Protokoll der Sitzung vom 08.05.2003

In der Regierungszeit von Rot-Grün – das war ein doppelt so langer Zeitraum – sind ganze acht Maßnahmen umgesetzt worden.

(Frank Gotthardt (CDU): Frau Hammann hat gesagt, man habe sich immer bemüht!)

Herr Kollege Gotthardt, sich zu bemühen reicht manchmal nicht aus. Man muss auch handeln.

Ich meine, wir sollten die Parteipolitik außen vor lassen, weil es um die Sicherheit der Menschen im Hessischen Ried und in ganz Hessen geht. Ich glaube, es ist eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe, dass wir uns mit diesem Thema so auseinander setzen, wie es das verdient hat, nämlich über die Parteigrenzen hinweg.

Deshalb richte ich meine Bitte an die Antragsteller, dass wir alle Anträge an den Ausschuss überweisen, dort inhaltlich diskutieren und, wie ich hoffe, mit einem gemeinsamen Vorschlag aus dem Ausschuss hier wieder ins Plenum kommen. Auf diese Weise könnten wir demonstrieren, dass der Hessische Landtag RWE gegenüber mit ei

ner Stimme spricht – mit der Konsequenz, dass alle Sicherheitsvorkehrungen umgesetzt werden müssen. Das sind wir diesem Thema und den Menschen im ganzen Hessenland schuldig.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Für die SPD-Fraktion spricht Herr Schmitt.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich befürchte,dass die Überschrift der nächsten Ausgabe des Satiremagazins „Titanic“ lauten wird:„Super,klasse,hervorragend: zentraler Fehler im Notstandssystem bei einem Atomkraftwerk schon nach 29 Jahren entdeckt; hervorragende Leistung des Betreibers, der Politik und der Sachverständigen“.

Eigentlich ist das Thema fast zu traurig, um darüber Scherze zu machen, und der Vorgang ist eigentlich zu peinlich. Wir müssen uns aber darüber unterhalten. Ich teile die Auffassung von Herrn Heidel: Es wäre unangemessen, an diesem Punkt einen kleinkarierten parteipolitischen Streit vom Zaune zu brechen.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in erster Linie die Betreiberin dafür verantwortlich ist, dass ein Atomkraftwerk so gebaut und betrieben wird, wie es den Festlegungen aus dem Genehmigungsverfahren entspricht. Die Betreiberin trägt dafür in erster Linie die Verantwortung. Deswegen halte ich es in der Tat für eine bodenlose Frechheit – Herr Heidel und Frau Hammann haben es angesprochen –, wenn RWE in ihrer Pressemitteilung mitteilt, das sei alles nur ein formalrechtliches Problem.

Es geht um die zentrale Sicherheitseinrichtung eines Atomkraftwerks. Die war bedroht. Wenn RWE dies jetzt als ein „formalrechtliches Problem“ abtut, kommt darin meines Erachtens ein sehr nachlässiges Sicherheitsbewusstsein der Betreiberin zum Ausdruck.Die Debatte,die Herr Heidel eben mit überraschend klaren Worten angestoßen hat, gehört dann nach meiner Meinung auch dazu. Herr Minister, ich denke, Sie müssen derartige Presseerklärungen, in denen das fehlende Verantwortungsbewusstsein der Betreiberin, das mangelhaft ausgeprägte Bewusstseins für die Sicherheit des Atomkraftwerks zum Ausdruck kommt, in Ihre Überlegungen hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Betreiberin einbeziehen.

Ich teile die Einschätzung von Herrn Dr.Arnold,die er im Ausschuss dargelegt hat: Wenn es zu einem Kühlmittelverlust kommt, dann stehen Flutbehälter bereit, die für etwa 20 Minuten eine Kühlung gewährleisten können. Danach sinkt das Kühlmittel in den Reaktorsumpf. Daraufhin müssen die Notkühlpumpen das Kühlmittel ansaugen und über die Brennstäbe leiten.

Das entscheidende Problem, über das wir reden, ist: Was passiert, wenn aus der Hauptkühlleitung Isoliermaterial frei geworden ist und sich an den Pumpen ansetzt? Wenn ein Sieb nachgibt und reißt, dann haben wir das Problem, dass sich das Isoliermaterial an den Brennstäben festbackt, festsetzt, sodass eine Kühlung nicht mehr gewährleistet ist. Deshalb ist das ein ganz zentrales Problem für die Sicherheit eines Atomkraftwerkes.

Die Atomindustrie sagt in diesem Zusammenhang immer gerne: Wir haben eine vierfache Redundanz, wir haben vier Sicherheitseinrichtungen, vier Pumpen. – Es genügt aber, wenn ein Sieb reißt, an der Stelle das Isoliermaterial angezogen wird und sich an den Brennstäben festbackt. Danach kann man noch so viel Wasser darüber laufen lassen. Wenn sich das Material festgesetzt hat, dann wird es zu keiner Kühlung mehr kommen. So viel zu einem meiner Lieblingsthemen, den möglichen Systemfehlern der Redundanz. Im Zweifel gilt das Gesetz von Murphy: Es passiert das, was passieren kann. – An diese mögliche Gefährdung hat niemand gedacht. Erst durch den Störfall in Schweden ist man darauf gekommen,dass hier ein riesiges Problem entstehen kann.

Deswegen ist das Unterschreiten der Siebgröße kein formalrechtliches Problem, sondern ein ganz zentrales Sicherheitsproblem. Ich glaube, diese Auffassung teilen alle Fraktionen in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Es ist ein trauriges Kapitel, dass die Betreibergesellschaft 28 Jahre lang davon angeblich nichts gemerkt hat. Ich gehe davon aus,dass sie es nicht gemerkt hat.Alles andere wäre kriminell.Dabei macht mich aber nachdenklich,dass im Jahre 1998 sehr intensiv noch einmal über die Frage der Größe der Öffnungen diskutiert worden ist. Ich bitte den Herrn Minister um Aufklärung, welchen Kenntnisstand die Betreibergesellschaft seit 1998/1999 hatte.Wenn es so sein sollte – was ich nicht behaupte und nicht unterstelle –, dass die Betreiberin von der fehlerhaften Siebgröße schon seit fünf Jahren weiß, dann wäre, glaube ich, Schicht im Schacht.

(Zuruf des Abg. Dr.Walter Arnold (CDU))

Wenn ich Ihren Zwischenruf richtig verstehe, Herr Dr. Arnold,dann teilen Sie diese Auffassung.Wenn in einer so zentralen Frage nachlässig gehandelt worden sein sollte, dann wäre an dieser Stelle Ende.

(Beifall bei der SPD)

Ich finde, dass das Totalversagen, dies 28 Jahre lang nicht zu erkennen – immer noch in der positiven Variante –, Konsequenzen haben muss.

Herr Minister, ich fordere Sie auf: Fassen Sie RWE nicht mit Glacéhandschuhen an. Es reicht nicht, dass Sie den Zeigefinger heben und sagen: „Du, du, du, das darfst du nicht wieder machen“, sondern die Zuverlässigkeit der Betreiberin muss wirklich hart geprüft werden.

Ich sage es noch einmal: Ich glaube, dass die neuerliche Einlassung, es sei alles nur ein formalrechtliches Problem, und die Behauptung, die Notkühlung sei nie gefährdet gewesen, Anlass geben, sich noch einmal mit der Frage der Zuverlässigkeit der Betreiberin zu beschäftigen.

Seit 1999 gibt es Praxistests, die aber mit der Praxis nichts zu tun haben, wie wir am Ende festgestellt haben. Monate-, ja jahrelang wurden Versuche gemacht – übrigens ohne vorher abzumessen, über welche Ansauggrößen wir reden. Nach Auskunft der RWE und laut Ihren Angaben, Herr Minister – das war die Antwort auf die Frage 5 der Kollegen von den GRÜNEN –, liegt das gesamte experimentelle Vorhaben noch nicht in abgeschlossener und qualitätsgesicherter Form vor. Nach vier oder fünf Jahren liegt es noch nicht vor. Das zeigt übrigens, wie komplex die Fragestellung ist. Es handelt sich wohl um kein Problem, das einfach zu bewältigen ist.

Aber vier Tage nachdem festgestellt worden ist, dass die Öffnungen viel kleiner sind, als man im Genehmigungsverfahren angegeben hat und als es die ganze Zeit angenommen worden ist, erklärt RWE, es sei alles okay und es gebe keine Probleme. Das gibt nicht nur mir zu denken. Es hat auch Herrn Dr. Schier von der Atomaufsicht zu denken gegeben, wie so etwas einfach dahingesagt werden kann.

(Dr.Walter Arnold (CDU): Mir auch!)

Da stellt sich wieder die Frage: Kann RWE nach vier Tagen sagen – wobei Gutachter vier, fünf Jahre lang mit falschen, nämlich zu großen Größen rechnen –, es sei alles in Ordnung gewesen? Herr Minister, gehen Sie diesem Problem nach. Ich glaube, hier liegt ein ganz zentrales Problem.

Ich komme noch einmal auf die Frage nach dem, was RWE gewusst hat, zurück. Sie haben sich dahin gehend geäußert, dass sie bei der Revision im Herbst an dieser Stelle Veränderungen vornehmen will. Herr Minister, das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass RWE die ganze Zeit vielleicht doch mehr gewusst hat, als sie gesagt hat. Auch an diesem Punkt bitte ich Sie um Aufklärung.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass sich, abgesehen davon, dass es für die Betreiberin ein peinlicher Vorgang war, auch Atomaufsicht und Gutachter nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben.Schon rein optisch hätte dem einen oder anderen dieser Unterschied auffallen müssen. Ingenieuren mit einer gewissen Praxiserfahrung wäre das auch aufgefallen.

(Dr.Walter Arnold (CDU): Das bezweifle ich!)

Aber dass auch Sachverständige von den Gutachterorganisationen TÜV Nord und TÜV Süddeutschland, die seit Jahren in die Prüfung eingebunden waren, dies nicht bemerkt haben, ist wirklich ein trauriges Kapitel und bringt einen zum Nachdenken über die Gutachten, die wir die ganze Zeit geboten bekommen haben, sowie darüber, ob sich nicht im Laufe der Zeit Denk- und Systemfehler eingeschlichen haben und ob es nicht – um es vorsichtig auszudrücken – einen zu engen Zusammenhalt zwischen den Gutachtern und der Atomaufsicht gegeben hat. Es sind nämlich immer dieselben Leute, die dort prüfen. Deswegen sage ich ausdrücklich,dass der Minister die richtige Entscheidung getroffen hat, wenn er erklärt, er wolle diese Gutachter nicht mehr.

(Ursula Hammann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das sind doch wieder die Gleichen!)

Auch für die Politik ist diese Geschichte natürlich kein Ruhmesblatt. Alle Parteien waren beteiligt. Ich habe einmal scherzhaft gesagt, dass es wie bei den Altlasten ist: Dort spricht man vom chemischen Zoo. Hier ist es ein politischer Zoo. FDP, CDU, SPD und GRÜNE – wir alle waren daran beteiligt. Die Gutachter haben in einem Ausmaß gepennt, wie man das selten erlebt hat, und die Politik hat es auch nicht gemerkt.

Das lässt übrigens wenig Vertrauen für die Zukunft aufkommen, ob Atomkraftwerke kontrollierbar sind. Das scheint mir die entscheidende Frage zu sein, über die wir im Landtag reden müssen.

Aber warum ist das so? Warum ist das nicht aufgefallen? Warum haben alle nicht so gehandelt, wie man es eigentlich von ihnen erwartet hätte? Ich sehe die Ursache in der Komplexität der Atomkraft. Ich gehe davon aus, dass weder die Betreiber noch die Politiker, noch die Gutachter

gewissenlos sind. Trotzdem kam es zu diesem haarsträubenden Fehler.Atomkraftwerke sind in der Tat sehr kompliziert. Dies ist ein gutes Beispiel dafür.

Die Pumpenfunktion ist möglicherweise kein Problem. Dort gibt es vier Pumpen.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Sieben Pumpen sind auch kein Problem!)

Nach den Berechnungen ist auch genug Wasser da. Dann taucht auf einmal das Problem mit dem Isoliermaterial auf. Dieses Problem war, als man die Frage der Sicherheit geprüft hat, in keinem Gutachten enthalten. Erst durch die Praxis, nämlich als es in Schweden ein Problem gab, ist man darauf aufmerksam geworden. Das hat vorher niemanden interessiert. Niemand hat sich auch nur theoretisch damit beschäftigt, dass das Isoliermaterial an irgendeiner Stelle ein Problem darstellen könnte.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Dafür sind doch die Siebe da, die das zurückhalten!)

Dann ging es los: Welcher Druck entsteht, wenn sich das Zeug festbackt? Wie ist das Strömungsverhalten? Bei welcher Belastung geht das Sieb kaputt? Wo lagert sich das Isoliermaterial am Ende ab? Diese Fragen waren auf einmal zu klären. Am Anfang, zur Zeit des Baus im Jahr 1975, hat sich niemand mit diesen Fragen so auseinander gesetzt, wie das hätte geschehen müssen.

Atomkraft ist in der Tat ein schwieriges, komplexes Geschäft. Diesmal haben wir, sozusagen als Höhepunkt, erlebt, dass jahrelang im Rahmen von Praxistests, die von falschen Vorgaben ausgegangen sind, erprobt und gerechnet wurde. Damit wird vieles deutlich.

Hinzu kommt die Komplexität des Genehmigungsverfahrens. Dr. Lauer, der Leiter von Biblis, hat mir geschildert, dass seine Mitarbeiter tagelang in den Genehmigungsunterlagen gesucht haben,um herauszufinden,ob die kleineren Öffnungen nicht doch genehmigt sind.Wenn selbst der Betreiber das nicht weiß, macht das alles deutlich. Ich weiß nicht, wie die Antwort lautete, wenn ich das Ministerium fragen würde: Seid ihr ganz sicher, ob nicht irgendwann später ein Sieb mit einer kleineren Öffnung genehmigt worden ist?

Das macht deutlich, dass wir es mit einer enormen Breite von Vorgängen zu tun haben. Die Fragen, die mit der Atomenergie verbunden sind, sind derart komplex und kompliziert, dass wir – obwohl wir Sozialdemokraten in den Sechziger- und Siebzigerjahren gesagt haben, dass wir die Atomkraft wollen – nach vielen Störfällen in der Praxis erkennen mussten, dass das der falsche Weg ist.

Daraus ziehe ich für meine Fraktion noch einmal das Fazit: Die Atomenergie ist technisch nicht beherrschbar. Sie ist auch administrativ nicht beherrschbar. Dieser Vorgang zeigt dies klipp und klar.

(Beifall bei der SPD – Dr. Walter Arnold (CDU): Doch, dafür gibt es gute Beispiele!)

Außerdem – das ist in meinen Augen der dritte schlimme Punkt – sind die Kontrolleure durch die Politik nicht kontrollierbar. Das kommt leider auch noch hinzu. Ich befürchte, dass der Vorgang, der jetzt ans Licht gekommen ist – der sozusagen angestrahlt wird –, möglicherweise kein Einzelfall ist, sondern dass solche systematischen Fehler leider in der Technik angelegt sind und dass wir zwar momentan über diesen einen Fehler reden, dabei jedoch andere weiterhin im Verborgenen bleiben.

Das hat einfach etwas mit dieser Technik zu tun. Es handelt sich um den Systemfehler einer Energieerzeugungsart, die mit viel Technik und auch mit viel Risiko verbunden ist. Deswegen sage ich Ihnen noch einmal:Wir hatten bisher – ich hoffe, Dr. Arnold wird das fortsetzen; davon gehe ich aus – eine sehr sachliche und nüchterne Diskussion.Wir werden in den Ausschussberatungen hoffentlich vieles vor die Klammer ziehen können. Eines werden wir jedoch nicht vor die Klammer ziehen können, nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie.

Diese Vorgänge zeigen aus unserer Sicht aber noch einmal, dass es der richtige Weg ist, über Konsensverhandlungen zu gehen und darauf zu sehen, dass wir aus dieser doch mit sehr großen Risiken verbundenen Energie aussteigen. Dieser Vorgang zeigt das wieder einmal.Aber wir werden bei der Debatte im Ausschuss über den Einzelvorgang reden.

Ich glaube, dass diejenigen, die sagen, wir hätten es nur mit einem Einzelvorgang zu tun, nicht richtig liegen. Für uns ist die einzig richtige Konsequenz – diese Auffassung teilen wir mit den GRÜNEN –, aus der Atomenergie auszusteigen. Die rot-grüne Bundesregierung ist gegen den Rat und übrigens auch gegen die Versuche der Landesregierung, das zu torpedieren, den richtigen Weg gegangen.