Den konzeptionellen Teil des Tätigkeitsberichts, die Einführung, möchte ich professoral-juristisch angehen. Denn offensichtlich bestehen hier selbst in der gängigen Materie des Polizeirechts Verständnisschwierigkeiten. Das hat mit Allein- und Allzuständigkeitsgelüsten und Bevormundungsambitionen nichts zu tun, sondern folgt daraus, dass der Datenschutz eine Querschnittsaufgabe ist. Auch datenschutzrechtliche Vorschriften werden nur im Gesamtzusammenhang, in dem sie stehen, verständlich.
Ich sage jetzt etwas außerhalb der Tagesordnung:Ich habe geäußert, die Bespitzelungsmentalität sei bei Deutschen ausgeprägt. Das heißt nicht, dass sie bei anderen nicht auch ausgeprägt sein könnte. Aber in der Bevölkerung grassiert eine Bespitzelungsmentalität, die mich mit Sorge erfüllt.
Dazu habe ich die „Bild“-Zeitung von vorgestern mitgebracht. Gleich auf der ersten Seite heißt es: „Brillenkamera – in dieser Sonnenbrille steckt der kleinste Camcorder der Welt. Die Eagle-Evolution speichert Videos auf 2Gigabyte-Speicher, Auflösung...“ Warum schleift jemand eine solche Sonnenbrille mit, mit einer solchen Kamera, wenn er nicht die Neigung hat, andere nachzuverfolgen und zu bespitzeln? Das ärgert mich.
Sogar die Zivil- und Strafrechtler unter den Juristen kennen die Entwicklung des allumfassenden Polizeibegriffs – jetzt wird es etwas akademisch –, genauer: des ius politiae. Es ermöglichte die Herstellung des Landfriedens und die Entstehung der Staatlichkeit und wurde auf alle Lebensbereiche ausgedehnt. Seit dem 17. Jahrhundert wurde es wieder verengt, und in der Kreuzberg-Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts von 1882 wurde es auf die Gefahrenabwehr zurückgeführt.
Selbst Anfangs- und Nichtjuristen dürfte das bekannt sein. Schon weniger bekannt ist, dass die Reduzierung der Polizeigewalt auch dadurch erfolgte, dass man den alten
Grundsatz aufhob, mit der Zuweisung einer Aufgabe sei auch die Befugnis erteilt, diese Aufgabe zu erfüllen. Das klingt kompliziert, ist aber gar nicht so kompliziert, wie es klingt. Eine Aufgabenzuweisung, das und das zu tun, ermächtigt nicht automatisch zur Erfüllung dieser Aufgabe; ich brauche Befugnisermächtigungen, Eingriffsberechtigungen.
Völlig unbekannt geworden – jedenfalls unter juristisch Studierenden – ist das sogenannte ius supremae inspectionis, das Recht der obersten Aufsicht. Noch im Kaiserreich leitete man daraus eine umfassende staatliche Beobachtungsmöglichkeit ab. Der Staat habe die Augen auf allem, aber nicht die Hände in allem, hieß es noch im Kaiserreich.
Allmählich zerfiel die Oberaufsicht in die einzelnen Bereiche der Schul- und Kommunalaufsicht, der Bau- und Gewerbeaufsicht. Was blieb, war der umfassende Überwachungsauftrag in den einzelnen Aufsichtsbereichen. Das heißt, der Staat hat sich ein allgemeines – ich sage es wirklich – Bespitzelungsrecht vorbehalten, nämlich das alte ius supremae inspectionis. Das ist in Hessen überwunden worden.
Aber die Mentalität ist noch nicht hundertprozentig verdrängt. Das ius supremae inspectionis, das Oberaufsichtsrecht, hatte schon immer eine freiheitseinschränkende Stoßrichtung. Die wurde zur Bedrohung, als Datenspeicherung und -verarbeitung technisch möglich wurden. Im Interesse der bürgerlichen Freiheit musste eine Kontrolle der staatlichen Aufsichtsmaßnahmen erfolgen. Die Aufsicht über die staatliche Aufsicht erforderte unabhängige Organe. Das folgt schon aus dem nationalen Recht, und das ist unstreitig in der Europäischen Datenschutzrichtlinie geregelt:Dort steht etwas von der Unabhängigkeit der Datenschutzaufsicht.
Ich habe angekündigt, es wird eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs geben. Jetzt liegt die Stellungnahme des Generalanwalts vor. Darin sollen keine Anhaltspunkte für die fehlende Unabhängigkeit der deutschen Datenschutzaufsicht gegeben sein. Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Der Europäische Gerichtshof hat noch nicht entschieden. Was „völlige Unabhängigkeit“ und „Unabhängigkeit“ und dergleichen bedeutet, das wird vom Europäischen Gerichtshof entschieden, nicht vom Generalanwalt. – Das ist kein Statement in die eine oder andere Richtung, sondern nur eine Positionsbestimmung in der gegenwärtigen Situation.
Wir sind uns also einig: Eine unabhängige Aufsicht über die Beaufsichtigenden muss gewährleistet sein – wie, das ist eine andere Frage.
Aufgabe der Polizei, der Staatsgewalt ist es, die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zu gewährleisten. Wenn ich mich nicht selbst schützen darf, muss mich der Staat schützen. Wenn Private andere Private in deren Grundrechten auf informationelle Selbstbestimmung verletzen, muss der Staat das unterbinden.
Die Antwort auf die Frage, wer diesen Schutzauftrag wahrnehmen soll, ist gegenwärtig kontrovers. Das ist die Frage der Unabhängigkeit.
Lassen Sie sich nicht irritieren: Die deutsche Fassung ist nicht die allein selig machende. In den anderen Sprachfassungen ist von „complete independence“, von „toute indépendance“, von „völliger Unabhängigkeit“ die Rede. Das ist noch ein heilloses Durcheinander, und wir müssen sehen, wie wir aus der europäischen Regelung eine sinn
Es steht zu befürchten, dass sich das wiederholt, was ich zum ius supremae inspectionis ausgeführt habe:Es wird in der Diskussion wieder alles durcheinandergebracht. Wir sollten uns davon nicht irritieren lassen.
Wer sich auf Europarecht beruft,kann sich zugleich gegen Europarecht wehren. Die Diskussion im Innenausschuss ist anders gelaufen.Aber es ist nicht widersprüchlich, sich auf Europarecht zu berufen und sich zugleich gegen Europarecht zu wehren. Gestatten Sie mir, dass ich das kurz ausführe.
Die Auslegung der Europäischen Datenschutzrichtlinie hat nichts mit der Rangordnung zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht zu tun.Gemeinschaftsrecht hat unstreitig Anwendungsvorrang vor nationalem Verfassungsrecht. Die Reichweite des Anwendungsvorrangs bestimmt der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter nach dem Grundgesetz.
Nach dem Souveränitätsvorbehalt des Art. 23 Grundgesetz ist allerdings die Fundamentalentscheidung nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz nicht disponibel. Die Nichtjuristen sehen mir nach, dass ich das ausführe. In Art. 79 Abs. 3 steht, die Grundzüge von Art. 1 – die Menschenwürde – und von Art. 20 – die Staatsstrukturprinzipien – sind der Regelungsgewalt des Europäischen Gerichtshofs entzogen. Über die Einhaltung dieser Fundamentalnorm wacht das Bundesverfassungsgericht, das völlig unstreitig insoweit dem Europäischen Gerichtshof übergeordnet ist.
Der Kernbereich von Art. 1 – die Menschenwürde – und die daraus abgeleiteten Grundrechte waren daher bislang eine Regelungssperre für die Europäische Union. Früher hieß das „Solange-Rechtsprechung“.
Das Bekenntnis zu Art. 20 wurde aber zumeist übersehen. Doch wie das Gemeinschaftsrecht nicht die Menschenwürde beschränken kann, so kann es auch nicht die bundesstaatliche Struktur Deutschlands oder das Land Hessen beseitigen. Es kann auch nicht unser parlamentarisches Regierungssystem beseitigen und die Ministerialverantwortlichkeit aufheben. Die Frage ist nur, ob ministerialfreie Räume generell ausgeschlossen sind. Dazu will ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern, das bedarf der soliden, gründlichen Klärung.
Fazit: Unser Datenschutzstandard ist auch gemeinschaftsrechtlich umfassend bestandsgeschützt, soweit es sich um den Kernbereich privater Lebensgestaltung handelt. Ob das Verbot ministerialfreier Räume den Kernbereich parlamentarischer Demokratie betrifft, bedarf noch der Klärung.
Jetzt kommen die Datenschutzskandale des Jahres 2008, die vorwiegend den privaten Bereich betrafen. Zu dem kann und will ich mich nicht äußern. Freilich lassen sich die Bereiche vielfach nicht trennen – bei Korruptionsfällen ist der öffentliche Bereich mit betroffen.Trotzdem erlaube ich mir noch eine Bemerkung zur Abrundung des professoralen Teils.
Die überwundene Ansicht im Polizeirecht, aus der Aufgabe folge die Befugnis zur Aufgabenerfüllung, wird im Zivilrecht durch die Auffassung aufgegriffen, staatliche Verpflichtung Privater begründe die Berechtigung zur
Ich weiß nicht, ob ich das klar vermitteln kann. Diese These bedeutet:Wer zur Mitwirkung an der Korruptionsbekämpfung verpflichtet ist, der darf auch die Telefongespräche seiner Beschäftigten abhören. Wem die Compliance die organisatorischen Vorkehrungen auferlegt, die Beschäftigten zur Rechtstreue zu zwingen, der soll automatisch berechtigt sein, zu diesem Zweck Leibesvisitationen bei seinen Beschäftigten durchzuführen.
Die Argumentation ist also: Der Staat zwingt mir als Arbeitgeber bestimmte Verpflichtungen auf – dann muss ich die auch erfüllen können. Um die erfüllen zu können, darf ich bei meinen Beschäftigten jede beliebige Maßnahme ergreifen. – Sehen Sie, und genau das ist falsch.
Compliance betrifft auch die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen.Es geht nicht um Datenschutz gegen staatliche Verpflichtungen, sondern der Datenschutz ist in diesem Bereich eine Grenze auch der privaten Verpflichtungen.
Jetzt etwas konkreter zu den Einzelbeispielen. Diese können Sie dem schriftlichen Teil meines Berichts entnehmen. Zum größten Teil besteht kein Dissens mit der Landesregierung. Zum Beleg dafür, dass unsere Arbeit sinnvoll und nötig war, greife ich mehr oder weniger willkürlich einige Beispiele heraus.
Zur europäischen Dimension des Datenschutzes habe ich schon Stellung genommen. Unsere Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass das bereits erreichte Niveau des europäischen Datenschutzes erhalten bleibt. Der Wegfall von Säulen und dergleichen darf nicht dazu führen, dass über der ersten Säule das Dach zusammenbricht.Wenn also im polizeilichen Bereich der Datenschutz bis jetzt nicht bestand, bedeutet das nicht, dass das Nichtbestehen des Datenschutzes auch dort gelten soll, wo es bisher Datenschutz gibt. Es ist also umgekehrt richtig.
Es steht mir nicht an, den Bund zu kritisieren. Die aus der Hüfte geschossenen Reaktionen auf die Datenschutzskandale des vergangenen Jahres sind nicht das Ende der Diskussionen um eine Neugestaltung des Datenschutzes. Hier besteht auf Bundes- und Landesebene erheblicher Reformbedarf. Zuerst sollten die Länder im eigenen Interesse versuchen – das haben Sie vorhin diskutiert, dazu darf ich mich aber nicht äußern –, das unsinnige Mischverwaltungsverbot zu knacken. Das ist eine schlichte Fehlinterpretation des Bundesverfassungsgerichts. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es sich in absehbarer Zeit von seiner verfehlten Rechtsprechung löst;deswegen bleibt nur die Möglichkeit, gesetzgeberische Initiativen zu ergreifen und ein praktikables und vernünftiges Ergebnis herbeizuführen.
Ich hoffe, ich habe mich jetzt nicht in eine Diskussion eingemischt, die vorher gelaufen ist und bestimmte Fronten abgebildet hat. Ich finde, dass es nur eine Front gibt: Land und Bund. Dann ist aus Sicht eines Landesparlaments das Land im Zweifel vorrangig und sonst nichts.
Über die Kamera- und Videoüberwachung habe ich hier schon oft berichtet. Zuletzt wandte ich mich mehr oder weniger ohne Resonanz gegen Attrappen als Mittel der Gefahrenabwehr. Im Augenblick sind sie wieder dabei, tendenziell in jedem Bahnhof eine Videokamera einzubauen.Das ist toll,dass sie die alle als gefährliche Orte be
Ich will nicht in die politische Diskussion eingreifen. Der Hinweis auf eine nicht existente Kamera zur Überwachung öffentlicher Einrichtungen ist eine staatliche Lüge. Der unterlassene Hinweis auf eine vermeintliche Überwachung wird nicht zur Kenntnis genommen. Wenn Sie eine Kamera verstecken und nicht darauf hinweisen,nützt die Attrappe nichts. Wenn ich auf die Attrappe hinweise, lüge ich. Also bin ich in einem gewissen Dilemma. Es gilt das Untermaßverbot.Auf eine Gefahrenlage ist angemessen zu reagieren. Wenn die Gefahr eine Videokamera rechtfertigt,dann muss ich auch die Gefahr effektiv unterbinden und mit personellen Ressourcen bereitstehen.
Das gilt auch umgekehrt. Das Hausrecht ist auf den Schutz der eigenen Grundstücke beschränkt. Beim öffentlich-rechtlichen Hausrecht ist die öffentliche Zweckbestimmung zu gewährleisten. Wer der Kameraüberwachung ausweichen will, muss das können. Das ist z. B. bei Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Schulpflicht nicht möglich, wenn die alle überwacht werden.Wenn ich Schulpflicht habe, muss ich auch die Möglichkeit haben, unbeobachtet in die Schule zu kommen. Trotz der Verabschiedung durch das Bundesverfassungsgericht besteht in der Schule real ein besonderes Gewaltverhältnis. Allerdings gelten auch hier die Grundrechte, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf die informationelle Selbstbestimmung berufen können. Gewaltträger sind hier – jetzt setze ich mich wie immer in die Nesseln – die Lehrerinnen und Lehrer. Sie haben in erster Linie den Datenschutz der Schülerinnen und Schüler zu respektieren. Ich habe mir den Vorwurf der Pädagogenschelte zugezogen, was mich relativ kalt lässt, da ich einer bis ins Mittelalter zurückverfolgbaren Lehrerfamilie entstamme.
Selbstverständlich sind mir die Belastungen des Lehrerberufs bewusst. Mir ist auch klar, dass die Pädagogen mangels dienstlicher Arbeitszimmer ihren Arbeitsplatz zum Teil nach Hause verlagern müssen. Dann ist aber auch dort der Datenschutz zu beachten. Wie soll ich eine Datenschutzkultur vermitteln und glaubhaft vor Schülerverzeichnissen und dergleichen warnen, wenn ich nicht selbst bereit bin, Datenschutz vorzuleben?
Das gilt in gleicher Weise für die Richter und Richterinnen, die ebenfalls zu Hause arbeiten dürfen und die die richterliche Unabhängigkeit nicht gegen den Datenschutz ins Feld führen können. Auch für sie gelten Verschlusssachen als Verschlusssachen, auch am heimischen Arbeitsplatz. Wenn ich dann einen Tchibo-Computer benutze – ich nehme den Ausdruck zurück –, wenn ich einen
Low-price-Computer, einen günstigen, benutze, dann muss ich eben die entsprechenden Datenschutzvorkehrungen treffen. Mit Richtern und Richterinnen habe ich mich schon lange vor den Lehrern angelegt, man kann