Protokoll der Sitzung vom 12.05.2009

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem, fast möchte ich sagen, historischen, Jahr gibt eine Reihe großer und wichtiger Jubiläen Anlass zum Feiern, aber auch zum Nachdenken:

Vor 90 Jahren trat die erste republikanische Verfassung in Deutschland in Kraft,20 Jahre später,1939,ging von deutschem Boden der Zweite Weltkrieg aus.

Am 23. Mai feiern wir den 60. Geburtstag unseres Grundgesetzes und blicken zurück auf 30 Jahre Direktwahl des Europäischen Parlaments.

Vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer – Auswirkung und sichtbares Zeichen der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst dieser Fall machte den Beitritt von acht mittelosteuropäischen Staaten sowie Malta und Zypern vor fünf Jahren möglich.

5 Jahre, 20, 30, 60, 90 – meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, dies macht uns sehr deutlich, dass die Geschichte der Freiheit und die Geschichte des Friedens in Europa ein immerwährender Prozess ist.

Vor zehn Jahren, am 1. Januar 1999, wurde der Euro als Buchgeld eingeführt. Von vielen Bürgerinnen und Bürgern auch in Deutschland zunächst mit Skepsis verfolgt, hat sich dieser in den letzten Jahren zu einer stabilen Währung entwickelt, die in der heutigen Finanz- und Wirtschaftskrise von ganz besonders großem Nutzen ist.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Europäische Union der Rahmen ist, in dem wir Europäer uns seit Jahren bewegen und in Zukunft bewegen werden. Diese Erfolgsgeschichte ist verbunden mit einer Vielzahl von Beitritten. Von zunächst sechs Mitgliedstaaten ist die Europäische Union auf heute 27 angewachsen, und weitere stehen vor den Toren und klopfen an.

Die Geschichte hat auch gezeigt, dass beides – Mauerfall und Osterweiterung der EU – zusammengehört: Die Wiedervereinigung Deutschlands war ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Die deutsche Einheit wäre unvollkommen geblieben, wäre nicht die Einigung Europas gefolgt.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Diese wichtigen Wegmarken erinnern uns nicht nur daran, dass freie Wahlen als Grundelement einer demokratischen Verfassung in Deutschland und in Europa nicht immer möglich und selbstverständlich waren. Sie machen uns vielmehr deutlich, was der europäische Integrationsprozess uns auch in Deutschland gebracht hat. Für Deutschland und den Kontinent ist die Europäische Union ein Garant für Frieden, Freiheit, politische Stabilität, Sicherheit und Wohlstand, für Menschenrechte und für die Menschenwürde.

Auch wenn die Geschichte der Europäischen Union mit einer Wirtschaftsunion begann und heute bei vielen der Blick sich wieder auf die Wirtschaft zu verengen scheint, so ist doch die Union weit mehr als nur eine Wirtschaftsunion: Sie ist eine Werte- und Kulturgemeinschaft. Europa hat seine Identität in einem von Christentum, Humanismus und Aufklärung geprägten Menschenbild, und es hat seinen Kern in der Würde und Einzigartigkeit des Individuums, in seiner Freiheit, selbst über sein Schicksal zu bestimmen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Die Diskussionen, die ich in den letzten Tagen insbesondere mit jungen Menschen geführt habe, haben gezeigt, dass viele die Werte, für die die Europäische Union steht, nicht mehr richtig kennen. Deshalb ist es gerade in einem Jahr, in dem die Bürgerinnen und Bürger aufgefordert sind, ihre, unsere Vertreter in das Europäische Parlament zu wählen, wichtig, an diese Werte zu erinnern und auf die großen Errungenschaften Europas hinzuweisen.

Sehr verehrte Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal einen Schritt zurückgehen und einen Blick auf die Anfänge der Europäischen Union werfen.

Denken wir einen Moment an Robert Schuman,Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer: die Gründerväter der Europäischen Union. Diese versprachen sich durch eine gemeinsame Kontrolle über die Stahl- und Kohleindustrie ein Ende der Kriege und Krisen auf dem europäischen Kontinent. Diese Art des Abgebens von Souveränität an eine Staatengemeinschaft war nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein mutiger

Schritt. Letztlich hat die Geschichte aber gezeigt, dass die Unterzeichnung des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Anfang der Fünfzigerjahre der einzig richtige Schritt war, um langfristig Frieden und Wohlstand in Europa zu sichern.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abge- ordneten der SPD)

Wenn sich in den heutigen Tagen und Wochen der eine oder andere darüber aufregt, dass die Gurken nicht gerade seien,

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aufgehoben!)

die Glühbirnen nicht mehr in die Fassung passen oder was auch immer passieren soll, der Prozentsatz des Salzes im Brot vorgeschrieben wird – meine sehr verehrten Damen und Herren, das alles ist unwichtig gegenüber dem Erfolg, den die Europäische Union hat: seit 60 Jahren Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abge- ordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit ihrer Gründung hat die Europäische Union einen langen Weg zurückgelegt. Sie ist das Modell für das Zusammenwachsen eines ganzen Kontinentes unter dem Banner der Freiheit und der Demokratie. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Grundvoraussetzung für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft der Europäischen Union eine funktionierende Demokratie ist. Für diesen Demokratisierungsprozess innerhalb der Union spielt das Europäische Parlament eine wesentliche Rolle.

Am Anfang der Geschichte des Europäischen Parlaments stand eine Versammlung mit 78 Parlamentariern, die 1952 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl geschaffen wurde. Sie trug nicht den Namen Parlament, sondern den Namen Gemeinsame Versammlung und hatte ausschließlich beratende Funktionen.Ihre Mitglieder wurden nicht direkt gewählt,sondern von den nationalen Parlamenten entsandt.

Mit der Ausweitung einer zunächst reinen wirtschaftlichen Gemeinschaft hin zu einer politischen Union wurden die Kompetenzen des Europaparlaments gestärkt.

Dies führte im Jahre 1979 – vor genau 30 Jahren, meine sehr verehrten Damen und Herren – dazu, dass das Europäische Parlament erstmals direkt von den Bürgerinnen und Bürgern der damals noch neun Mitgliedstaaten gewählt wurde.Man erhoffte sich durch diesen Wahlakt eine verstärkte Anerkennung der europäischen Vereinigung innerhalb der Bevölkerung. Es war ein entscheidender Schritt für die demokratische Legitimation dieses Parlaments.

Heute, im 30. Jahr seiner Direktwahl, ist das Europäische Parlament das größte multinationale Parlament der Welt: Seine derzeit 785 Abgeordneten aus 27 Nationen vertreten rund 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Das Europäische Parlament repräsentiert damit die zweitgrößte Demokratie der Welt und spiegelt die ganze Bandbreite europäischer Kultur und Vielfalt wider.

In Deutschland sind am 7. Juni rund 64,3 Millionen Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, zur Wahl zu gehen. Ich finde es interessant, dass neben den 62,2 Millionen Bundesbürgern auch 2,1 Millionen Unionsbürger anderer Nationalitäten zur Wahl zugelassen sind. Zu den Wahlberechtigten gehören knapp 4,6 Millionen Erstwählerinnen

und -wähler. In Hessen, in unserer Heimat, sind von den rund 4,6 Millionen Wahlberechtigten 220.000 nicht deutsche EU-Bürger. Die größte Gruppe wahlberechtigter EU-Ausländer stellen übrigens die Italiener, gefolgt von den Polen und Griechen. Und es sind fast 290.000 junge Menschen aufgerufen, zum ersten Mal an einer Europawahl teilzunehmen.

Wie im Vertrag von Nizza festgelegt, wird sich das Europäische Parlament nach der diesjährigen Wahl nicht so belassen, wie es ist. Es wird auf 736 Sitze verkleinert. 99 davon entfallen auf deutsche Abgeordnete. Wenn hoffentlich der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, bleibt diese Anzahl, die 99 Sitze, bestehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, welche Bedeutung hat das Europäische Parlament für die Bürgerinnen und Bürger? Europa mischt sich heute ganz konkret in die Lebensbereiche eines jeden Einzelnen ein und bestimmt unser Leben in vielfältiger Form. Es darf den Bürgerinnen und Bürgern deshalb nicht gleichgültig sein,wie diese Fragen der politischen Gestaltung im Entscheidungsprozess nach vorne gebracht werden.

Das Europäische Parlament ist inzwischen in der Gesetzgebung ein politischer Machtfaktor.75 % der EU-Gesetzgebungsverfahren sind mit dem EU-Parlament und dem Ministerrat gemeinsam zu verabschieden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen im hessischen Parlament, wir müssen uns vor Augen führen, dass 70 % der Gesetze, die in unserem Bundesland Anwendung finden, ihre Grundlage im Europarecht haben. 25 % der Gesetze, die in Hessen Anwendung finden, haben ihre Grundlage im Bundesrecht, und nur – in aller Bescheidenheit – 5 % der Gesetze,die Grundlage für die Bürgerinnen und Bürger sind, verabschieden wir im Hessischen Landtag. Ich sage das einmal sehr deutlich, nicht um die Wichtigkeit des Hessischen Landtags zu dokumentieren, sondern um deutlich zu machen: Europa greift in das Leben der Menschen in unserem Lande ganz, ganz heftig ein. Deshalb müssen wir uns als Bürgerinnen und Bürger auch um die Europapolitik kümmern.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie der Abg. Lothar Quanz und Dr. Michael Reuter (SPD))

Hier geht es nicht um abstrakte Dinge,sondern um solche, die den Alltag eines jeden Einzelnen prägen, wie die Qualitätssicherung von Lebensmitteln, die Qualität von Luft und Wasser, die Sicherung von Spielzeug und die Handygebühren für das Telefonat im Urlaub; und ich habe ganz bewusst nur ganz weniges genannt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Europäische Parlament ist zudem ein einflussreicher, nicht zu unterschätzender Akteur im Entscheidungsprozess der Europäischen Union insgesamt. So überwachen unsere Parlamentarierkollegen im Europäischen Parlament das Handeln anderer EU-Institutionen. Dadurch, dass Ministerrat,Kommission und Europäische Zentralbank hier ihr politisches Handeln rechtfertigen müssen, wird die europäische Politik ein großes Stück transparenter, attraktiver und bürgernäher.

(Beifall der Abg. Wolfgang Greilich (FDP) und Axel Wintermeyer (CDU))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es gibt viele gute Gründe für die Europawahl.Der wichtigste Grund ist aber, dass das Europäische Parlament als einzige direkt gewählte EU-Institution die Stimme der Bür

gerinnen und Bürger ist. Über ihren Abgeordneten nehmen wir Bürger direkten Einfluss auf die EU-Politik.

Trotz der steigenden Bedeutung des Europaparlaments haben die Prozentzahlen der Beteiligung an den Wahlen in den letzten Jahrzehnten aber leider kontinuierlich abgenommen. Gingen 1979 noch rund 67 % der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der damals noch neun Mitgliedstaaten zur Wahl, waren es im Jahr 2004 nur noch 43 %. Ich muss Ihnen gestehen, wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass wir in Hessen die rote Laterne in Deutschland getragen haben. In Hessen sind gerade einmal 37,8 % der Bürgerinnen und Bürger bei der letzten Direktwahl zum Europäischen Parlament zum Wählen gegangen. Ich finde, es ist ein Auftrag an uns in der Politik, an die Freunde Europas und an die Medien, dass wir es schaffen, dass die Wahlbeteiligung in wenigen Wochen auch in Hessen wieder auf über 40 % steigt.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie der Abg. Lothar Quanz und Dr. Michael Reuter (SPD))

Um die Bürgerinnen und Bürger für die Arbeit und die Ideen der Europäischen Union zu interessieren und zu mobilisieren, müssen wir konsequente Aufklärung über die EU, ihre Kompetenzen und Institutionen erteilen. Die Hessische Landesregierung begleitet deshalb mit einer Vielzahl von Aktionen die Wahlen zum Europäischen Parlament. Dazu gehört neben Info-Flyern auch die gezielte Ansprache von jungen Erstwählerinnen und -wählern, wie z. B. im Februar der EU-Projekttag an Schulen oder die Vielzahl von Veranstaltungen während der diesjährigen Europawoche, die in der vergangenen Woche begangen worden sind.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Ihnen namens der Landesregierung ausdrücklich danken. Ich habe an vielen Veranstaltungen teilgenommen, und ich habe über viele Veranstaltungen gelesen. Dabei habe ich festgestellt,dass fast immer Mitglieder des Hessischen Landtags anwesend waren und für die Europaidee geworben haben, egal welcher Partei sie angehören.Vielen herzlichen Dank an Sie, die Kollegen.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP)

Das nachlassende Interesse an der Europawahl fällt aber auch zusammen mit einer insgesamt zu verzeichnenden Europaskepsis. Dabei stehen wir angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise vor großen Herausforderungen, die ein deutsches Land wie Hessen, aber auch Mitgliedstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland nicht allein werden meistern können. Das Thema Europa ist daher von entscheidender Bedeutung für die Zukunft unseres Landes.

Lassen Sie mich damit ausführlicher auf die Ziele und Inhalte der hessischen Europapolitik eingehen:

Ein wesentlicher Schwerpunkt unserer Europapolitik wird in den kommenden Monaten die Verbesserung der Europafähigkeit des Landes und die Stärkung der Landesvertretung in Brüssel sein. Europapolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Innenpolitik. Jedes Ressort und jeder Fachausschuss sind von den europäischen Vorhaben betroffen. Es ist daher wichtig, dass in jedem Ressort eine Europakoordination in den Ministerbüros angelegt wird.

Genauso bedeutend ist eine angemessene Repräsentanz in Brüssel. Wir müssen erkennen, dass die europäische Ebene neben der regionalen und nationalen Ebene eine entscheidende Bühne darstellt, auf der wir aktiv sind und unsere hessischen Interessen nachdrücklich wahrnehmen.

Entscheidend sind sowohl ein frühzeitiges und nachdrückliches Auftreten der Hessischen Landesregierung in Brüssel, Luxemburg und Straßburg sowie in Europaangelegenheiten gegenüber der Bundesregierung als auch die Fähigkeit zur Durchsetzung hessischer Interessen durch Nutzung von interregionalen Netzwerken.

Ein weiterer, ein zweiter Schwerpunkt ist die Stärkung der europäischen Dimension des Wirtschafts-, Verkehrsund Finanzstandortes Hessen. Hessen muss seine starke internationale Wettbewerbsstellung als herausragende europäische Wirtschaftsregion mit Frankfurt am Main als internationales Verkehrsdrehkreuz, als Finanzzentrum und bedeutender Versicherungsstandort der Eurozone und Sitz der Europäischen Zentralbank beibehalten.

Um den Finanzplatz Frankfurt am Main zu stärken, hat die Hessische Landesregierung einiges vor:

Erstens. Wir wollen dazu beitragen, dass die europäische Versicherungs- und Finanzaufsicht mit Sitz der neuen europäischen Bankenaufsicht in Frankfurt am Main neu gestaltet wird.