Protokoll der Sitzung vom 04.09.2013

Ein Drittel der Beschäftigten arbeitet Vollzeit, ein Drittel der Beschäftigten Teilzeit und ein Drittel der Beschäftigten sind 450-€-Jobber. Warum? Das ist ganz einfach zu erklären. Es gibt nun einmal Musiklehrer, die relativ exotische Instrumente anbieten, die nicht nachgefragt werden. Für diese drei bis vier Schüler können sie keine Vollzeitstelle schaffen.

(Petra Fuhrmann (SPD): Das ist nicht die Wirklichkeit!)

Nehmen Sie beispielsweise den Förderverein der Grube Fortuna bei uns im Lahn-Dill-Kreis. Dort sind viele Saisonarbeiter beschäftigt. Dort gibt es 30 Leute als 450-€Jobber. Dort können überhaupt keine Vollzeitstellen geschaffen werden. Das ist völlig ausgeschlossen.

Zweites Beispiel: das Familienzentrum in DillenburgFrohnhausen. Kollege Reif und ich waren dort. Sie haben dort zehn Minijobber, also zehn 450-€-Jobber. Wir haben hier die Chance, flexibel auf die Bedingungen des Arbeitsmarkts zu reagieren, so wie das der Einzelne möchte. Wir möchten, dass das auf Dauer erhalten bleibt. Das möchten wir im Interesse dieser Menschen, die einen kleinen Teil dazu beitragen wollen, ihr Einkommen aufzubessern.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Was Sie wollen, ist in letzter Konsequenz die Abschaffung der 450-€-Jobs, auch wenn Sie das jetzt anders verkleistern. Sie reden jetzt von Reform, von erstem und zweitem Schritt. Die Wahrheit sieht aber anders aus.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie alle diese Steuererhöhungsorgien verschweigen. Wir reden mit den Menschen darüber, wir informieren sie darüber. Sie können am 22. September sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei der Landtagswahl aus innerer Erkenntnis und aus freien Stücken heraus entscheiden, wem sie mehr vertrauen, Ihnen, die Sie den Menschen das Geld aus der Tasche herausziehen wollen, oder uns, die wir sagen, Leistung muss sich wieder lohnen, deswegen wollen wir diese Steuererhöhungsorgie nicht.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP)

Zu einer Kurzintervention hat sich Herr Abg. Spies gemeldet.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Irmer, ganz offenkundig gibt es einen erheblichen Aufklärungsbedarf zu einem Aspekt, den Sie am Anfang Ihrer Rede angesprochen haben. Nur dazu äußere ich mich, nämlich zu dem Unfug, den Sie über die Bürgerversicherung verbreitet haben.

Erstens. Mit der Bürgerversicherung wird durch das, was Sie eben klargestellt haben, Arbeit billiger, Arbeitskosten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber werden gesenkt, weil durch die Heranziehung weiterer Einkommensarten weniger Gesundheitskosten allein auf der Arbeit liegen.

Zweitens. Durch die Heranziehung leistungsloser Einkommen, wie Kapitalerträge, werden diese Arten von Einkommen endlich nicht mehr gegenüber der harten Arbeit vieler Menschen in diesem Land privilegiert, was unangemessen und ungerecht ist.

Drittens. Wegen der Kombination von Erstens und Zweitens werden insbesondere die kleinen, aber noch viel mehr die mittleren Einkommen entlastet, hohe Einkommen können ein wenig belastet werden.

Viertens. Durch eine geschicktere Konstruktion der Arbeitgeberbeiträge werden Unternehmen mit vielen Beschäftigten, insbesondere der Mittelstand und das Handwerk, erheblich entlastet, während Unternehmen, die nur sehr hohe Boni dafür auszahlen, dass man mit windigen Papieren Lehman-Brothers-Pleiten auslöst, belastet werden. Auch das ist angemessen.

Fünftens. Durch die Bürgerversicherung entsteht mehr Wahlfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger, denn auch private Krankenversicherungsunternehmen können natürlich Bürgerversicherungen anbieten, solange sie sich an die Kernregeln der Bürgerversicherung halten. Damit haben alle mehr Wahl.

Sechstens. Damit gibt es auch mehr Geld für gute Ärzte, da nicht mehr nach Versicherungsstatus, sondern nach medizinischem Bedarf honoriert wird. Das Gesamtvolumen bleibt genauso groß.

Siebtens. Weniger Ausgaben für Bürokratie, denn, wie wir alle wissen, verbraucht die private Versicherung dreimal so viel Kosten für Bürokratie wie die gesetzliche Krankenversicherung.

Achtens. Es wird auch damit aufgehört, Ärzte zu einem zutiefst unethischen, unärztlichem Verhalten zu verleiten, nämlich der Bevorzugung von Privatpatienten gegenüber Kassenpatienten. Das bedeutet das Ende der Zweiklassenmedizin.

Sehr verehrter Herr Irmer, es würde uns freuen, wenn Sie das bei Ihren weiteren Erwägungen berücksichtigen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Frenetischer Beifall! – Ulrich Caspar (CDU): Das war so schlecht, dass noch nicht einmal die eigene Fraktion klatscht!)

Herr Kollege Decker, Sie haben das Wort für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben der Rede von Herrn Kollegen Irmer sehr gespannt gelauscht. Es hat sehr lange gedauert, bis er zu dem Thema geredet hat, um das es eigentlich ging. Also haben Sie auch diesen Punkt versenkt, genauso wie die Steuerdebatte heute Morgen.

(Beifall bei der SPD)

Im Wahlkampf sind wir von der CDU und auch von der FDP schon einiges gewöhnt. Von Sprechblasen bis Hardcore, das haben wir eben auch noch einmal von Ihnen gehört. Aber dass Sie die Anhebung der Minijobgrenze auf 450 € jetzt schon als großen arbeitsmarktpolitischen Wurf betrachten, ist ein echter Schenkelklopfer, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Ein größeres Armutszeugnis kann man sich selbst nicht mehr ausstellen. Wissen Sie eigentlich, was auf dem Arbeitsmarkt los ist? – Lassen Sie mich gleich mal zur Sache kommen. Fakt ist, dass sich in Hessen die Zahl der Teilzeitbeschäftigten inzwischen um 60 % erhöht hat, allein bei den Frauen sind es mittlerweile 53 %. Die geringfügige Beschäftigung ist in Hessen um 12 % gestiegen. Die Zahl der Geringverdiener im Nebenjob ist um über 50 % gestiegen. Wollen Sie eigentlich gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, welche Erosionen auf dem Arbeitsmarkt vonstattengehen?

(Beifall bei der SPD)

Warum müssen denn so viele Menschen nebenbei noch jobben? Aus Jux und Tollerei ganz bestimmt nicht. Nein, weil sie von ihrer regulären Arbeit schon lange nicht mehr leben können.

(Beifall bei der SPD)

Dann stellen Sie sich hierhin und weigern sich noch immer hartnäckig, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Sie stellen sich hierhin und weigern sich noch immer, in Hessen ein anständiges Vergabe- und Tariftreuegesetz einzuführen.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Na, na, na!)

Meine Damen und Herren, Hessen ist neben Bayern und Sachsen das einzige Land, das keinen Mindestlohn und keine faire Tariftreueregelung haben will. Das wundert uns allerdings nicht; denn alle drei Länder sind schwarz regiert, bei zweien dürfen die Gelben noch ein bisschen mitspielen. Ich weiß nicht, ob dazu in diesem Hause überhaupt noch jemand Fragen hat.

Die Zahl der im Niedriglohnsektor Beschäftigten hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Frauen sind doppelt so stark betroffen, das ist Fakt. Inzwischen gibt es in Deutschland 1,4 Millionen Menschen, die aufstocken müssen. Und da sitzen Sie hier sozusagen fröhlich pfeifend und legen uns einen solchen Jubelantrag vor – das kann doch nicht wahr sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Daniel May (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Gleichzeitig läuten die Arbeitsmarktforscher und renommierte Arbeitsmarktinstitute die Alarmglocken, weil immer mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Minijobs aufgesplittet werden.

Werfen Sie einmal einen Blick in den Einzelhandel. Schauen Sie einmal, was in den Handelsketten passiert: Inzwischen „schleckert“ es überall in diesem Land.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Eine Frage nebenbei an diese Seite des Hauses: Was halten Sie eigentlich von dem neuen Geschäftsmodell des Werkvertrags? Das scheint doch eine ganz schlanke und schicke Sache zu sein: Ratzfatz wird ein Beschäftigungsverhältnis in einen Werkvertrag umgewandelt, vorher Tariflohn, jetzt Dumpinglohn – teilweise nur 6 € –, und ganz nebenbei wird die Lohnuntergrenze in der Leiharbeit unterlaufen.

In dieser Situation bekommen wir einen solchen Antrag von Ihnen vorgelegt, in dem Sie uns die Minijobs als „wirksames arbeitsmarktpolitisches Instrument“ verkaufen wollen. Das ist wirklich unglaublich, dazu fällt einem wirklich nichts mehr ein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP)

Haben Sie sich eigentlich einmal Gedanken gemacht, wie Sie Altersarmut in den Griff bekommen wollen? Haben Sie sich überlegt, welcher volkswirtschaftliche Schaden den staatlichen Kassen dadurch entsteht? Allein der Sozialversicherung entgehen dadurch jährlich 7,5 Milliarden €; die gehen der Kasse voll durch die Lappen. Schließt man die Kaufkrafteffekte durch bessere Löhne ein, sind es über 13 Milliarden €. – Meine Damen und Herren, auf die Gefahr hin, einen Ordnungsruf zu bekommen: Wollen Sie uns mit Ihrem Antrag hier eigentlich verscheißern? Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken wollen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Minijobs sind ein Programm zur Erzeugung lebenslanger ökonomischer Abhängigkeit. – Diese Aussage stammt aus dem Hause Ihrer Bundesfamilienministerin Dr. Kristina Schröder, besser gesagt, aus einem Gutachten, dass sie selbst in Auftrag gegeben hat. Die Brückeneffekte in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fallen demzufolge weitaus geringer aus als eigentlich erhofft. Minijobs stellen im Gegenteil eher eine höhere Hürde für den Übergang in

einen sozialversicherungspflichtigen Teilzeit- oder Vollzeitjob dar. Die Mehrheit der – vor allem weiblichen – Beschäftigten bleibt im Minijob gefangen.

Tja, meine Damen und Herren von der CDU: Bevor Sie den Antrag geschrieben haben, hätten Sie besser einmal in das Gutachten Ihrer Familienministerin hineinschauen sollen. Das wäre sinnvoll gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Aber zwischendurch hört man ja von der hessischen CDUSpitze, dass sie mit ihrer Ministerin nicht so gut kann. Sei es drum, das lassen wir einmal außen vor.

Fakt ist auch, dass vielen Minijobberinnen und Minijobbern besonders niedrige Löhne gezahlt werden. Darüber hinaus ist Fakt, dass Minijobberinnen und Minijobbern oftmals elementare arbeitsrechtliche Ansprüche versagt werden. Nicht umsonst hat eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt, dass bei der Durchsetzung der arbeits- und arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften dringender Handlungsbedarf besteht.

Obwohl geringfügig Beschäftigte arbeitsrechtlich formal anderen Beschäftigten gleichgestellt sind, wird dieser Grundsatz in der Praxis häufig unterlaufen. Dazu gibt es sehr genaue Zahlen und Erhebungen, die das in der Praxis festgestellt haben. Beispielsweise geht es um Feiertagsentgelte, bezahlte Urlaube oder die Lohnfortzahlungen. Statt zu jubeln, gibt es also eine ganze Menge zu regeln – auch und gerade bei den Minijobs.

Wir wissen natürlich auch, dass es schon seit Jahrzehnten Bereiche gibt, in denen sich Schüler, Studenten oder Rentner nebenbei als Aushilfe in der Kneipe oder mit dem Austragen von Zeitungen ein kleines Zubrot oder Taschengeld verdienen, die Haushaltshilfe ist eingeschlossen; alles okay so weit. Wir wollen hier auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber die Minijobs dürfen nicht länger das Einfallstor für Niedrigstlöhne, Lohndumping und dauerhafte prekäre Beschäftigung sein, meine Damen und Herren.