Jetzt zur Sache, genau. – Die Lobeshymne auf die Agenda-2010-Politik, die uns heute präsentiert wurde,
war eine bewusste Verkürzung auf die Hartz-Reformen, und selbst davon wurden nur die Änderungen der HartzIII- und Hartz-IV-Reformen von Frau Ministerin Lautenschläger angesprochen. Nun weiß ich nicht, Frau Ministerin, wie ich Ihre Rede einordnen soll. Fast war ich nach dem Lesen des Manuskripts versucht, sie als Angebot an eine Große Koalition zu verstehen, wenn Sie die Agendapolitik der ehemals rot-grünen Bundesregierung so loben. Aber vielleicht lobten Sie nur den Anteil,den der kleinere Koalitionspartner daran hat.
Nach Ihrer Rede ist mir aufgefallen, Sie wollten offensichtlich nur auf Ihre eigenen hessischen Beiträge dazu verweisen. Deshalb wundert es mich, was Sie, meine Damen und Herren, mittlerweile alles unter Agendapolitik subsumieren: also sozusagen ein Wettbewerb, ein Run darauf, den ich nicht nachvollziehen kann.
Auf jeden Fall war Ihre Darstellung höchst unvollständig. Deshalb möchte ich uns allen nochmals in Erinnerung rufen, welche sogenannten Reformen mit der Agenda 2010 verbunden sind.
Da haben wir zunächst die Gesundheitsreform. Durch sie wurde 2006 der Beitrag der Arbeitnehmer zum Krankengeld um 0,5 Prozentpunkte einseitig erhöht, und die Arbeitgeber mussten fortan nicht mehr bezahlen. Dann wurde die Zuzahlung bei Arzneimitteln und bei Heilmitteln massiv erhöht und eine Praxisgebühr pro Arzt und Quartal eingeführt. Gleichzeitig wurden die Leistungen bei Zahnersatz reduziert. Gänzlich gestrichen wurden in diesem Zusammenhang das Sterbegeld und die Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung für schwer Gehbehinderte.
Meine Damen und Herren, die Rentenreform brachte weitere Verschlechterungen für die davon Betroffenen. So fiel als Erstes die Rentenerhöhung 2004 völlig aus. Der vorzeitige Rentenbeginn nach Arbeitslosigkeit oder Altersteilzeit oder für Schwerbehinderte wurde vom 60. auf das 63. Lebensjahr erhöht, natürlich mit entsprechenden Abschlägen. Das Rentenalter wird seitdem kontinuierlich vom 65. auf das 67. Lebensjahr angehoben – ein gigantisches Rentenkürzungsprogramm, welches die Altersarmut in den kommenden Jahren verdoppeln wird.
Aber damit noch lange nicht genug. So müssen ab 2004 Rentnerinnen und Rentner nicht mehr den halben, sondern den vollen Beitragssatz von 1,7 % in die Pflegeversicherung einzahlen. Gleiches gilt natürlich für den vollen Beitragssatz bei Betriebsrenten. Die Steuerreform war eine weitere Glanzleistung mit durchschlagendem Erfolg.
So wurden die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer zunächst von 48,5 % auf 45 % reduziert, um dann nochmals auf 42 % gesenkt zu werden,um dann jüngst bei einem kleinen Teil als sogenannte Reichensteuer bei sehr hohen Einkommen wieder auf 45 % angehoben zu werden.
Eine Gegenfinanzierung dieser Maßnahme erfolgte durch Kürzungen bei der Pendlerpauschale für Arbeitnehmer und bei der Eigenheimzulage. Da die Bundesregierung den Steuerhinterziehern, die ihr Vermögen jahrzehntelang ins Ausland geschafft haben, entgegenkommen wollte, wenn sie es bis März 2005 nachdeklarierten, wurden sie auch noch belohnt, indem sie 25 % und damit nur die Hälfte an Steuern zahlen mussten. So wurde der Straftatbestand der Steuerhinterziehung auch noch gewinnbringend legalisiert.
Dieser konsequenten Politik der Umverteilung von unten nach oben folgte die ebenso konsequente Unternehmensteuerreform, die zu weiteren Einnahmeverlusten von mindestens 30 Milliarden c pro Jahr führte. Hätten wir die Steuergesetzgebung aus dem Jahre 1997, dann flössen in die öffentlichen Haushalte jährlich zusätzlich 60 Milliarden c.
Gleichzeitig wurde der Meisterzwang in der Handwerksordnung bei 53 von 94 Berufen abgeschafft und der Kündigungsschutz in Kleinbetrieben geschliffen – alles mit dem Versprechen, die Arbeitslosenzahlen bis 2005 – bis 2005! – um 2 Millionen zu halbieren. Was daraus geworden ist, das wissen wir alle, meine Damen und Herren.
Doch kommen wir zur heute schon viel gepriesenen Hartz-Gesetzgebung. Sie beinhaltet zunächst mit Hartz I die Ausweitung der Leiharbeit.Diese Maßnahme ist so erfolgreich, dass sich die Zahl der Leiharbeitnehmer in den letzten vier Jahren auf rund 800.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als verdoppelte. Darüber hinaus fanden die Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten von Arbeitsverhältnissen älterer Arbeitnehmer und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelung statt. Heute gibt es für Langzeitarbeitslose faktisch keinerlei Zumutbarkeitsregelungen mehr. Diese Maßnahme ist ein Kernstück unsozialer Arbeitsmarktpolitik, die der Lohndrückerei Tür und Tor öffnete.
Mit Hartz II wurden die sogenannten Ich-AGs – von Ihnen schon angesprochen – eingeführt. Das war ein Programm zur Förderung der Selbstständigkeit, welches einige Zeit später wegen der hohen Zahl der Mitnahmeeffekte sang- und klanglos wieder eingestellt wurde. Statt alle Arbeitseinkommen der Sozialversicherungspflicht zu unterwerfen, wie es die Gewerkschaften schon seit vielen Jahren zu Recht fordern, wurden wieder sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bis zu 400 c pro Monat eingeführt. Diese Beschäftigungsverhältnisse sollten vorzugsweise in Privathaushalten entstehen. In kürzester Zeit wurden so mehr als 1 Million Arbeitnehmer zusätzlich in Minijobs beschäftigt, und reguläre Arbeitsplätze fielen weg.
Mit der Hartz-III-Reform wurde eine Neustrukturierung der Arbeitsverwaltung vorgenommen, und die Arbeitsämter wurden zu sogenannten Jobcentern.
In dieser Phase entstanden auch die sogenannten Optionskommunen; daran war die Hessische Landesregie
rung über den Bundesrat beteiligt. Im Übrigen war die Umstrukturierung der Arbeitsverwaltung in Richtung Arbeitsagentur zu diesem Zeitpunkt gar nichts Neues. Das war nämlich schon im Jahre 2000 durch das Programm „Arbeitsamt 2000“ von der Gewerkschaft ÖTV maßgeblich mit angestoßen und umgesetzt worden.
Ich verstehe die Diskussion über Argen und Optionskommunen, wie sie heute hier geführt wird, überhaupt nicht. Ein regionaler Arbeitsmarkt ist immer ein eingeschränkter Arbeitsmarkt. Insofern ist es notwendig, dass überregionale Arbeitsmarktpolitik tatsächlich stattfindet und greift, damit die Leute nicht in Arbeitsverhältnisse gezwungen werden,die regional zu schaffen möglich ist,sondern nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten, möglicherweise auch entsprechend ihren Qualifikationen eingesetzt werden können. Danach ist die Frage zu beurteilen, ob man regionale oder überregionale Arbeitsmarktpolitik betreiben will – nicht nach der reinen Frage, ob die Grenze auf Kreisgebiet, auf Landes- oder auf Bundesebene gezogen werden soll.
Das Kernstück der Agendapolitik ist und bleibt jedoch die Regelung nach Hartz IV, die Hartz-IV-Gesetzgebung mit der Einführung des Arbeitslosengeldes I und des Arbeitslosengeldes II. Wurde vormals ein Arbeitnehmer langzeitarbeitslos,so hatte er einen Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld bis zu 32 Monaten – bei über 55Jähringen. Mit der Neuregelung des Arbeitslosengeldes II wurde und wird die Dauer der Zahlung auf maximal 12 bzw. 18 Monate reduziert, ganz gleich, ob ein Arbeitnehmer zuvor fünf oder 35 Jahre lang regelmäßig Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.
Diese brutalstmögliche Arbeitsmarktpolitik bezeichnen Sie, Frau Ministerin Lautenschläger, als „konsequentes Fordern und Fördern“ und als einen „aktivierenden Sozialstaat“. Das ist für mich Zynismus pur. Die viel gepriesene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mag verwaltungstechnisch sicherlich als Fortschritt angesehen werden; bürgerfreundliche Strukturen sehen jedoch anders aus, denn mit dieser Zusammenlegung fielen die bisherigen Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes, z. B. Beihilfen in besonderen Lebenslagen, gänzlich weg.
Seit dieser Zeit gibt es Hunderttausende Sozialgerichtsverfahren und Auseinandersetzungen um Leistungskürzungen und Mehrbedarf. Die Beratungseinrichtungen für Erwerbslose können täglich davon berichten, mit welch eiserner Hand gerade in den Optionskommunen berechtigterweise beantragte Leistungen oftmals verweigert werden. Ein Erwerbslosenverein berichtete mir jüngst, dass er in 90 % seiner Klagefälle obsiegt bzw. die Forderung vor Gericht zugestanden wird. Angesichts dieser Situation sprechen Sie, Frau Ministerin, von „notwendiger Nähe zu den Menschen“.
Darüber hinaus wurden die sogenannten 1-c-Jobs geschaffen, wovon derzeit bundesweit über 300.000 Beschäftigte – die übrigens in den Statistiken nicht mehr als arbeitslos gelten – betroffen sind. Weil der Regelsatz von 351 c nicht ausreicht, um auch nur die minimalen Bedürfnisse zu befriedigen, werden entsprechende Angebote von den Arbeitslosen in der Hoffnung auf Übernahme in ein festes Beschäftigungsverhältnis angenommen. Die 1-c-Jobber sollen, so steht es im Gesetz, zusätzliche Aufgaben, die es bisher nicht gegeben hat, in Bereichen öffentlichen Interesses übernehmen. Hiergegen wurde jedoch von Anfang an bewusst verstoßen. So wurden und werden z. B. im öffentlichen Dienst Stellen, z. B. in der Grünflächenbewirtschaftung, zunächst gestrichen,
um sie später mit 1-c-Jobbern zu besetzen. Besonders in öffentlichen Betrieben werden diese Arbeitnehmer – auch in Konkurrenz zu den örtlichen Handwerksbetrieben,z.B.im Reinigungsgewerbe – gesetzwidrig eingesetzt. Weil sich dies nicht mehr verheimlichen lässt, wurden die Missbrauchsquoten von 25 % sogar öffentlich zugestanden. Gegen den Missbrauch wurde bisher aber nichts unternommen.
In Deutschland gibt es derzeit über 7 Millionen Menschen mit Hunger- und Niedriglöhnen. 2006 mussten 5,5 Millionen Beschäftigte für weniger als 7,50 c pro Stunde arbeiten. Die Zahl der Betroffenen steigt rapide; zwei Jahre zuvor waren es noch 1 Million Beschäftigte weniger. Für Löhne unter 5 c pro Stunde arbeiten derzeit rund 2 Millionen Menschen.Von diesen geringen Löhnen sind vor allem Frauen betroffen. 70 % der Beschäftigten mit einem sogenannten Minijob und 40 % aller unter 25-Jährigen müssen sich auf Löhne unter 7,50 c pro Stunde einlassen. Rund 3 Millionen Menschen verdienen so wenig, dass sie eigentlich einen Rechtsanspruch auf zusätzliche Leistungen nach dem Arbeitslosengeld II haben. Doch nur 1,2 Millionen nehmen diese zusätzlichen Leistungen tatsächlich in Anspruch. Vielen wird eine Zuzahlung verwehrt,weil ihr sogenanntes Schonvermögen höher ist.Andere schämen sich schlichtweg, zum Amt zu gehen. Sogar mehr als 500.000 Vollzeitbeschäftigte erhalten zusätzliche Leistungen nach dem Arbeitslosengeld II. Dies ist die Wirklichkeit der Agendapolitik. Deshalb brauchen wir einen existenzsichernden, allgemein verbindlichen, gesetzlichen Mindestlohn.
Alle diese Maßnahmen führten dazu,dass die Lohnpolitik der Gewerkschaften erheblich geschwächt wurde. Dies ist der wahre Grund dafür, dass sich die Einkommen in Deutschland – anders als in vergleichbaren Staaten der EU – negativ entwickelten.
Erstens. Das angebliche Mehr an Arbeitsplätzen, das Sie beschrieben haben, sieht in Wirklichkeit so aus, dass von 2003 bis 2008 nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Arbeitsagentur mindestens 900.000 Vollzeitarbeitsplätze weggefallen sind. Hinzugekommen sind 300.000 1-c-Jobs, 400.000 Leiharbeitnehmer, 500.000 ausschließlich in Minijobs Tätige und 1,2 Millionen Teilzeitbeschäftigte. Dies alles erklärt, warum wir in Europa Spitzenreiter mit mehr als 20 % Beschäftigten im Niedriglohnbereich geworden sind.
Zweitens. Das Wirtschaftswachstum ist in der gegenwärtigen Aufschwungphase im Übrigen genauso hoch wie im letzten Zyklus von 1998 bis 2001.
Drittens. Die Beschäftigung ist sogar schwächer gestiegen. Zugenommen haben vor allem die Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse, z. B. Leiharbeitsverhältnisse, der Umfang befristeter Beschäftigung und die Zahl der Minijobs.
Viertens. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist in stärkerem Maße der demografischen Entwicklung geschuldet. Aufgrund von Veränderungen in der Arbeitslosenstatistik tauchen darüber hinaus 3 Millionen Arbeitslose gar nicht mehr auf.
Fünftens. Der Skandal bei dieser Entwicklung ist jedoch, dass die Löhne in den letzten drei Aufschwungjahren um 4 % gesunken sind, während sie zwischen 1998 und 2001 noch um 3,5 % angestiegen sind.
Sechstens. Aufgrund dieser Politik leben – das ist unbestritten – doppelt so viele Kinder in Armut wie in der Vergangenheit.
Die Reform von Hartz wird von den Menschen mit Sozialabbau, Ängsten vor sozialem Abstieg und der Schaffung prekärer Lebensverhältnisse verbunden. Deshalb muss Hartz als Begriff und als Reform von der politischen Agenda verschwinden.
Den Aufschwung und die Agenda 2010 schönzureden ist zynisch. Wir brauchen höhere Einkommen und sichere Jobs. Wir brauchen eine gerechte Umverteilung von Reichtum und Armut.
Frau Müller-Klepper, wenn Sie wiederum die Aussage „Sozial ist,was Arbeit schafft“ in die Debatte werfen,sage ich Ihnen: Das gilt nur für Arbeit in Würde, unter angemessenen Arbeitsbedingungen und bei einem gerechten Lohn; denn nur durch Arbeit werden Werte geschaffen, nicht aber durch Spekulationen und Roulettespielen an den Weltbörsen.
Nur dann haben alle etwas vom Wachstum. Deshalb bleiben wir dabei: Die unsägliche Agendapolitik darf nicht fortgesetzt werden. Insbesondere Hartz IV muss weg.
Danke schön, Herr Schaus. – Frau Schott, Sie haben jetzt die Gelegenheit, zehn Minuten lang Ihre Position darzulegen. Bitte schön.
Den Gefallen werde ich Ihnen nicht tun.– Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn wir hier über die Agendapolitik sprechen wollen,müssen wir vor allem über eine breit in der Gesellschaft verankerte Armut reden. Wenn 22 % der Beschäftigten im Niedriglohnsektor arbeiten, ist das alarmierend. Wenn wir von über 1 Million neuen Arbeitsplätzen sprechen und dabei ausklammern,
dass 1 Million Menschen arbeiten, die trotz ihrer Beschäftigung Transferleistungen beziehen müssen, nehmen wir die Realitäten dieser neuen Arbeit nicht wahr. Die Realität ist: keine Teilhabe am kulturellen Leben, eingeschränkter Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen, verstärkte Altersarmut, geringe Mobilität, keine Teilhabe am lebenslangen Lernen und schlechte Bildungschancen für die Kinder der Betroffenen.