Protokoll der Sitzung vom 07.09.2010

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Ohne Maßnahmen wie z. B. die verlängerte Kurzarbeiterregelung hätten viele Menschen ihren Arbeitsplatz verloren – mit allen negativen Folgen für den Einzelnen, für seine Familie, aber auch für unsere Gesellschaft insgesamt.

Wir Hessen haben mit 1,7 Milliarden c ein eigenes, zusätzliches Konjunkturprogramm aufgelegt. Davon sind mehr als 1 Milliarde c alleine den Kommunen zugutegekommen. Kein anderes Land hat auch nur annähernd in einem solchen Ausmaß gegengesteuert.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Unser Sonderinvestitionsprogramm hat die Kommunen und das Land in die Lage versetzt, Politik für die Menschen zu gestalten. Wir verbessern die Kinderbetreuung. Wir bauen Schulen aus. Wir bauen die Hochschulen aus. Um es deutlich zu sagen: So sehen konkrete Investitionen in Bildung aus.Wir haben nicht nur davon geredet, wir haben mit 1,7 Milliarden c auch sehr viel dafür getan.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Auf über 5.000 Baustellen alleine in Hessen können Sie sehen, was mit diesem Programm geschieht. Wir bauen Schulen, Turnhallen, wir bauen die kommunale Infrastruktur aus. Ich glaube – und das müsste uns eigentlich alle gemeinsam verbinden –: Die Tatsache, dass dieses Programm viele Arbeitsplätze erhält und viele Tausende neue schafft,ist eine Leistung,auf die wir gemeinsam stolz sein können. Ich finde, Gemeinsamkeit – vor einer Woche habe ich sie ja angeboten und angemahnt – ist etwas, was uns verbinden kann: Ein Programm, das vielen Menschen Arbeit gibt und Infrastruktur fördert und über das wir, soweit ich es gesehen habe, im Großen und Ganzen einig waren, darauf kann dieses Haus stolz sein.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Aber nicht nur die Politik, auch die Sozialpartner haben großen Anteil an diesem Aufschwung. Die maßvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften und die weitsichtige Entscheidung vieler Unternehmer, ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz der Krise nicht zu entlassen, sondern weiter zu beschäftigen, bieten die besten Voraussetzungen dafür, den insbesondere vom Export getriebenen Konjunkturaufschwung in Hessen hervorragend zu nutzen.

Die Lage ist also besser als die Stimmung. Gleichwohl warne ich davor, zu glauben, die Krise sei bereits überwunden, und wir könnten einfach zur Tagesordnung übergehen.

Meine Damen und Herren, trotz der besseren Wirtschaftsdaten sind viele Menschen verunsichert. Nach wie vor haben zu viele keinen Arbeitsplatz. Die Staatsverschuldung, auch das wissen die Menschen, ist nicht zuletzt aufgrund der massiven Konjunkturprogramme dramatisch gewachsen. Viele Menschen haben Angst um ihre Zukunft, und sie haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen.

Vor diesem Hintergrund ist es mir ein besonderes Anliegen, mit der von mir geführten Landesregierung ein Zeichen der Gemeinsamkeit zu setzen. Wir brauchen dieses bestärkende Miteinander. Denn viele Menschen beobachten die aktuelle Situation mit großer Sorge. Nach meiner festen Überzeugung gründen diese Sorgen sehr stark auf den tief greifenden Umbrüchen dieser Gesellschaft. Diese tief greifenden Umbrüche will ich nur beispielhaft nennen.

Viele Menschen empfinden die Veränderung in unseren Familien nicht als positiv. Es macht ihnen Angst, dass das, was bislang für ihr Leben selbstverständlich war, infrage gestellt wird. Den rapiden demografischen Wandel empfinden viele Bürger nicht als Chance,sondern er weckt bei ihnen Angst vor Abwanderung,Überalterung und Vereinsamung ihrer Lebensumgebung.

Auch die notwendige Integration von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen führt bei vielen Bürgern zu Angst vor Verfremdung und zu Sorge um die eigene kul

turelle Identität. Umgekehrt gilt auch: Vielen Migranten fällt es schwer, sich in einer solchen Umgebung willkommen und heimisch zu fühlen.

Mit diesen Ängsten müssen wir uns auseinandersetzen. Gemeinsam müssen wir versuchen, neues Vertrauen zu schaffen.

Dabei wissen auch wir: Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik fällt vielen Menschen heute sehr schwer. Die Menschen verstehen manche Entwicklung nicht. Sie haben Zweifel daran, ob dem Gebot der Gerechtigkeit bei politischen Entscheidungen genügend Rechnung getragen wird. Zu einem guten Teil kann man sie verstehen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft erschüttert. Gleiches gilt hinsichtlich des Vertrauens in die Institutionen des Staates. Dieser Vertrauensverlust wiegt schwer, und er muss uns veranlassen, mit allen Kräften an diesem neuen Miteinander zu arbeiten.

Wir als Landesregierung gehen dabei von folgenden Maximen aus: Für uns gilt nicht der maximale Gewinn, sondern der Mensch als Mittelpunkt der wirtschaftlichen Ordnung.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ludwig Erhard forderte schon 1948, dass die soziale Marktwirtschaft nicht das „freie Spiel der Kräfte“ sei, „sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt“.

Genau das ist es, dem wir uns verpflichtet fühlen. Der Mensch als Mittelpunkt der politischen Ordnung – das ist unser Verständnis von Politik. Wir wollen sicherstellen, dass das nicht nur die politische Programmatik ist, sondern sich auch zur politischen Realität in diesem Land entwickelt, wo dies noch nicht so empfunden wird.

Wir wollen einen neuen Stil prägen und ein neues Angebot machen. Als Hessischer Ministerpräsident will ich daran arbeiten, dass die Menschen in diesem Lande die Politik wieder stärker als ihre Politik erfahren und auch mit konkreten Begegnungen verbinden können.

Deshalb werde ich das Gespräch mit den Menschen in allen Teilen Hessens suchen.

(Lachen der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich werde unter anderem regelmäßige Bürgersprechstunden an verschiedensten Orten einführen.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Günter Ru- dolph (SPD):Dann haben Sie das bisher versäumt!)

Ich lade die Sozialpartner in unserem Land, die Gewerkschaften und die Repräsentanten der Wirtschaft ein, regelmäßig mit uns darüber zu beraten, wie wir die Herausforderungen im Sinne des Gemeinwohls am besten meistern können.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, dieses Gemeinwohl ist mehr als die Summe aller Einzelinteressen. Die Landesregierung wird sich deshalb nicht zum Sachwalter von Sonderinteressen machen lassen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Demonstrativer Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tarek Al- Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann weiß ich, was Sie zum Atomkonsens sagen!)

Herr Kollege Al-Wazir, das gilt in alle Richtungen.

Für uns ist Politik nicht die Bedienung von Einzelinteressen. Vielmehr haben wir die Aufgabe, die Menschen zu verantwortungsvollem Handeln für sich und für die Gemeinschaft zu ermuntern.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Scharfe Kritik an der FDP!)

Dafür Kräfte freizusetzen und Kreativität zu entwickeln: das ist das Ziel unserer Politik.

Dabei brauchen wir auch kraftvolle Visionen. Wir brauchen keine sturen Businesspläne.

Um auch das einmal zu sagen: Mehr oder minder willkürlich gesetzte Prozentziele – für welches Ziel auch immer – machen aus meiner Sicht keine kluge Politik.Wo nur noch die Zahl regiert, gerät der Mensch leicht aus dem Blick. Ich habe es gesagt und sage es noch einmal – für uns gilt: Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht irgendeine Prozentzahl.

(Beifall bei der CDU und der FDP sowie bei Abge- ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb steht auch unser Sozialstaat nicht zur Disposition.

Ich freue mich, dass Sie die Änderung unserer Geschäftsordnung vorhin mit Beifall begleitet haben. Bei aller Notwendigkeit zur Anpassung bleiben wir den Schwachen verpflichtet.

Unsere Fürsorge sollte aber niemand zum Anlass nehmen, sich vom Staat von der Wiege bis zur Bahre an die Hand nehmen zu lassen. Gemeinsinn setzt auch die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Eigeninitiative voraus.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Unsere Politik garantiert Hilfe für die Schwachen, fordert Solidarität durch die Starken und fördert die Anerkennung für die Leistungsträger und die Tüchtigen.

Leistung und Solidarität sind keine Gegensätze. Im Gegenteil, sie bedingen einander. Leistung ohne Solidarität bedeutet soziale Kälte. Solidarität ohne Leistung ist in der Geschichte bisher auch noch nicht geglückt. Es gibt viele Beispiele auch in unserem Land – denken wir an die ehemalige DDR, wo dies regelmäßig gescheitert ist.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Diese Erkenntnis gehört zum Kern der sozialen Marktwirtschaft,und ich hoffe,dass dies auch zukünftig ein breiter Konsens hier im Hause für unsere gemeinsame Arbeit sein wird.

Konsens in wesentlichen Fragen – das ist das, was ich Ihnen anbiete und wovon ich überzeugt bin, dass es die Demokratie braucht. Das muss auch unseren Umgang miteinander prägen. Wir sollten uns als Volksvertreter eher auf die Suche nach Gemeinsamkeiten begeben,als darauf, den noch so kleinen politischen Dissens zur Frage über Gedeih und Verderb unseres Landes aufzublasen.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Die Menschen haben schlicht genug von Parteipolitik pur. Sie haben auch genug von der Beschäftigung der Parteien

mit sich selbst. Ein vernünftiger Pragmatismus und eine Abkehr von ideologischer Fixierung bedeuten nicht ein Handeln ohne Grundüberzeugungen. Es muss aber Schluss sein damit, dass wir jedenfalls dann, wenn Ideologien einer vernünftigen Lösung im Wege stehen, den Ideologen folgen. Wir sollten uns mehr bemühen, Pragmatismus gleich Vernunft zu setzen und die unterschiedlichsten Herausforderungen vernünftig anzugehen. Dies ist eine Aufgabe, die Regierung und Opposition verbinden kann. Weniger Ideologie, mehr Vernunft – ich glaube, das wäre gut.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP – Bei- fall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da sind wir gespannt! – Gegenruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das liegt aber auch an euch! Da sind wir auch gespannt!)

Meine Damen und Herren, die Krise hat eines deutlich gezeigt: Die Bürgerinnen und Bürger haben trotz des mangelnden Zutrauens in die Politik – das ist das Besondere – nach wie vor hohe Erwartungen an den Staat. Auf der einen Seite trauen sie denen,die auf Zeit berufen sind, Politik zu gestalten, vergleichsweise wenig zu.Auf der anderen Seite erwarten sie insbesondere in Krisenzeiten vom Staat nahezu alles. Der Staat bleibt in der Krise die letzte Instanz,auf die sich viele Hoffnungen immer wieder gründen. Dieser Verantwortung stellen wir uns, und wir setzen dabei auf bewährte Prinzipien, aber nicht auf alte Praktiken.