Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

Vielen Dank. – Das Wort hat der Kollege Dr. Spies, SPDFraktion.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum hat nicht der Mick die Rede vom Hahn geschrieben?)

Lieber Herr Mick, dann wollen wir vielleicht das tun, was Sie zuletzt eingefordert haben: einmal versuchen, produktiv und konstruktiv mit genau diesem Fall umzugehen.

Natürlich – hier gibt es gar keinen Zweifel – ist der Vorfall unerträglich, inakzeptabel und in keiner Weise auch nur eine Sekunde zu dulden gewesen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU)

Dass der Arzt aus Wächtersbach sofort zurückgerudert ist,mag seiner Erkenntnis oder der drohenden Verlust der Kassenzulassung geschuldet sein. Zutreffend ist, dass sich dieses Problem vor Ort gelöst hat, und natürlich muss man sich fragen, was dieser konkrete Fall im Landtag verloren hat.

Viel spannender ist vielleicht, einmal zu versuchen, den Zusammenhang, in den ein solches Ereignis gehört, zu klären und zu reflektieren. Denn alle, die in großer Ein

mütigkeit mit einem Finger auf einen unerträglichen Exzess zeigen, sollten einen kurzen Moment überlegen, worauf die anderen Finger zeigen.Die Ausbildung von Ärzten in Fragen der medizinischen Ethik, also das, was einen davor schützen sollte, sich an solchen Stellen zu verrennen – Herr Mick hat die Frage aufgeworfen, was vorher passiert ist, sodass es zu diesem Handeln dieses Arztes kam –, ist desolat und allenfalls eine Ausnahme. Sie ist weder finanziert, noch ist sie verbindlich.Vielleicht sollten wir einmal konstruktiv darüber reden, wie wir diese Ausbildung verbessern könnten.

Eine öffentliche Debatte – Herr Al-Wazir hat gerade gefragt, warum nicht der Mick die Rede vom Hahn geschrieben hat –, die die Migranten zum Problem erklärt, statt ihre Probleme zu lösen angeht, trägt nicht unerheblich dazu bei, dass sich einer traut, die Migranten für das Problem zu halten. Und genau das ist hier passiert.

Die Debatte der letzten Wochen ist mehrfach angesprochen worden, und ich finde: So richtig manche Hinweise auf Handlungserfordernisse auch sind, so wird an der Behauptung, 10 % der Migranten seien integrationsunwillig, ein Teil des Problems deutlich. Gibt es vielleicht nicht auch 10 % unter den Deutschen, die sich in dieser Gesellschaft nicht integrieren wollen? Und sollten wir vielleicht nicht ein bisschen genauer hinschauen, anstatt immer beim ersten Satz stehen zu bleiben und damit den Tabubrüchen,den Fehlentscheidungen und solchen Fehlgriffen Raum zu geben?

Übrigens, Frau von der Leyen wird in dieser Praxis auch nicht mehr behandelt. Das ist ein ganz interessanter Exzess in dieser Frage.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Ein weiterer Aspekt ist: Dass sich jemand dieses Handeln in diesem ganz besonders geschützten und schützenswerten Raum einer Arztpraxis, also an einem Ort, an dem jeder, der durch die Tür tritt, darauf vertraut, vertrauen darf und vertrauen können muss, ohne Ansehen von Person, Religion, sozialem Stand und allen anderen denkbaren Diskriminierungsmerkmalen behandelt zu werden, traut, hat vielleicht auch damit zu tun, dass im Umgang mit unserem Gesundheitswesen die Zahl der Tabubrüche in den letzten Jahren beachtlich war.

Vielleicht hat manch einer gemeint, er dürfe die besondere Situation des Warte- und Behandlungszimmers für politische Kampagnen nutzen. Das ist ein Tabubruch, der Räume öffnet. Vielleicht hat manch einer gemeint, er dürfe aus Gründen ökonomischer oder verwaltungstechnischer Interessen im Zusammenhang mit dem Budget Behandlungsverweigerung androhen. Wenn das nicht an jeder Stelle so deutlich tabuisiert wird, wie es zu tabuisieren ist, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass auf einmal einer auf die Idee kommt, er könne auch noch rassisch diskriminieren.An der Stelle wäre es dringend nötig, die Tabus, die ein Warte- und Behandlungszimmer auszeichnen müssten, klar und deutlich anzusprechen.

Deshalb glaube ich:So unerträglich der Vorfall auch ist,so wenig ist er doch geeignet,sich darauf zu beschränken,mit dem Finger auf diesen einen Fall zu zeigen.Vielleicht sollten wir dringend darüber nachdenken, ob Ärzte, die einen hohen Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund haben, auf die besonderen interkulturellen Probleme hingewiesen werden sollten. Vielleicht sollten Ärzte mit einem hohen Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund eine höhere Honorierung erfahren, weil die Behandlung der Migranten mehr Aufwand und Zeit erfordert. Viel

leicht sollten sich Kassenärztliche Vereinigungen nicht um Kleckerbeträge streiten oder ständig mehr Geld verlangen, sondern der Frage zuwenden, ob nicht Praxen, die einen hohen Migrantenanteil haben, besonders unterstützt werden sollten,weil sie beispielsweise Dolmetscherbedarf haben. Das wäre ein Lösungsansatz, wie man die Situation, die möglicherweise dahin geführt hat, tatsächlich angeht.

Herr Kollege Dr. Spies, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss. – Es geht also um die ethische Ausbildung von Ärzten und die Schaffung von Rahmenbedingungen, die auch im Gesundheitswesen adäquate Hilfe bieten und die Lösung der Probleme von Migranten ermöglichen. Es geht darum, Probleme zu lösen, statt Migranten zu Problemen zu erklären. Das wäre der richtige Ansatz. Und bei solchen Debatten gilt immer wieder: Die Geschichte mit dem ersten Stein ist gefährlich.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Spies. – Das Wort hat Frau Abg. Schulz-Asche, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Meine Damen und Herren, bevor Frau Kollegin SchulzAsche beginnt, darf ich Ihnen mitteilen, worauf mich der Kollege Tipi hingewiesen hat: Der heutige Tag markiert das Ende des Ramadan.Aus Anlass dieses Tages hat er im Foyer einige süße Stückchen deponiert, und jeder, der möchte, kann dort zugreifen. Es wäre rechter Hand links.

(Heiterkeit)

Sie werden es finden. – Danke, Ismail.

(Allgemeiner Beifall)

Das Wort hat nun Frau Kollegin Schulz-Asche.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich hoffe nicht, dass Sie jetzt alle rauslaufen und sich einige süße Stückchen nehmen.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Die CDU ist schon draußen!)

Vielmehr hoffe ich, dass Sie meiner Rede zuhören.

Meine Damen und Herren, ich möchte dem Kollegen Mick ausdrücklich für seine Rede danken. Ich glaube, es gab keinen einzigen Moment in dieser Rede, wo ich nicht hätte zustimmen können. Ich fand es nach der, wie ich finde, doch etwas irritierenden Rede des Integrationsministers besonders angenehm, diese Rede zu hören.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn man sich den Aushang anschaut, der in dieser Praxis in Wächtersbach hing, dann wird einem klar, dass es sich um einen unsäglichen Vorfall handelt. Da dies hier schon ausreichend betont wurde, möchte ich mit Ihnen zusammen anders an dieses Thema

herangehen und fragen, was wir aus diesem konkreten Fall für unser zukünftiges Handeln lernen können.

Wir können einiges lernen. Wir haben gesehen, dass sowohl die Ärztekammer als auch die Kassenärztliche Vereinigung entsprechend ihren Vorschriften reagiert haben, die Prüfung dieser Angelegenheit zugesagt haben, und inzwischen findet diese Prüfung auch statt. Ich finde, dies ist ein gutes Zeichen. Es zeigt nämlich, dass nicht erst die Politik reagieren muss, dass nicht erst skandalisiert werden muss,sondern dass die dafür zuständigen Institutionen sofort reagiert haben.

Wenn wir nach Wächtersbach schauen,finden wir die kleinen Helden des Alltags – so möchte ich sie einmal nennen –, die sich dieser Themen annehmen und die gemeinsam versuchen, die Probleme zu lösen. Deshalb möchte ich ausdrücklich den Vorsitzenden des türkisch-islamischen Kulturvereins in Wächtersbach nennen, der nicht nur jährlich einen „Tag der offenen Moschee“ in Wächtersbach durchführt, um genau dieses Verständnis für nicht islamisch gläubige Menschen in Wächtersbach zu steigern, sondern der sich, wie ich finde, in dieser Angelegenheit sehr klug verhalten hat.

Er hat gesagt: So etwas höre ich in Wächtersbach zum ersten Mal. Dieser Arzt hat eigentlich ein ganz gutes Verhältnis zu seinen Patienten. Ich werde persönlich mit ihm reden, und dann sehen wir weiter. – Das haben die beiden inzwischen getan. Inzwischen gibt es eine gemeinsame Vereinbarung darüber, wie diese Praxis besser organisiert werden kann und wie man in der Praxis mit Problemsituationen umgehen kann. Deshalb möchte ich sagen: Ich finde, Herr Degermenci ist für mich ein kleiner Held des Alltags. Denn er hat gezeigt, dass man mit solchen Konflikten auch anders umgehen kann, als sie zu skandalisieren oder zu einer Aktuellen Stunde im Hessischen Landtag zu machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der Arzt hat sich mittlerweile entschuldigt.Das Hauptproblem besteht meiner Meinung nach allerdings darin, dass wir auf einer ganz anderen Ebene diskutieren, und jedes Mal, wenn es irgendwo zu einem Skandal gekommen ist oder wenn jemand Gift gespritzt hat, dann befassen wir uns mit diesen Themen. Insofern frage ich noch einmal:Was können wir aus dem Fall Wächtersbach lernen?

Ich glaube, wir haben gesehen, dass es in den Arztpraxen ein großes Problem mit der interkulturellen Kompetenz gibt. Hierzu gibt es wenig Ausbildung, es gibt dazu praktisch keine Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, weder für die Ärzte noch für die Arzthelferinnen, die ja auch bestimmten Stresssituationen ausgesetzt sind.

Ein weiteres Problem möchte ich in die Frage kleiden: Wie gelingt es uns, mehr Menschen mit Migrationshintergrund für den Arztberuf, für den Pflegeberuf oder für den Beruf der Arzthelferin zu interessieren? Ich glaube, auch das ist eine Aufgabe, vor der wir stehen.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen dritten Punkt ansprechen, nämlich die kulturelle Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit. Wir wissen, hier gibt es sehr große Unterschiede. – Herr Banzer, ich freue mich, dass Sie mir dabei zunicken; darüber haben wir schon öfter miteinander diskutiert.Wir haben ein großes Problem damit, dass die Ärzte in ihrer Ausbildung zwar mit ethischen Fragen konfrontiert werden – Herr Dr. Spies –, nicht aber mit bestimmten Krankheitswahrnehmungen und Krank

heitsbildern von Menschen mit Migrationshintergrund oder aus anderen Kulturkreisen, und damit nicht umgehen können. Das ist eine ganz große Herausforderung.

An der Universität Gießen ist eine Stiftungsprofessur zum Thema Migrationsmedizin in Vorbereitung, aber bei einem wachsenden Anteil von Menschen aus anderen Kulturkreisen – in Wächtersbach liegt der Ausländeranteil bei 10 % – muss auch die Wissenschaft der Medizin in der Lage sein,diese Menschen adäquat zu behandeln.Das heißt auch, dass man sie überhaupt erst einmal versteht.

Ich glaube, das sind die Aufgaben, vor denen wir stehen. Hier gibt es Aufgaben, die der Politik zufallen, wie auch solche, die in der Autonomie der Hochschulen liegen.Andere liegen bei der Kassenärztlichen Vereinigung oder der Ärztekammer. Hier ist nicht einzig die Politik verantwortlich.

Wir können sehr viel tun. Die Enquetekommission Integration beschäftigt sich mit dieser Thematik. Aber es kommt auch auf die kleinen Helden des Alltags an. Deswegen bitte ich Sie, solche Heldinnen und Helden zu unterstützen, anstatt den Skandalen immer hinterherzulaufen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Herzlichen Dank für diesen Beitrag. – Das Wort hat der Kollege Dr. Bartelt, CDU-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Aushang in der Allgemeinpraxis in Wächtersbach ist völlig unakzeptabel. Darüber sind wir uns alle einig. Es heißt dort: „In dieser Praxis gilt ein striktes Verbot von Kopftüchern.“ Es werden „Grundkenntnisse der deutschen Sprache vorausgesetzt“, und „kinderreiche islamistische Familien werden nicht behandelt“.

Erstens ist das die Androhung der unterlassenen Hilfeleistung. Zweitens ist das die Diffamierung muslimischer Mitbürger, indem sie als „islamistisch“ bezeichnet werden.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und „vorausgesetzt“ ist mit zwei „r“ geschrieben. Das kommt noch dazu!)

Da sind wir uns sicher einig, und das ist auch gut so.

Die Selbstverwaltungsorgane Landesärztekammer Hessen und Kassenärztliche Vereinigung haben unverzüglich und angemessen reagiert. Sie haben die Tatbestände bezeichnet, wegen deren ermittelt wird: Vertragsverletzung aus kassenärztlichen Pflichten und Verstoß gegen die Berufsordnung. Darüber hinaus haben sie sich gegenüber der Presse klar geäußert und gesagt,dass sie einen solchen Vorgang „als verwerflich ansehen“.