Protokoll der Sitzung vom 12.07.2005

Als die CDU die Verfassung geändert hat, ist sie mit diesem Motto vor die Bürgerrinnen und Bürger getreten und

hat gesagt: Wenn das Land etwas macht, wenn das Land den Kommunen etwas aufbürdet, soll das Land auch bezahlen. – Bitte schön, halten Sie sich jetzt daran.

(Zuruf des Abg. Mark Weinmeister (CDU))

Das hat nichts mit rot-grünem Wahlkampf zu tun, wie die CDU glauben machen will, sondern das hat etwas damit zu tun, dass die Schulträger mit dem Rücken an der Wand stehen und die Schulen und die Eltern zu Recht sagen: Wenn hier ein Ganztagsbetrieb stattfinden soll, dann wollen wir das Personal, aber auch die notwendigen Räumlichkeiten dafür haben. – Sie wenden sich an die Schulträger, da sie sich nicht an die Kultusministerin wenden können.Insofern ist es folgerichtig,dass die Schulträger das in diesem Falle tun.

(Zuruf des Abg. Mark Weinmeister (CDU))

Das sagen ja nicht nur die roten und grünen Schuldezernenten. In Marburg hat auch die dortige CDU dieses Argument eingesehen. Im Haupt- und Finanzausschuss der Marburger Stadtverordnetenversammlung haben die CDU-Mitglieder deutlich gesagt – z. B. der Kollege Wolff, Sie müssten es wissen, Herr Gotthardt –: Auch die CDU ist der Meinung, dass das Land die Ausweitung der G-8Bildungsgänge finanzieren muss, und die Schulträger sollen jetzt eine Berechnung anstellen, die dem Kultusministerium vorgelegt werden kann.

(Frank Gotthardt (CDU): Der heißt zwar Wulff, aber das macht nichts! Das hat er nicht gesagt! Sie haben das in der Zeitung gelesen! In der Zeitung steht es aber falsch, Frau Kollegin!)

Hessens Schulen brauchen ein Investitionsprogramm, das das Bundesprogramm ergänzt. Sie brauchen ein Landesprogramm, das die personelle Ausstattung auch in den nächsten Jahren sicherstellt. Bislang standen schon 200 Schulen auf der Warteliste für das Ganztagsprogramm. 100 Schulen, die bisher eine pädagogische Mittagsbetreuung anbieten, wollen sich in offene Ganztagsschulen umwandeln.Wir GRÜNEN haben im letzten Jahr ein Finanzierungsmodell dafür vorgestellt.Wir waren der Meinung, dass die Eigenheimzulage abgeschafft werden soll.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Warum haben Sie das in Ihrer Regierungszeit nicht gemacht?)

Regierungschef Koch war dagegen und hat im Bundesrat diese Maßnahme blockiert.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Wir hätten bis zum Jahre 2008 allen – –

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Ich sagte es Ihnen doch gerade. Wir wollten in unserer rot-grünen Regierungsverantwortung auf Bundesebene diese Mittel für die Bildung ausgeben. Sie haben es bis heute blockiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU)

Auf einmal wollen Sie die Eigenheimzulage abschaffen – wohl in der Hoffnung, die Wahl zu gewinnen, was eine Hoffnung bleiben soll. Wir hätten aber schon dieses Jahr ganz viele Schulen umwandeln können. Das ist Ihr Versäumnis, und das werden wir immer wieder deutlich machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Schlagwort „Individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern“ ist inzwischen auch bei der CDU angekommen. Verwirklicht wird die individuelle Förderung in unserem Schulsystem aber nicht. Das Schulgesetz konterkariert sogar die Möglichkeit einer individuellen Förderung.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Wer war für die Einheitsschule?)

Statt immer mehr Zeit auf Sortieren und Aussondern zu verwenden, sollten Sie Diagnostik und zielgerichtete Unterstützung ausbauen. Für die individuelle Förderung ist es außerdem nicht hilfreich, wenn die Klassen immer größer werden. Bei den Grundschulen sind 10 % der Klassen über der Höchstgrenze. Sie müssen die Sonderregelung in Anspruch nehmen. Bei den Gymnasien haben 30 % aller Klassen 31 bis 33 Schüler. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Da ist nichts mit individueller Förderung, da ist nichts mit unterschiedlichen Methoden im Unterricht, weil sich nämlich die Schüler wie die Heringe in den Klassenräumen drängen und die Lehrer gar nichts anderes als Frontalunterricht machen können. So kann eine individuelle Förderung nicht durchgeführt werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die neuen Richtlinien für die Klassengrößen werden das Problem noch verschärfen. Dabei gibt es an hessischen Schulen Beispiele dafür, wie das funktionieren kann: Bei den gleitenden Eingangsphasen werden die Kinder in ihren unterschiedlichen Lernfortschritten unterstützt und zu individuellen Höchstleistungen gebracht, sodass manche Kinder zwei Schuljahre in einem Schuljahr durchlaufen können. Die Kinder in den Eingangsphasen sind allesamt sehr motiviert. Somit kann man flexibel auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen. Das ist aber in den restlichen Klassen nicht gewollt, und derzeit gilt, dass es keine weiteren Eingangsphasen geben wird, weil die neue Verordnung nicht vorsieht, dass zusätzliches Geld dafür zur Verfügung gestellt wird. Es wird also wahrscheinlich bei den 29 guten Modellen bleiben, und alle anderen Schulen schauen in die Röhre.

Meine Damen und Herren, um die individuelle Förderung voranzubringen, wäre es notwendig, dass in den Schulen die notwendige Konsequenz gezogen werden könnte, von Lehrplänen und Stundenplänen abzuweichen oder zusätzliche Angebote zu machen. Wie sollen die Schulen besser werden, wenn die Förderstunden an den Grundschulen gestrichen werden, die Lehrerzuweisung immer schlechter wird,immer weniger Vertretungen stattfinden oder das Personal dafür nicht richtig ausgebildet ist?

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): In Ihrer Regierungszeit war die Stundentafel auf dem niedrigsten Niveau!)

Herr Irmer, Überschriften wie „Hobbylehrer müssen Lücken stopfen“ und „Kultusministerin not amused“ müssten Ihnen doch eigentlich in den Ohren klingen. Es ist doch nicht so, dass die Kultusministerin irgendwo auftaucht und alle Beifall klatschen. Es gibt Protestveranstaltungen und Protestkundgebungen überall in Hessen. Morgen findet wieder ein Trauerzug in Frankfurt statt. Sie müssten doch langsam zur Kenntnis nehmen, dass die Realität nicht mit dem übereinstimmt, was Sie in Ihren Reden hier immer gerne vortragen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU)

Was ist eigentlich am Sitzenbleiben sinnvoll? Wenn z. B. Schüler in zwei Fächern schlecht sind, sitzen bleiben müssen und ein Jahr lang in allen anderen Fächern Altbekanntes hören, glauben Sie, das stärkt den Lernfortschritt?

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das nennt man Festigung!)

Glauben Sie nicht, das bringt nur Langeweile und Demotivation? Nein, das ist auch Verschwendung von Lebenszeit. Auch die Lebenszeit von Kindern ist wertvoll. Angeblich haben Sie die Schulzeitverkürzung doch deshalb eingeführt, weil es wichtig ist, das die Schülerinnen und Schüler früher einen Abschluss bekommen. Das Sitzenbleiben führt aber dazu, dass Lebensjahre von Kindern verschwendet werden. In Hessen liegt die Quote der Sitzenbleiber unter den Schülern bei 3,2 %. Das sind 21.600 Schüler, denen ein Jahr Lebenszeit gestohlen wird. Das kostet das Land über 100 Millionen c,die für Unterrichtsassistenten zur Verfügung gestellt werden könnten, die eingesetzt würden, wenn Kinder einen Lernknick haben, die dann direkt einsteigen und den Kindern helfen könnten, damit sie das Klassenziel erreichen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Norbert Herr (CDU))

Eine neue Verordnung sieht jetzt vor, dass ein individueller Förderplan für Kinder erstellt wird, wenn sie sitzen geblieben sind.Nein,meine Damen und Herren,wir sind der Meinung, Förderpläne müssen für jedes Kind und vor allen Dingen dann erarbeitet werden, wenn man Lerndefizite bemerkt, weil man dann eingreifen kann. Dann muss man nicht Lebensjahre von Kindern in diesem Schulsystem verschwenden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Hans-Jürgen Ir- mer (CDU): Sie sind doch auch beratungsresistent!)

Ich bin nicht lernresistent, aber vielleicht Sie. Es gab neulich wieder eine Schweizer Studie mit dem Titel „Sitzenbleiben ist nicht sinnvoll“.Vielleicht sollten Sie einmal etwas anderes lesen als Studien des RWI.

Die hessischen Schulen müssen aus Sicht der GRÜNEN so selbstständig arbeiten können, dass eine Förderung möglich wird und dass die Leistung besser wird.Das heißt, Lernziele und Bildungsstandards sollen vorgegeben werden. Die Wege dazu sollten den Schulen freigestellt werden, und eine Evaluation, Herr Wagner, muss für die Verbesserung des Systems sorgen. Die Evaluation muss dazu führen,dass alle Schulen überprüft werden.Dafür braucht man kein Losverfahren.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Nein, zu einem bestimmten Zeitpunkt muss jede Schule einmal überprüft sein. Ich halte viel davon, dass am Anfang vor allem die Schulen geprüft werden, die sich dazu bereit erklären, weil sich das System erst einmal darauf einstellen muss und auch die Schulen mit dem System umzugehen lernen müssen. Anschließend brauchen sie vor allem Unterstützung, damit sie besser werden, damit die Kinder in Hessen zu besseren Lernleistungen kommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die Lehrerinnen und Lehrer müssen natürlich das Rüstzeug dafür bekommen – und zwar in der Aus- und Fortbildung. Im nächsten halben Jahr wird wohl kaum eine Fortbildung stattfinden, wie es derzeit aussieht, obwohl dazu eine gesetzliche Verpflichtung besteht. Es gibt nämlich keine veröffentlichten Angebote, die belegt werden könnten. Das HeLP wurde zerschlagen, aber neue Fortbildungsmaßnahmen des AfL sind noch nicht veröffentlicht worden.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Wo leben Sie denn?)

So ist es natürlich folgerichtig, dass es für die Fortbildung noch kein Geld gibt. Auch die Staatlichen Schulämter können weder Angebote präsentieren noch Geld für die Schulen zur Verfügung stellen. Die Schulen kommen zu den Schulämtern und sagen: „Wir würden gern etwas anbieten“, und die Schulämter sagen:Wir können euch kein Geld geben. – Rechnerisch gesehen haben die Grundschulen 250 c pro Jahr für Fortbildungsmaßnahmen zur Verfügung.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Zu Ihrer Zeit gab es gar nichts!)

Die Berufsschulen verfügen über ca. 680 c für das gesamte Kollegium, und die anderen Schulen haben überhaupt kein Budget. So sieht die „Leistungssteigerung“ in Sachen Fortbildung aus. Dabei müssten wir die Lehrerinnen und Lehrer schulen, die im System drin sind, denn sie müssen mit den Kindern arbeiten, die heute in den Schulen sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eine Qualitätssteigerung à la CDU, die deutlich schlimmer kaum sein könnte.

Sträflich geht die Landesregierung auch mit einem anderen Thema um, nämlich mit der Sicherung der Angebotsvielfalt von Schulen in allen Kreisen und Städten unter den Bedingungen des demographischen Wandels. Statt einen Rahmen vorzulegen, der den Schulträgern die Möglichkeit gibt, auf den Rückgang der Schülerzahl zu reagieren und dennoch alle Abschlüsse vor Ort zu garantieren, setzt die Kultusministerin weiterhin auf das starre viergliedrige Schulsystem, das sich aber auf Dauer bei sinkenden Schülerzahlen in der Fläche gar nicht aufrechterhalten lässt. Das wird nicht funktionieren.An dem Rückgang der Zahl der Schüler um 22 bis 35 % in den nächsten 15 Jahren ist das deutlich abzulesen.

Was macht die Kultusministerin? Weil das System zu teuer ist, greift sie zu schulorganisatorischen Zwangsinstrumenten, macht sie enge Vorgaben bei den Richtwerten, Jahrgangsbreiten und Mindestzügigkeiten. Das führt bei den Schulen schon jetzt zu Problemen.Es gab Proteste von Schulträgern und Eltern – völlig zu Recht.

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ich komme zum Schluss. – Was ist bei der Bildungspolitik dieser Landesregierung eigentlich intelligent, fragt man sich oft.

(Heiterkeit und Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Intelligente Konzepte wären aber notwendig, z. B. den Schulen die Möglichkeit zu geben, selbstständig zu entscheiden, ob sie Kinder gemeinsam oder kooperativ unterrichten und wie sie sie tatsächlich zu den Abschlüssen an der jeweiligen Schule bringen.

Das wäre eine Schule der Vielfalt, eine Schule der individuellen Förderung. So könnte man alle Abschlüsse auch in der Fläche garantieren. Der VBE hat für SchleswigHolstein und Nordrhein-Westfalen ein solches Konzept vorgelegt. Vielleicht sind Sie lernfähig. Vielleicht kümmern Sie sich einmal darum, was darin steht.