Protokoll der Sitzung vom 11.11.2008

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! In unserer Verfassung steht, dass wir Abgeordneten unserem Gewissen unterworfen sind. Indem wir uns der Regierungsbildung unter Beteiligung der Linkspartei verweigert haben, haben die Kolleginnen Everts,Tesch und Metzger sowie ich eine solche Gewissensentscheidung getroffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann diese Entscheidung für falsch halten. Man kann die Konsequenzen dieser Entscheidung hart kritisieren. Was wir uns aber nicht absprechen lassen, ist, dass wir diese Entscheidung aus tiefster Überzeugung und ausschließlich aus tiefster Überzeugung getroffen haben. Wer uns andere Motive unterstellt, der sagt dabei mehr über sich selbst aus als über uns.

(Beifall der Abg.Dr.Carmen Everts,Dagmar Metz- ger und Silke Tesch (SPD) sowie bei der CDU und der FDP)

Heute wissen wir vier Abgeordneten, dass wir unsere Mandate nicht werden behalten können.Wir wissen, dass

wir dem nächsten Landtag nicht mehr angehören werden. Es ist uns nicht mehr möglich, parteiintern zu kandidieren. Es ist uns parteiintern nicht einmal mehr möglich, auf einer Veranstaltung eine Rede zu halten. In der Presse habe ich gelesen, man könnte sozusagen als Nichtparteimitglied antreten. Diese Konstruktion würde bedeuten, man müsste erst austreten, um innerhalb der SPD zu kandidieren. Das ist erkennbar Unfug.

(Norbert Schmitt (SPD): Die Behauptung ist falsch!)

Aber wir würden alle vier heute wieder genauso entscheiden, weil dies eben unserer Überzeugung entspricht und weil wir der Auffassung sind, dass Abgeordnete in wesentlichen Fragen nicht gegen ihre Überzeugung handeln sollten.

(Beifall der Abg.Dr.Carmen Everts,Dagmar Metz- ger und Silke Tesch (SPD) sowie bei der CDU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Everts hat eben dargelegt, warum wir nicht wollen, dass DIE LINKE Einfluss auf die Regierung in diesem Lande bekommt. Ich möchte noch einen Punkt hinzufügen. Herr Kollege Schaus,wenn ein veritabler Vizepräsident dieses Landtags eine Gewissensentscheidung von vier Abgeordneten mit den Worten kommentiert: „diese Schweine“, weiß ich, dass meine Entscheidung richtig war.

(Anhaltender lebhafter Beifall der Abg. Dr. Car- men Everts, Dagmar Metzger und Silke Tesch (SPD) – Beifall bei der CDU und der SPD)

Wenn sich dieser Landtag heute vorzeitig auflöst, sind hierfür nicht allein vier Abgeordnete verantwortlich.Verantwortlich sind vielmehr vier demokratische Parteien, die es in den letzten zehn Monaten nicht geschafft haben, auch nur ein einziges Mal ernsthaft über die Bildung einer stabilen Regierung miteinander zu sprechen.

Es ist allseits bekannt – manche in diesem Hause sind auch ein Stück weit stolz darauf –, dass die Gräben zwischen den politischen Lagern in unserem Bundesland Hessen tiefer sind als im Rest der Republik. Der Landtag in Hessen gilt als das härteste Parlament in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben in Hessen die härteste Opposition erlebt, die noch aus der kleinsten Petitesse einen „unglaublichen Vorgang“ machen konnte. Wir kennen die „brutalstmögliche“ Regierung, die den Staat als ihre Beute behandelte, die es zu verteidigen galt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leisten uns in Hessen seit Jahren, ja seit Jahrzehnten eine politische Streitkultur, die nur wenig mit dem legitimen und wichtigen demokratischen Wettbewerb um die besten Ideen und Lösungen zu tun hat.Vielmehr setzen sich die beiden großen Volksparteien,aber auch die beiden politischen Lager insgesamt, mit einer Härte und Unversöhnlichkeit auseinander, die die Menschen nicht mehr nachvollziehen können, die die Menschen nicht mehr nachvollziehen wollen. Ich meine, wir meinen, dass dies im Kern das berührt, was wir als Politik- und Politikerverdrossenheit beschreiben.

Herr Hahn, ich nehme Sie als Beispiel. Ich könnte auch über meine Partei reden. Aber es gilt der Anwaltsgrundsatz: Im laufenden Verfahren muss man nicht noch Argumente liefern. Deswegen nehme ich die FDP.

(Lachen des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

In Ihrer Rede führen Sie aus, dass Sie stolz darauf sind, dass sich die FDP nicht mit der SPD an einen Tisch gesetzt

hat, um über eine Regierungsbildung zu verhandeln. In der gleichen Rede loben Sie unseren ehemaligen Parteiund Fraktionsvorsitzenden Gerhard Bökel mit den Worten: „Gerhard Bökel hat mit allen gesprochen.“ Lieber Herr Kollege Hahn, entweder ist es eine besondere Adelung, dass man nicht mit den Kollegen spricht, oder aber es ist richtig, mit den Kollegen zu sprechen.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP): Das war Anwaltsrabulistik!)

Meine Auffassung ist, dass man sich an einen Tisch setzen muss. Auch Sie hätten sich an einen Tisch setzen müssen, um eine Regierungsbildung zu versuchen.Wenn am Ende keine herauskommt, darf man keine Regierung bilden.

Herr Kollege Hahn, dass Sie der Sozialdemokratischen Partei jedes Gespräch verwehrt haben, fällt auf Sie und Ihre Fraktion zurück.

(Beifall der Abg.Dr.Carmen Everts,Dagmar Metz- ger, Silke Tesch und Marius Weiß (SPD))

Liebe Kolleginnen und Kollegen,die „FAZ“ kommentiert in ihrer Ausgabe vom 08.11. die hessischen Verhältnisse als „einen Rückfall in die Kinderkrankheiten der deutschen Demokratie“. In Hessen, so heißt es, werde „ein Kampf des Lichts gegen die Finsternis geführt, in dem der Wille, den Gegner zu vernichten, an die Stelle des Wettbewerbs um die Gunst der Wähler“ getreten sei.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin lange genug in der Politik,um zu wissen,dass es in keiner Partei nur Licht oder nur Schatten gibt.Wer dies dauerhaft bestreitet, wer in der Politik dauerhaft nur seine eigene Meinung gelten lässt, der kann noch so große Reden halten, er bleibt doch sprachlos.

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Klaus Bölling hat kürzlich an einen Satz von Herbert Wehner erinnert. Herbert Wehner hat gesagt, dass die innenpolitische Gegnerschaft in der Demokratie belebend sein kann. Wenn diese Gegnerschaft aber in ein Feindverhältnis übergeht, dann tötet dies Demokratie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade in schwierigen Zeiten erwarten die Menschen von der Politik und uns Politikern, dass wir nicht nur den gelegentlich schwungvollen Wettstreit um die besseren Lösungen führen; die Menschen erwarten auch konstruktive Zusammenarbeit im Interesse dieses Landes. Meine Auffassung ist, dass dieses Haus in den letzten Monaten an dieser Herausforderung gescheitert ist. Wir wünschen dem nächsten Landtag und den nächsten Abgeordneten in diesem Landtag bei diesen Aufgaben mehr Erfolg und eine glücklichere Hand. – Vielen Dank.

(Beifall der Abg.Dr.Carmen Everts,Dagmar Metz- ger und Silke Tesch (SPD) sowie bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gemäß Art. 80 unserer Hessischen Verfassung bedarf es für einen Beschluss des Hessischen Landtags,

sich selbst aufzulösen, mehr Stimmen als die Hälfte der Zahl der gesetzlichen Mitglieder, also 56. Diese Zahl ist uns in Fleisch und Blut übergegangen.

Deswegen stelle ich diesen Antrag zur Abstimmung und bitte Sie nach meiner Feststellung, was wir da angerichtet haben, noch sitzen zu bleiben.

Drucks.17/765,Antrag der Fraktionen der CDU,der SPD, der FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE betreffend Selbstauflösung des Hessischen Landtags gemäß Art. 80 der Hessischen Verfassung lautet:

Der Landtag wolle beschließen:

Der Hessische Landtag löst sich gemäß Art. 80 der Hessischen Verfassung selbst auf.

Wer diesem Antrag seine Zustimmung erteilen kann, den bitte ich um das Handzeichen. – Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? – Meine Damen und Herren, dann stelle ich fest, dass dieser Antrag einstimmig angenommen worden ist. Ich stelle fest, dass der Hessische Landtag sich gemäß Art. 80 Hessische Verfassung durch Beschluss mit der erforderlichen Mehrheit selbst aufgelöst hat und damit aufgelöst ist.

Lassen Sie mich trotzdem – unter ehemaligen Kollegen – einige Sätze sagen. Das war die kürzeste Wahlperiode, der wir angehört haben. Meine Damen und Herren, wir sind nun alle keine Abgeordneten mehr, auch wenn einige noch eine Funktion haben, beispielsweise im Hauptausschuss.

Eine Kollegin hat entschieden, dass sie ihre Tätigkeit jetzt beenden will. Ich möchte sie in diesem Rahmen mit Dank verabschieden. Liebe Frau Pfaff, Sie haben eine Entscheidung getroffen und wollen nicht mehr zurückkehren. Ich danke Ihnen für die vielen Jahre guter Arbeit im Hessischen Landtag und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Damen und Herren, auch für die Öffentlichkeit: Das, was wir hier gemacht haben, ist eine Ausnahme und keine Anomalie. Die Hessische Verfassung ist sehr klar, das gilt es zu betonen.Es war kein Weg,den das Parlament bestritten hat, nach dem Motto: Es passt uns das Ergebnis nicht, wir lassen neu wählen. – Es war ein sehr langer Prozess, Sie haben die Debatte verfolgt. Ich glaube, in diesen wenigen Monaten haben wir vor dem Hintergrund der politischen Spannungen, die das Ergebnis mit sich gebracht hat, eine Zeit erlebt,die sachlicher verlaufen ist, als es außerhalb des Parlaments erwartet worden ist. Dafür möchte ich Ihnen allen danken. Es wird nie ganz ausgehen,ohne dass es auch einige Kratzer gibt.Im Großen und Ganzen bin ich mit Ihnen – das darf ich so sagen – zufrieden gewesen.

Meine Damen und Herren, man übt auch neue Strukturen. Wir haben keine Abgeordneten mehr, und trotzdem rede ich zu Ihnen. Ich will ein Weiteres sagen: Ich glaube, dass ich nachempfinden kann, wie es in dem einen oder anderen, egal welcher Fraktion, aussieht. Ich habe 1983 eine gleiche Situation mitmachen müssen. An all diejenigen, die mit dem Wahltag 27. Januar hier eingetreten sind: Das ist nicht einfach. Man hat das Parlament erreicht und darauf lange hingearbeitet. Nun stellt man sich die Frage, ob man wiederkommt. Das ist so. Es sind Menschen hier, die wissen nicht, ob sie wiederkommen. Es gibt einige, die draußen sind und hoffen, dass sie wieder zurückkommen.

Einige wissen,dass sie auf alle Fälle wieder hier Platz nehmen werden.

Ich möchte allen mitteilen, dass ein jeder von uns weiß, dass es neben dem politischen Kampf ganz einfache Dinge des Lebens sind, das zu erleben und zu verkraften. Deswegen gilt es auch,dies der Öffentlichkeit mitzuteilen. Am Ende ist dies nicht einfach für viele, obwohl jeder, der sich in die politische Arena begibt, weiß, dass die Mandate, die uns die Wähler geben, immer nur auf Zeit sind. Das ist wichtig festzustellen. Das ist kein Trost, aber es ist das Bewusstsein, dass es nicht anders machbar ist.

Ich appelliere an alle politischen Kräfte in Hessen, den Wahlkampf, der nach den Festtagen in aller Kürze und aller Heftigkeit kommen wird, so zu gestalten, dass schwere Verletzungen ausbleiben. Ich appelliere an alle, dies entsprechend zu beachten.

Ich hoffe, dass Sie im Dezember und über die Festtage trotz vieler Vorbereitungen, vieler Hektik und Terminlagen Zeit für die Dinge außerhalb unseres politischen Tuns

haben. Ich kann Ihnen Mitte November noch keine frohen Weihnachten wünschen. Ich hoffe jedenfalls, dass das gelingt.

Meine Damen und Herren, die Christen in diesem Land begehen heute den Buß- und Bettag. Für uns – ob Christen oder Nichtchristen – sind das Innehalten und die Frage, sich bußhaft zu verhalten und darüber nachzudenken, vielleicht nicht die schlechteste Sache, den heutigen Tag zu beenden, wo immer Sie das auch tun werden.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten Wochen. Ich hoffe, dass es so gelingen mag, wie es sich jeder vorstellt. Ich bedanke mich für die heutige Art der Debatte und der Toleranz gegenüber denen, die hier gesprochen haben.

Der Landtag ist aufgelöst. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles Gute.

(Allgemeiner Beifall – Schluss: 16.18 Uhr)