten haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

In Polen war es die Solidarnosc, die mit ihrer Bewegung dazu beigetragen hat. Es ist deshalb richtig und notwendig, diesen Schritt jetzt zu vollziehen.

Ich komme jetzt zum zweiten Punkt. Dieses Europa muss dann aber auch mit Inhalten gefüllt und gelebt werden. Wir weisen dabei deutlich darauf hin, dass wir die Menschen nicht überfordern dürfen. Die Menschen haben dafür nämlich ein Gefühl. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass diese neue Europäische Union mit den 25 Staaten mit Leben erfüllt wird.Wir müssen es beispielsweise endlich schaffen, dass der Entwurf des Verfassungsvertrags gemeinsam verabschiedet wird. Sie wissen, dass wir es gern hätten, dass es in diesem Verfassungsvertrag einen Gottesbezug gibt. Herr Al-Wazir, das, was Sie vorgetragen haben, war falsch. Denn auch schon jetzt sieht der Entwurf vor, dass es einen Bezug auf die religiösen, die humanistischen und die historischen Entwicklungen Europas gibt und dass das seine Geltung hat. Ich finde, die Europäische Union ist keine Gesellschaft ohne Werte. Vielmehr handelt es sich um eine Wertegemeinschaft, die sich auf der Grundlage der christlichen und humanistischen Werte fortentwickeln muss.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Jörg-Uwe Hahn und Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Die Wahrheit ist doch, dass Sorgen bestehen.

(Margaretha Hölldobler-Heumüller (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Sie haben nicht zugehört!)

Ich finde, wir als Politiker müssen, wenn wir mit den Menschen sprechen, gegenüber diesen selbstverständlich verdeutlichen, welche Chancen und Perspektiven für unser Land in einem solchen Prozess stecken.Wir haben halt in der Europäischen Union keine Randlage mehr. Deutschland liegt nicht mehr an der Zonengrenze, am Eisernen Vorhang.Jahrzehntelang hat das Land so gelebt.Viele von

uns haben die gesamte Entwicklung unmittelbar miterlebt und mit erlitten. Wir befinden uns jetzt aber in der Mitte Europas. Damit hat das Land Hessen zusätzliche Perspektiven. Frau Wagner, Sie haben zu Recht auf die Entwicklung der Exporte hingewiesen. Auch dort gibt es Chancen, die wir nutzen müssen. Wir müssen die Menschen in einen positiven Prozess für eine Europäische Union der 25 Staaten mitnehmen.

Lassen Sie mich Folgendes als Drittes sagen. Ich glaube, dass wir jetzt allerdings auch dafür werden sorgen müssen, dass deutlich wird, welche Verantwortung auf den verschiedenen Ebenen besteht und dass das nicht verwischt wird. Auch das gehört zu dem Thema und zu der Debatte, die es im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag gegeben hat. Die Kompetenzen müssen klar sein. Es muss klar werden, welche Kompetenzen es auf der kommunalen Ebene, der regionalen, der nationalen und der europäischen Ebene gibt. Ich habe immer gesagt: Nicht jede Aufgabe in Europa ist eine Aufgabe für Europa. Aber die Europäische Union muss endlich in die Lage versetzt werden, die Aufgaben, die sie wahrnehmen muss, wahrzunehmen.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an außenpolitische Fragestellungen, bei denen ein gemeinsames Handeln notwendig wäre.Auch in Zukunft muss es da ein gemeinsames Auftreten geben. Damit würde ein Beitrag zur Entwicklung des Friedens und zur Entwicklung der Freiheit in der Welt geleistet. Dabei handelt es sich meines Erachtens um eine wichtige Aufgabe, bei der es noch ein Stück weit zu einer Verbesserung kommen muss, damit die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, die jetzt 25 Staaten umfasst, auch in Zukunft gewährleistet ist.