Protokoll der Sitzung vom 12.07.2005

(Beifall bei der CDU)

Die nächste Rednerin in der Debatte ist Frau Abg. Habermann, Fraktion der SPD.

(Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Weinmeister muss nachher ganz schnell sprechen! – Gegenruf von der CDU: Ein guter Mann, der kann das!)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Irmer, Sie hätten am Anfang den Rahmen, den Sie eigentlich nicht sprengen wollten, vielleicht doch einmal sprengen sollen und bei der Aufzählung des Warenhauskatalogs, den Sie uns hier abgeliefert haben, sagen sollen, wo in den hessischen Schulen wirklich Qualitätsverbesserung eingetreten ist, wo es wirklich bessere Bildungschancen für die Schülerinnen und Schüler in diesem Land gibt und wo es nicht nur um Auslese und Selektion geht, wie Sie das hier perfektionieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU)

Herr Irmer, ich sage Ihnen noch eines: Ich bin keine Lehrerin, aber ich bin Pädagogin. Deswegen werde ich schwerpunktmäßig über unseren Antrag zum Aktionsprogramm reden. Ich glaube, Sie sollten sehr gut zuhören. Denn wenn Sie immer nur Ihre RWI-Studie zitieren, werden Sie nicht zu neuen Erkenntnissen gelangen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will mit einer Frage anfangen. Was haben Albert Einstein, Edelgard Bulmahn und Edmund Stoiber gemeinsam?

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Nichts!)

Sie sind alle einmal sitzen geblieben.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Einstein sogar zweimal!)

Es ist trotzdem etwas aus ihnen geworden,

(Zurufe von der CDU)

auch wenn die Übereinstimmung in diesem Haus darüber wahrscheinlich bei Albert Einstein noch am größten ist.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Nicola Beer (FDP) – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Auf die Zwischenrufe habe ich gewartet, Herr Irmer; denn insbesondere die Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungsfraktion müssten nun triumphierend anmerken: Daran kann man sehen, dass Sitzenbleiben eine pädagogische Maßnahme ist, die dazu beiträgt, dass Schülerinnen und Schüler durch eine rechtzeitige Nichtversetzung zu höheren Leistungen angespornt und auf den Weg zum Erfolg zurückgebracht werden. – Das ist das, was Sie uns hier immer verkaufen wollen.

Aber wer so argumentiert, gibt sich auch mit der Aussage der OECD zufrieden, dass in Deutschland der Bildungserfolg von Kindern in hohem Maße vom Sozialstatus der Eltern abhängig ist. Bei gleicher Begabung haben Kinder aus bildungsnahen Schichten eine 2,6-mal höhere Chance,

das Abitur zu machen, als Kinder, deren Eltern im niederen Dienstleistungs- oder Beschäftigungsbereich sind. Auch Arbeiterkinder schaffen das Abitur, aber halt weniger. Wer sich damit zufrieden gibt, hat kein Interesse an mehr Bildungsgerechtigkeit und höherer Bildung für alle.

(Beifall bei der SPD)

Die einzige Weisheit, die Sie Ihrer Studie und Ihren Aussagen entnehmen können,ist:Es gibt immer Kinder,die es trotzdem schaffen, siehe Albert Einstein, Edelgard Bulmahn und Edmund Stoiber. Aber diese banale Weisheit sollte Sie nicht dazu verleiten, Sitzenbleiben als Förderung zu interpretieren.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Vielmehr sind Sitzenbleiben, Querversetzung und Rückstellung vom Schulbesuch Maßnahmen, die von der irrigen Fiktion ausgehen, alle Schülerinnen und Schüler könnten und müssten Lernziele zum selben Zeitpunkt erreichen. Schulversagen und Schulleistung werden immer noch überwiegend als Scheitern des Einzelnen definiert. Wenn ein Kind das vorgegebene Ziel nicht erreicht, muss es mit der Beschämung leben, nicht versetzt zu werden, auf eine andere Schulform geschickt zu werden oder später in die Schule zu kommen.Viele können diese Demütigung nur schwer bewältigen, und dann bezeichnet sie den Anfang einer gescheiterten Bildungskarriere.

(Zuruf von der CDU: Quatsch!)

Durch diese Sanktionsmaßnahmen wird in Deutschland Ausbildungszeit künstlich verlängert. 250.000 Kinder und Jugendliche pro Jahr müssen eine Klasse wiederholen oder frühzeitig abgehen. 200.000 kommen dazu, die die Schule wechseln. 10 % werden von der Einschulung zurückgestellt.In Hessen wurden im Schuljahr 2003/04 mehr Kinder vom Schulbesuch zurückgestellt als noch 1999. Trotz Vorlaufkursen und Sprachförderung sind es immer noch 9 % der Schulanfänger. Jeder vierte Schüler bleibt bis zur 10. Klasse einmal hängen.

Diese Quote ist in keinem anderen Industrieland so hoch. Japan, einige skandinavische Länder und Großbritannien haben das Sitzenbleiben gar ganz abgeschafft. Der Bildungswissenschaftler Klaus Klemm hat errechnet, dass bundesweit 850 Millionen c als Folge von Klassenwiederholungen aufgewendet werden müssen.

(Andrea Ypsilanti (SPD):Viel Geld, das man in die Förderung stecken könnte!)

Das entspricht 16.500 Lehrerstellen. Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft rechnet in ihrem Konzept „Bildung neu denken“ sogar mit einer Ersparnis von jährlich 1 Milliarde c, wenn das Sitzenbleiben abgeschafft wird. Legt man das Steinbeis-Gutachten aus Hessen zugrunde, entstehen auf dieser kalkulatorischen Basis Kosten von ca. 110 Millionen c für Klassenwiederholungen allein im Landesbudget.

(Zuruf der Abg.Andrea Ypsilanti (SPD))

Angesichts dieser Zahlen müssen auch Sie die Frage beantworten, warum diese Ressourcen nicht dazu verwendet werden, mit der Forderung nach individueller Förderung und individualisiertem Lernen in der Schule endlich ernst zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Schulen die Möglichkeit und die Mittel erhalten, frühzeitig aktiv zu werden, um jedem Kind und seiner

persönlichen Entwicklung gerecht zu werden, könnte ein Großteil der gescheiterten Bildungskarrieren von Kindern vermieden werden. Mit Assistenzkräften im Unterricht und der Möglichkeit, nach Bedarf Kleingruppen einzurichten oder auch Einzelförderung anzubieten, wäre es möglich, ein Lernklima zu erzeugen, das auf das einzelne Kind abgestimmt ist. Kinder muss man nicht zum Lernen motivieren, wenn sie nicht vorher demotiviert wurden.

Meine Damen und Herren, das ist ein neuer Weg, den es in der Schule umzusetzen gilt.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auch die Studie des RWI, die vorhin wieder als Kronzeuge pro Sitzenbleiben benannt wurde,macht keine Aussage dazu, ob eine andere Lernkultur in der Schule eine bessere Alternative zum Sitzenbleiben ist. Ein Zitat aus dieser Studie:

Bisher nicht untersucht wurde hingegen, wie wirksam im Vergleich Alternativen [zum Sitzenbleiben], beispielsweise gezielter Förderunterricht, sind.

Meine Damen und Herren, das Bekenntnis zu individueller Förderung bleibt bei dieser Landesregierung weiterhin eine leere Floskel, wenn kein Konzept entwickelt wird, um Klassenwiederholungen zu verhindern und Schulversagen zu bekämpfen. Die Ausdehnung der Querversetzungsmöglichkeit bis zum Ende der Klasse 7 macht aber besonders deutlich,dass es in Wirklichkeit auch nicht um bestmögliche Förderung, sondern um größtmögliche Auslese geht.

(Andrea Ypsilanti (SPD): Genau!)

Wir wollen dagegen, dass kein Kind mehr zurückgelassen wird. Ein Schritt dazu ist, Ressourcen, die für Sanktionsund Reparaturmaßnahmen aufgewendet werden müssen, den Schulen direkt zur besseren Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verfügung zu stellen.

(Beifall bei der SPD)

Abschließend. Das ist nicht nur eine Idee der SPD. Es gibt in diesem Fall auch eine CDU-Politikerin, die von den Erkenntnissen der Bildungswissenschaftler nicht so unbeeindruckt ist wie diese Kultusministerin und der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion. Erst im vergangenen Monat hat die Hamburger Bildungssenatorin, CDU, Alexandra Dinges-Dierig, einen Prüfauftrag an ihr Haus mit dem Ziel erteilt, das Sitzenbleiben mittelfristig abzuschaffen.

(Norbert Schmitt (SPD): Hört, hört!)

Hessen sonnt sich aber weiterhin in den Lehren der bildungspolitischen Vergangenheit. Meine Damen und Herren, der Leuchtturm, von dem Sie immer reden, sollte möglichst niemandem als Orientierung dienen,

(Beifall bei der SPD)

der nach größerer Chancengerechtigkeit und mehr Bildungsqualität in Hessen Ausschau hält.

Jetzt müsste ich wissen, wie viel Redezeit ich verbraucht habe.

Sechs Minuten und 30 Sekunden.

Wir haben heute eine Debatte kompakt. Deswegen will ich jetzt noch ein paar Sätze zu den Anträgen sagen, die von der FDP-Fraktion vorlagen oder vorliegen und will einen Themenwechsel machen. Meine Damen und Herren und insbesondere Kollegen von der FDP, wir haben Ihre beiden Anträge für überflüssig gehalten.

(Zuruf des Abg. Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU))

Ich will Ihnen auch erklären, warum. Den Antrag zur Einführung von Regionalkonferenzen haben Sie bereits zurückgezogen. Ich habe in diesem Antrag eine leise, aber berechtigte Kritik an der Einführung von Richtwerten in Hessen gehört. Es ist in der Tat so: Die Richtwerte, die im Schulgesetz stehen, beschränken das Recht der Schulentwicklungsplanung für die Schulträger. Das ist eine Politik mit dem Rechenschieber und führt zur Ausdünnung der Schulangebote in der Fläche. Dass Sie Ihren eigenen Antrag zugunsten eines gemeinsamen Antrages mit der CDU zurückziehen, damit Sie wieder einmal die Mehrheit haben, heißt, dass Sie diese Kritik am Schulgesetz nicht mehr teilen,obwohl es explizit in Ihrem Antrag noch zu lesen ist. Wir denken, der Antrag ist überflüssig, denn verantwortungsvolle Schulträger machen ihre Planung nicht am grünen Tisch. Sie vergewissern sich, ob die Bildungsmaßnahmen, die sie einleiten, sinnvoll sind. Sie vergewissern sich auch, ob Schulgrößen und Schulangebote sinnvoll sind, die in ihren Kreisen angeboten werden. Meine Damen und Herren,deswegen bedarf es dieses Antrags nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)