Vor allem konnten es jene Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft wissen, die den Reichspräsidenten Hindenburg dazu drängten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Aber auch wenn es anders war, wer Hitler an die Macht brachte – das waren die führenden Repräsentanten der Reaktionäre und Nationalkonservativen und völkisch-nationalistischen Rechten der Weimarer Republik und ihre Organisation Stahlhelm sowie die NVP im Verbund mit den reaktionärsten Kreisen der deutschen Wirtschaft, der Großlandwirtschaft und auch der Reichswehr –, der wollte in jedem Fall Schluss machen mit allem, wofür die Weimarer Republik stand, nämlich mit der ersten voll entwickelten politischen Demokratie auf deutschem Boden, mit einer bei aller Anfälligkeit der Justiz nach rechts rechtsstaatlichen Ordnung, mit der Garantie der Bürger- und Menschenrechte, mit der prinzipiellen Verpflichtung zu Sozialstaatlichkeit und Sozialpartnerschaft.
Meine Damen und Herren, diese Kreise nutzten die Gelegenheit der tiefen wirtschaftlichen Krise und der daraus resultierenden sozialen und politischen Desorientierung breiter Schichten der Bevölkerung, um sich all diese als Ballast empfundenen Errungenschaften der Revolution vom November 1918 vom Hals zu schaffen. Sie hatten lange Jahre daran gearbeitet, sich all dessen auch ohne Hitler zu entledigen. Denn dieser Machtübertragung war eine weitgehende Aushöhlung der parlamentarisch-demokratischen Ordnung durch das Regime der Notverordnungen unter den Kabinetten Brüning, von Papen und von Schleicher und ein Staatsstreich der Reichsregierung unter Reichskanzler von Papen gegen die verfassungsmäßige Regierung des Landes Preußen vorausgegangen. Es gibt viele, die glauben, dass dies der eigentliche Todesstoß für die Weimarer Demokratie war.
Es fehlte diesen Kräften aber zur endgültigen Zerstörung der Weimarer Demokratie eine Massenbasis, eine zu jedem Verbrechen, zu jeder schändlichen Gewalttat entschlossene Organisation. Dass die NSDAP genau das war, das musste zumindest jedem klar sein, der das Wüten der Nazis in den zehn vorangegangenen Jahren verfolgt hatte. Wer zu solchen Mitteln griff, wie es die Nazis taten, über dessen Absichten konnte kein Zweifel sein.
Meine Damen und Herren, es wäre deshalb keine zulässige Entschuldigung, zu sagen, man habe von Krieg und Holocaust nichts wissen können. Selbst wenn es stimmen würde, wären denn die terroristische Zerschlagung der Arbeiterbewegung, die gewaltsame Ausschaltung jeder politischen und gesellschaftlichen Opposition, die absehbare Erhebung des Antisemitismus zur Staatsdoktrin nicht schon aus sich heraus und ohne Ansehung solcher Folgen ein schändliches politisches und auch tatsächliches Verbrechen gewesen?
Meine Damen und Herren, ich glaube, es gibt für das Verhalten derer, die Hitler den Steigbügel hielten, weder aus damaliger noch aus heutiger Sicht irgendeine Entschuldigung.
Es spricht auch nicht zu ihren Gunsten, dass sie kurze Zeit später als betrogene Betrüger dastanden, weil sie mit ihren Illusionen von der Zähmung, der Einrahmung Hitlers jämmerlich Schiffbruch erlitten hatten.
Mit dieser Machtübertragung am 30. Januar 1933 begannen irreversibel der Prozess der Zerstörung der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung der Weimarer Republik und ihre Ersetzung durch die NS-Diktatur.
Die einzelnen Stationen im Jahr 1933 waren die Aufhebung elementarer Grundrechte durch die sogenannte Reichstagsbrandverordnung, die vollständige Zerstörung der parlamentarischen Demokratie durch das sogenannte Ermächtigungsgesetz, die Beseitigung der föderalen Ordnung durch die Gleichschaltung der Länder mit dem Reich, die Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung, die Zerschlagung der Gewerkschaften und schließlich das Verbot bzw. die Selbstauflösung der Parteien. Damit war wenige Monate nach dem 30. Januar jedem demokratischen Leben in Deutschland der Boden entzogen.
Widerstand gab es noch, auch noch im parlamentarischen Raum. Aber es galt schon bald das, was Bertolt Brecht in seinem Stück „Leben des Galilei“ seine Titelfigur sagen lässt: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
Solche Helden gab es, und es gab ihrer viele, gerade auch aus den Reihen der Arbeiterschaft und der Arbeiterbewegung, aber nicht nur aus ihren Reihen. Wir sind auf diese Menschen stolz. Wir wollen den heutigen Tag auch dazu nutzen, an sie zu erinnern. Bei allen Fehlern, die auch die SPD in dieser Zeit gemacht hat: Wir Sozialdemokraten erinnern uns mit besonderem Stolz an Otto Wels, der in der schon vom NS-Terror geprägten Reichstagssitzung vom 23. März 1933 im Angesicht der Fratze des Nationalsozialismus das Nein der SPD zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie begründete.
Mit den NS-Gesetzen und -Verordnungen der ersten Monate war der Weg bereitet, der über die Nürnberger Gesetze und die Remilitarisierung, über das Novemberpogrom 1938 und den Überfall auf Polen zum Holocaust und zum Vernichtungskrieg führte.
Meine Damen und Herren, ich habe in meiner Jugend – man hört es auch heute noch ab und zu – oft den Satz gehört: Ein Hitler ohne Krieg und Judenvernichtung wäre doch eigentlich ganz in Ordnung gewesen. – Die Wahrheit ist, dass es einen solchen Hitler nicht geben konnte. Die Wahrheit ist, wer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abbaut, wer die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte infrage stellt, wer die Menschenwürde beeinträchtigt, wer gesellschaftliche und kulturelle Teilhaberechte schmälert, der beschädigt die demokratische Gesellschaft und Staatsordnung in ihren Grundlagen und schafft damit die Voraussetzungen dafür, dass sich solche Verhältnisse wiederholen können.
Primo Levi, italienischer Auschwitz-Überlebender, hat in seinem Buch „Die Untergegangenen und die Geretteten“ geschrieben:
Es ist wenig wahrscheinlich, dass noch einmal all die Faktoren zusammenkommen, die den nationalsozialistischen Wahn ausgelöst haben. Aber es zeichnen sich einige Vorboten ab.
Meine Damen und Herren, wir sind aufgerufen – das ist das, was sich in allen Anträgen wiederfindet; bei allen Unterschieden in den Nuancierungen haben sie doch das eine gemeinsam –, die Vorboten in unserer Zeit und in unserem Land rechtzeitig zu erkennen und zu bekämpfen. Wir müssen die Lehren aus der Geschichte des NS-Terrorregimes ziehen. Diese Lehre lautet, dass der Kampf gegen Völkermord und Vernichtungskrieg nicht erst mit dem Völkermord und dem Vernichtungskrieg beginnt, sondern mit der Verteidigung der Freiheit, dem Mehren der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Solidarität.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP)
Die Lehre lautet in Abwandlung des eingangs zitierten Adorno-Satzes: Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Politik. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)
Schönen Dank, Herr Kollege Merz. – Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat jetzt Frau Kordula Schulz-Asche das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 war nicht vom Himmel gefallen. Aber die Konsequenzen waren absolut. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurden ersetzt durch eine menschenfeindliche Diktatur, der Millionen von Menschen zum Opfer fielen: die europäischen Juden, Andersdenkende und Widerstandskämpfer quer durch fast alle politischen Lager, Homosexuelle, Behinderte, Sinti und Roma sowie die vielen Opfer des Zweiten Weltkriegs, Wehrdienstverweigerer, Deserteure usw. usf.
Dieses schreckliche Kapitel deutscher Geschichte hat uns alle von Kind an begleitet – durch Erzählungen in der Familie, in manchen auch nicht, durch die Schule, durch den Besuch von Gedenkstätten, durch Gespräche mit Zeitzeugen. Dieser schreckliche Teil deutscher Geschichte heißt für uns, besondere Verantwortung zu übernehmen für die Wiedergutmachung, soweit das überhaupt möglich ist, für die Aufarbeitung der Geschichte und für die Lehren, die aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft zu ziehen sind.
Hessen hat sich übrigens als eines der wenigen Bundesländer auch mit der Frage der Wiedergutmachung befasst. Der NS-Härtefonds, der hier 1991 eingerichtet wurde, wird auch in diesem Jahr noch vom Hessischen Landtag gewürdigt.
Er konnte vielen Opfern des nationalsozialistischen Terrors helfen, die von anderen Hilfsangeboten nicht Gebrauch machen konnten. Auch zur Aufarbeitung der Geschichte ist in Hessen einiges geschehen. Ich möchte hier nur das renommierte Fritz Bauer Institut in Frankfurt erwähnen. Und 1995 hat der Hessische Landtag ein Symposium durchgeführt, das sich mit der besonderen Verantwortung in Hessen, mit der Verfolgung und Vernichtung durch das NSRegime befasst hat und das unter der Drucks. 15/1001 noch immer nachzulesen ist.
Meine Damen und Herren, um aus der Geschichte zu lernen, ist nach wissenschaftlichen Aufarbeitungen die Wissensvermittlung an die nächste Generation in Schule und Jugendarbeit enorm wichtig. Je weniger in Familien aus direkter Erfahrung oder durch Zeitzeugen gelernt werden kann, umso wichtiger ist es, durch gute Bildungsangebote jungen Menschen die Geschichte nahezubringen. Aber zu den Lehren aus diesem schrecklichen Kapitel der deutschen Geschichte gehört auch, dass es uns gelingt, die Begeisterung für universelle Menschenrechte, für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und für Frieden zu wecken.
Die Machtübernahme der NSDAP am 30. Januar 1933 war nicht vom Himmel gefallen. Im Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD werden viele dieser Schläge gegen die Demokratie aufgezählt, von den Notverordnungen bis hin zur Aufhebung elementarer Grundrechte und zum Verbot der Parteien. Wenn wir entschlossen sagen: „Nie wieder“, dann müssen wir uns zunächst auch mit den Gründen des Scheiterns der Weimarer Republik befassen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung, die Reparationszahlungen für den Ersten Weltkrieg sowie die Weltwirtschaftskrise 1929, die eine Gesellschaft ohne passende Sozialsysteme erreichte, möchte ich hier der Vollständigkeit halber erwähnen.
Ich möchte Ihr besonderes Augenmerk aber auf zwei Punkte legen: zum einen die Skepsis in der Weimarer Republik gegenüber dem demokratischen System in der Bevölkerung und zum anderen den schnellen, rasanten Aufstieg der NSDAP in den Jahren direkt vor der Machtübernahme.
Zum ersten Punkt. Es ist schon häufig gesagt worden, dass die Weimarer Republik eigentlich eine Demokratie ohne Demokraten war. Nach dem Scheitern der Revolution 1848 waren viele Demokraten ausgewandert, die meisten in die Vereinigten Staaten. Der darauf folgende Obrigkeitsstaat ließ kaum demokratische Luft zum Atmen, keine Organisationsformen, die sich entwickeln konnten, keine demokratische, keine bürgerliche, keine Kultur der Freiheit und der Demokratie.
Auch war die Demokratie der Weimarer Republik nicht vom Volk erkämpft, sondern eher aufgesetzt, und daher gab es sehr viele Menschen, die die Werte von Demokratie gar nicht zu schätzen wussten. Diese waren natürlich besonders anfällig.
Auch die Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 war die Folge eines verlorenen Krieges. Aber zu diesem Zeitpunkt
hatten wir glücklicherweise die sogenannten Mütter und Väter des Grundgesetzes, die sich fest vorgenommen hatten, aus den Fehlern der Weimarer Republik zu lernen, und die mit den Grundrechten und der Schaffung einer klaren politischen Ordnung einen großen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir so lange in demokratischen Verhältnissen leben können.
Die DDR ist durch eine demokratische Bürgerrechtsbewegung beseitigt worden, und deswegen glaube ich, dass wir in Deutschland insgesamt auf einem sehr guten Weg sind, um auch in Zukunft zusammen für Demokratie, Bürgerrechte und die Achtung der Menschenrechte arbeiten zu können.
Aber, meine Damen und Herren, es wird viel über sich ausbreitende Politikverdrossenheit gesprochen, über die vielen Nichtwähler und über das schlechte Ansehen von Politikern. Da stellt sich natürlich für uns alle, für alle demokratischen Parteien, die zentrale Frage: Wie kann es uns dauerhaft gelingen, die Menschen für Demokratie und den Parlamentarismus zu begeistern? – Ich glaube, das geht nur mit einer Politik des Zuhörens, einer Politik, die die Menschen und ihre Probleme ernst nimmt und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen sucht, eine Politik, die nicht Partikularinteressen Einzelner bedient, sondern das Gemeinwohl im Auge hat. So, das ist meine feste Überzeugung, wird Demokratie erlebbar, und junge Menschen lassen sich für demokratische Politik begeistern.
Das zweite Thema, das ich ausführlicher ansprechen möchte, ist der schnelle Aufstieg der NSDAP vor der Machtübernahme. Noch im Jahre 1928 erhielt die NSDAP bei den Reichstagswahlen nur 2,8 % der Stimmen. Verzweifelte Warnrufe von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern gab es schon früh. So schrieb Kurt Tucholsky 1930 das Gedicht mit den Zeilen – ich zitiere –:
Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, setzte sich sehr kritisch mit dem Antisemitismus der NSDAP auseinander. Aber, meine Damen und Herren, es waren leider nur Ausnahmen. 1933, als die NSDAP stärkste Fraktion im Reichstag geworden war, war es für Warnungen von Demokraten zu spät. Bei der Niedersachsenwahl vor wenigen Wochen hat die NPD 0,8 % der Stimmen erhalten und damit den Anspruch auf staatliche Parteienfinanzierung verloren. Und das ist auch gut so.
Wir kennen aber auch die Ergebnisse verschiedener Studien, zuletzt der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem bezeichnenden Titel „Die Mitte im Umbruch“. Demnach haben in östlichen Bundesländern 16 % der Menschen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Und vor rund zwei Jahren hätte doch niemand von uns ernsthaft geglaubt, dass eine Naziterrorbande zehn Jahre lang mordend durch Deutschland zieht, ohne dass unsere rechtsstaatlichen Organe dies bemerken. Ich glaube, es geht uns allen so, dass wir nach wie vor sprachlos darüber sind, wie so etwas passieren konnte. Haben wir nicht genug hingeschaut?
Unsere Gesellschaft ist, glaube ich, und das muss auch gesagt werden, weit von der Situation im Jahre 1933 oder auch der unruhigen Jahre davor entfernt. Wir haben demo
kratische Strukturen. Aber natürlich müssen wir auch weiterhin wachsam sein. Das Gedenken an den 80. Jahrestag der Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933 bedeutet Gedenken an die vielen Opfer, die diese Machtübernahme zur Folge hatte. Gedenken bedeutet aber auch, aus der Geschichte zu lernen. In Deutschland ist kein Platz für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, nicht für politischen Hass und nicht für Gewalt. Wir alle müssen aber immer wieder und überall für Demokratie und Toleranz werben. Gedenken und Verantwortung, dies sollte heute gemeinsam und würdig das Signal dieses Parlaments an alle Hessinnen und Hessen sein. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Ja, das Signal dieses Landtags sollte ein einheitliches sein. Es ist ein einheitliches Signal: Das, was passiert ist, darf nie wieder passieren. Ich glaube, das haben alle Vorredner gesagt; und das möchte auch ich eingangs feststellen, ungeachtet dessen, dass wir drei unterschiedliche Anträge haben, die auch mit unterschiedlicher Diktion begründet werden. Aber das „Nie wieder“ wird heute im Vordergrund stehen.
Meine Damen und Herren, vor drei Tagen, am 27. Januar, der auch Internationaler Holocaust-Gedenktag ist, gedachten wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahre 1945. Das Leid, wie es der Nationalsozialismus in Hessen, in Deutschland, in Europa und in der Welt verursacht hat, bleibt Teil unserer Gegenwart. Das haben wir am Sonntag alle so kundgetan. Das ist so. In aller Entschlossenheit sollten wir daher diesen Tag auch als Mahnung sehen, dass sich diese Brutalität und Unmenschlichkeit nicht wiederholen dürfen. Es ist an jedem Einzelnen von uns, für die Grundwerte der Demokratie einzustehen und aktiv für sie zu kämpfen. Es ist und bleibt daher unser aller Pflicht, uns zu erinnern. Das Erinnern muss auch Konsequenzen für unsere Zukunft haben, um allen Anfängen zu wehren, die Menschen diskriminieren, diskreditieren und stigmatisieren.