Protokoll der Sitzung vom 24.11.2005

Wollten die Bürger wirklich, dass sich etwas ändert? Die Wähler haben sich für die Große Koalition entschieden. Mit der großen Koalition kann sich nichts Tiefgreifendes ändern. CDU/CSU und SPD sind so diametral entgegengesetzt in ihrer Programmatik,dass sie zusammen keine großen Reformen auf den Weg bringen können. Das ist völlig ausgeschlossen. Wenn das deutsche Volk in den nächsten Jahren das merkt,dann ist das kein Fehler.

Ich habe hinzugefügt – das haben Sie weggelassen –: „In dieser Konstellation können die Parteien zwar keine großen Reformen beschließen, zumindest aber das Land nach den rot-grünen Jahren vor Schaden bewahren.“ Das ist in der Tat mein Ansatzpunkt, von dem ich glaube, dass wir erfolgreich sein können.

(Beifall bei der CDU)

Ich glaube, dass es dann, wenn man anfängt, in der Sache zu diskutieren, eine Menge Punkte gibt, mit denen man das erklären kann. Dann würden wir nämlich, was die GRÜNEN ärgert, über Genehmigungen und über die Industriepolitik reden, und über die Frage, wie man Flughäfen, Straßen und anderes bauen kann, um den Abstand des Landes im wirtschaftlichen Wettbewerb wieder zu verringern. Dann kann man über Entbürokratisierung reden, dann kann man über die Frage reden, ob europäischen Richtlinien in Deutschland immer anders angewandt werden müssen als in den anderen europäischen Ländern, oder ob sie eins zu eins umgesetzt werden sollten, sodass wir im Wettbewerb wieder bestehen können. Dann kann man über die Frage reden, wie wir es hinbekommen, eine Unternehmensteuer zu beschließen, die Personengesellschaften – die ein besonderes Gut Deutschlands sind – nicht länger finanziell kaputtmacht, sondern diese mit Körperschaften gleichstellt.

(Beifall bei der CDU)

All das ist in einer solchen Regierung durchaus möglich. Es ist eine Chance und sehr viel mehr als der bisherige Stillstand, auch wenn es sicherlich nicht die gemeinsame gesellschaftspolitisch Vision ist, die CDU/CSU und Liberale vielleicht gehabt hätten und in einem Programm ein Stück weit hätten aushandeln können. Das ist der Unterschied.Wenn man über diesen Unterschied nicht offen redet, wird man neuen Verdruss erzeugen.

Wenn man offen über diesen Unterschied redet, dann kann man für die Politik eine Qualität erzeugen, bei der am Ende die politischen Parteien – im schlimmsten Falle sogar die beiden, die nicht dabei sind – unter dem Gesichtspunkt ein Stück Autorität gewinnen, dass man mit ihnen angemessen und vernünftig umgeht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist, glaube ich, ein äußerst wichtiges Ziel, und das muss man verfolgen.

Eine letzte Bemerkung,die ich mit dem Privileg,länger als zwei Minuten reden zu dürfen, hinzufügen darf. Betrachten wir die Debatte über Finanzen. Die ist für alle in der Bundesrepublik Deutschland extrem herausfordernd. Ich räume Ihnen ein, in dieser Debatte stehen auch wir – egal, ob das die Landesregierung oder ich und die CDU/CSU sind – in einem schwierigen Konflikt. Denn einerseits ist es richtig, dass die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in Summe zu hoch sind. Darüber braucht – jedenfalls mit mir – niemand zu streiten.

Das andere Problem ist, dass wir das schon seit Jahren wissen und nicht in der Lage waren – vielleicht alle miteinander, lassen wir einmal die Schuldzuweisungen für eine Sekunde weg –, die Tatsache, dass das im Wesentlichen durch die kollektiven Sozialausgaben bestimmt wird, die exorbitant höher sind als in jedem anderen Industrieland der Welt,

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja, das ist es!)

zu ändern. So haben wir eine Situation geschaffen, die uns – und das betrifft auch uns als Land – in der Politik dazu geführt hat, zu versuchen, das zu kaschieren, indem man – ich nehme jetzt Rot-Grün, die haben das in den letzten Jahren gemacht – die Steuerquote permanent gesenkt hat, weil man sich nicht angemessen getraut oder in der Lage gesehen oder es für objektiv unmöglich gehalten hat, was auch immer, an die Sozialquote heranzugehen. Das heißt, wir haben heute immer noch eine der höchsten Staatsquoten der Welt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das stimmt nicht!)

Das lähmt unsere Wirtschaft. Zugleich haben wir die niedrigste Steuerquote aller modernen Industrieländer.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und woran liegt das? Was haben Sie eigentlich die letzten Jahre im Bundesrat gemacht?)

Das heißt, die Wirtschaft ist geschädigt, und die staatliche Handlungsfähigkeit ist eingeschränkt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat uns denn daran gehindert, die Steuerquote zu erhöhen?)

Gerade für ein Bundesland ist es extrem schwierig, diese beiden Befunde zusammenzubringen.

Herr Kollege Al-Wazir, ich halte die Steuersenkungen für richtig.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer hat uns denn am Subventionsabbau gehindert?)

Verstehen Sie, ich halte die Steuersenkungen für richtig. Aber wenn man dann – wie das in den letzten Jahren zunehmend geschehen ist; das ist etwas, was wir gerade in der großen Koalition gemeinsam zu beenden versuchen – immer mehr Lasten der Sozialsysteme zusätzlich in das

Steuersystem verlagert, dann bedeutet die niedrige Steuerquote, dass mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts in Wahrheit Sozialabgaben ersetzt, weil es in Wahrheit Rente ist. Dazu kommen nochmals 40 Milliarden c, also die Hälfte, sodass Sie bei fast 50 % des gesamten Bundeshaushaltes sind, den Sie für Dinge ausgeben, die mit der Steuerquote eines Landes, wie etwa der Vereinigten Staaten von Amerika oder Großbritannien, in der Form eigentlich nichts zu tun hat.

Auf diese Weise entsteht das Problem dieses Bundeslandes, nämlich dass wir uns fragen müssen: Kürzen wir bei den Lehrern, bei der Hochschule, bei der Polizei, bei der Justiz, oder nehmen wir hin, dass wir in dieser Haushaltssituation mit den vorhandenen Einnahmen nicht auskommen? Das ist die Ausgangsposition der deutschen Bundesländer heute.

(Norbert Schmitt (SPD): Das nehmen Sie hin!)

Deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle auch sehr klar: Es ist notwendig, dort eine Neudefinition herbeizuführen. Den Kollegen von der FDP sage ich, man muss nach meiner Ansicht aufpassen, dass man die Bewusstseinsspaltung zwischen Regierungsbeteiligung hier und Oppositionsrolle dort nicht überzieht.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Wo ist eine Bewusstseinsspaltung?)

Wenn ich sehe, wie der neue stellvertretende Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen argumentiert,

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Guter Mann!)

wenn ich sehe, wie der stellvertretende Ministerpräsident von Niedersachsen argumentiert, dann ist es doch in gewisser Hinsicht notwendig, einfach die Realität ein Stück weit anzuerkennen. Das war auch das Problem der Diskussion des Bundeshaushalts. Der Bundeshaushalt ist nicht innerhalb eines Jahres sanierbar.

(Lachen des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Leider Gottes ist das objektiv ausgeschlossen.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Im September hat Roland Koch noch anders gesprochen!)

Der Antrag, dafür die nationale Erdölreserve aufzulösen, ist – bei aller Freundschaft – zwar ein hilfreicher Hinweis. Das muss auch gemacht werden. Aber bei den Menschen die Illusion zu erwecken, das sei kurzfristig möglich, ist nicht redlich, denn das ist durch die Zahlen nicht gedeckt.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Na, na, na!)

Das ist wohlfeil, aber es ist nicht möglich. Deshalb werden wir an dieser Stelle und an diesem Punkt die Auseinandersetzung suchen müssen. Ich sage das so klar, weil die Selbstgewissheit, mit der da mit Zahlen gearbeitet wird – wenn man da nachliest, wie zwei und zwei zu vier gemacht wird, was im richtigen Leben einfach nicht aufgeht – dem Problem leider Gottes nicht gerecht wird.

Ich kann nicht gleichzeitig an jeder Stelle sagen, wie wichtig Bildung, Hochschulwesen, Sicherheit und die anderen Leistungen sind, andererseits aber hergehen und sagen, die verschwenden das Geld. Nein, wir müssen die Ausgaben und Einnahmen wieder zusammenbekommen.

Deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle erneut: Auch an dieser Stelle ist,so schwierig und kompliziert es für uns ist, diese große Koalition auch eine Chance. Denn sie bringt die Dinge wieder auf ein normales Verhältnis.

Letzte Bemerkung. Jedenfalls die CDU und die hier von ihr getragene Regierung haben es an einem Punkt leicht: Wir haben den Wählerinnen und Wählern vor der Bundestagswahl – sehr im Unterschied zur FDP, das ist völlig in Ordnung – sehr klar gesagt, wir halten es für ausgeschlossen, die Staatsfinanzen ohne eine Steuererhöhung wieder in Ordnung zu bringen. Wir haben das für ausgeschlossen gehalten.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Aber die Mehrwertsteuer sollte nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt werden!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,dieses Problem ist sicherlich bei dem, was wir uns angeschaut und heute als gemeinsame Analyse gewonnen haben, noch sehr viel schlimmer geworden. Dies jetzt in Ordnung zu bringen, anstatt den Menschen weiter etwas vorzugaukeln, was nicht hilft, ist ein schwieriger Prozess – wieder zwischen Selbstfindung und Pawlow, möglicherweise auch ein Stück für uns selbst und in den eigenen Reihen.

Ich glaube, dass das, was jetzt im Finanziellen geschieht – sowohl für den Bundeshaushalt als auch für die Landeshaushalte – erstmals eine Chance ist, zu einer soliden Basis zurückzukommen. Es ist auch eine Chance, dass im Bundeshalt wie in den Länderhaushalten die jeweils nächste Regierung nicht mehr hinter defizitären Haushalten herlaufen wird, sondern wenigstens wieder auf den Punkt kommen kann – und das ist in dieser Krisenlage ein verdammt ehrgeiziges Ziel –, die Haushalte im Rahmen der Verfassung abzuschließen. Denn die Lage in der Bundesrepublik Deutschland ist dramatisch. Es ist zurzeit nicht möglich, kurzfristig in die Grenzen der Verfassung zurückzukehren. Das ist – im Konflikt mit den Sozialdemokraten – durchaus auch ein Stück Erbe von Rot-Grün, das wir übernehmen, im Bundeshaushalt und in den Länderhaushalten.

(Widerspruch des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Ich glaube, es ist möglich, dieses Erbe in einer Wahlperiode zu beseitigen. Auch das empfinde ich durchaus als eine Chance für Deutschland und für Hessen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Ich darf die Geschäftsführer der Fraktionen zu mir bitten.

(Die vier Geschäftsführer begeben sich zum Präsi- denten und beraten.)

Meine Damen und Herren, ich habe mich gerade mit den Geschäftsführern abgestimmt, denn der Ministerpräsident hat doch etwas länger gesprochen, und es liegt auch noch eine Wortmeldung vor.

Frau Kollegin Wagner, in der Aktuellen Stunde dürfen Sie zu einem Punkt sowieso nur einmal sprechen. Deshalb kann ich Ihnen das Wort gar nicht mehr erteilen. Die vier Geschäftsführer sind sich einig, dass es keine zweite Runde gibt.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Frau Kollegin Wagner, ich kann es Ihnen nur so mitteilen. Sie dürfen sowieso nicht sprechen.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Damit bin ja einverstanden!)