Protokoll der Sitzung vom 29.09.2010

Deshalb gab es einen Aufruf zu einem freien und friedlichen Dialog, der von prominenten Unterstützern in Kirchen und im Leipziger Stadtfunk verlesen wurde.

Etwa 70.000 Demonstranten nahmen an dieser Montagsdemonstration teil. Hervorzuheben ist dabei die Rolle der Bürgerbewegung und die der christlichen Kirchen, die die friedliche Revolution insgesamt maßgeblich prägten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Proteste und Demonstrationen bedeuteten den Anfang vom Ende der DDR. Denn schnell wurde vielerorts aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten der SPD)

Der Zug war nicht mehr aufzuhalten, und schneller als gedacht setzten die Menschen in der ehemaligen DDR die Einheit Deutschlands durch.

Aber auch international wurde um die deutsche Einheit gerungen. Große Verdienste haben Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher errungen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag machte letztendlich den Weg frei für die Einheit und für die Souveränität eines wiedervereinigten Deutschlands.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle eine etwas emotionalere persönliche Bemerkung anschließen. Ich bin sicher, dass mindestens die meisten von Ihnen, vor allem aber fast alle Mitbürger in Hessen und Thüringen, das genauso empfunden haben.

Im Jahr 1989 gab es zwei Ereignisse, die einem abwechselnd Schauer über den Rücken und Freudentränen in die Augen jagten. Das erste war der Satz von Hans-Dietrich Genscher, gesprochen am 30. September 1989 um 18:58 Uhr auf dem Balkon der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Der ist unvergessen. Gleichwohl will ich ihn hier noch einmal zitieren:

Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise möglich geworden ist.

Meine Damen und Herren, das Satzende ging im Jubel der etwa 4.000 ausreisewilligen DDR-Bürger unter, die sich auf dem Gelände der Botschaft zusammendrängten. Denn die Menschen haben gespürt: Die Gefängnismauer, die Erich Honecker und seine Mittäter als „antifaschistischen Schutzwall“ bezeichneten, bekam die ersten deutlichen Risse.

Das zweite Ereignis war knapp sechs Wochen später, am 9. November 1989. An diesem Tag kapitulierte das SEDRegime in Person des Sekretärs des ZK der SED Günter Schabowski um 18:59 Uhr vor dem Volk und erklärte die Öffnung der Grenze.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer ein Herz für die Freiheit und ein Herz für Deutschland hat, der war an diesem Abend tief bewegt von dem, was der Wunsch des Volkes nach Freiheit bewirkte. Ich gehörte dazu. Mir standen die Tränen in den Augen, wie ich gerne bekenne.

Hessen hat von Anfang an als christlich-liberale Koalition die Wiedervereinigung unterstützt. Die 269 km Grenzzäune,Wachtürme und Selbstschussanlagen konnten Hessen und Thüringen nicht auf Dauer trennen. Mithilfe aller

Landtagsfraktionen ist es im Dezember 1989 gelungen, das „Aktionsprogramm Hessen-Thüringen“ zu verabschieden und die Hilfe zu intensivieren. Einzelheiten haben wir unter anderem gestern hier schon gehört, das brauche ich jetzt nicht zu wiederholen.

Meine Damen und Herren, mit dem Ende der DDR kam das Ende der fehlenden Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, der politischen Verfolgung, der Misswirtschaft und des totalitären Regimes.Vor allem aber der Schutz der wertvollsten Güter, unserer Menschen- und Bürgerrechte, muss uns im Gedächtnis sein. Daran müssen wir unser Handeln ausrichten. Es gilt, jeden Angriff darauf zu verhindern. Denn nie wieder dürfen Demokratie und Freiheitsrechte infrage gestellt und mit Füßen getreten werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die mindestens 136 Todesopfer an der Berliner Mauer und über 1.000 Todesopfer an der innerdeutschen Grenze sind eine Mahnung, unsere Demokratie zu verteidigen und die Freiheit zu sichern.

Wir gedenken an diesem Tag auch der Opfer der SEDDiktatur, die persönliche Nachteile, starke Repressalien und Verfolgung hinnehmen mussten, weil sie diesen Unrechtsstaat nicht länger hinnehmen wollten und konnten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, von zentraler Wichtigkeit für den Schutz der geschichtlichen Wahrheit ist deren gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung. Ein zentrales Instrument, um die Erinnerung an die Zeit der Unterdrückung, an die Verfolgten des kommunistischen Unrechtstaates und an das Regime der SED zu bewahren, ist es außerdem, Zeitzeugen mit unseren Schülern, die nach dem Ende der DDR geboren wurden, zusammenzubringen. Wer vorgestern Abend hier im Foyer des Hessischen Landtags Dr. Joachim Gauck gehört hat, der bewegend aus seiner ganz persönlichen Perspektive den Wert der Freiheit beschrieb, alleine schon durch die schnörkellose Beschreibung der Unterdrückung und des Klimas in der Unfreiheit in der grauen DDR, der weiß, dass nichts solche direkten Berichte ersetzen kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb rufe ich von dieser Stelle aus auch unseren Lehrerinnen und Lehrern in Hessen zu: Lassen Sie sich nicht von Geschichtsklitterern,die sich überall wieder aus den Löchern wagen, verunsichern. Vermitteln Sie Ihren Schülern die historische Wahrheit. Nutzen Sie die Möglichkeit zur Begegnung z. B. in der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen, die sich mit ihrem verdienstvollem Leiter Hubertus Knabe und seinen Mitstreitern immer wieder gegen die Angriffe der Linkspartei zur Wehr setzen muss,

(Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU – Bei- fall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

oder auch durch Besuche in Point Alpha oder der Gedenkstätte Schifflersgrund.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Lassen Sie nicht zu, dass unseren Kindern die Erfahrungen der deutschen Nachkriegsgeschichte und der Sehnsucht nach Freiheit vorenthalten werden. Die Sehnsucht nach Freiheit hat die Menschen in der DDR angetrieben und ihnen Mut zum Handeln gegeben. Das wird heute von vielen vergessen.

Gerade deswegen ist es erforderlich, die Freiheit, die mehr ist als die Abwesenheit von Unfreiheit, als besonderes Gut herauszustellen. Sie zu schützen bleibt unser Hauptauftrag.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Meinungsforschung hat gezeigt, dass die deutsche Einheit von der Mehrheit der Bevölkerung begrüßt wird. Aber sie weist auch darauf hin, dass die innere Einheit noch nicht vollständig vollzogen ist.Daran müssen wir uns aktiv beteiligen, sodass die kommenden Generationen in einem gänzlich geeinten, friedlichen und demokratischen Deutschland aufwachsen und leben können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,ich schließe vier Tage vor dem Tag der Deutschen Einheit mit vier Worten, die für alles stehen: Es lebe die Freiheit.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Greilich. – Das Wort hat Herr Kollege Lortz für die CDU-Fraktion.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 20. Jahrestag der deutschen Einheit am 3. Oktober ist für uns alle hier im Haus und draußen ein Tag großer Freude, ein Datum, bei dem wir im Rückblick Dankbarkeit, aber immer wieder auch ungläubiges Staunen mit einem Ereignis verbinden, das in Deutschland über viele Monate hinweg, vom Herbst 1989 bis zum Oktober 1990, Geschichte im besten Sinne des Wortes geschrieben hat.

Entgegen früheren Stationen der deutschen Geschichte war die Revolution vor 20 Jahren ein zutiefst friedlicher Vorgang. Die Macht und die Kraft des Wortes, um Havel zu zitieren, die Standfestigkeit, der Mut und die Überzeugung der Handelnden, ohne Gewalt ein Ende, einen Übergang und einen Neuanfang zu erreichen – dies waren Markenzeichen der guten deutschen Revolution.

Die Bilder in den Medien,die emotionalen Ausprägungen von Glücksgefühlen auf beiden Seiten einer zunächst durchlässiger werdenden, dann bröckelnden und zum Schluss in atemberaubendem Tempo sich auflösenden Begrenzung, Tausende Menschen mit Kerzen auf den Straßen Leipzigs und anderer Städte, die übervollen Kirchen und die zurückweichende Allmacht eines totalitären, verbrecherischen Staates, der am Ende nur noch Karikatur war – meine Damen und Herren, wir waren Zeitzeugen, und wir waren stolz ohne die üblicherweise geäußerten Vorbehalte und Kleingläubigkeiten,Deutsche zu sein.Die Kraft der friedlichen Revolution gab Impulse für unser ganzes Land.

Meine Damen und Herren, allen Menschen, die damals unter Gefahr für Leib und Leben auf die Straße gegangen sind und für ihre Überzeugungen eingetreten sind und die das Ende der Diktatur so eindrucksvoll eingeläutet haben, allen diesen Menschen gelten heute unser Dank, unsere tiefe Anerkennung und großer Respekt.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es waren insgesamt bewegende Momente deutscher Geschichte: der befreite Aufschrei der Menschen in der Prager Botschaft – Kollege Greilich hat davon gesprochen –, die Ankunft der DDRFlüchtlinge in der Bundesrepublik, die Großdemonstration in Ostberlin, der Auftritt Schabowskis im Fernsehen und der Abtritt Mielkes in der Volkskammer, der Fall der Berliner Mauer und die Öffnung der Grenze am 9. November, die Demonstranten, die die Stasizentrale stürmten.Wer wird dies je vergessen?

Als im Deutschen Bundestag spontan von Abgeordneten aller Fraktionen die Nationalhymne angestimmt wurde, spätestens dann wusste jeder: Hier und jetzt findet ein kolossales Stück Geschichte statt. Wir konnten sagen: Wir sind dabei gewesen.

Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit gehört nicht einer Partei. Wer hier politisch vereinnahmen will, zerstört den Wert des Stattgefundenen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er degradiert einen besonders herausragenden Teil deutscher Geschichte zu parteipolitischer Manövriermasse, und er wird der Bedeutung nicht gerecht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

In der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 heißt es:

Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

Dieser Grundgesetzauftrag war in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit etwas aus der Mode gekommen. „Ein Relikt der Nachkriegszeit“, „Die Einheit Deutschlands ist ein Phantom, nur noch Ewiggestrige können sich daran berauschen“, „Es wird Zeit, sich den Realitäten anzupassen“ – so und ähnlich lauteten die Parolen.

Meine Damen und Herren, in den meisten Parteien hatte man die deutsche Einheit glattweg abgeschrieben oder zumindest in weite Zukunft vertagt.Ich sage dies hier sehr deutlich: Auch und sogar in der Union gab es vereinzelt diese Stimmen. Sie bildeten nur eine Minderheit, aber sie waren vernehmbar.

Ungeachtet dessen war es aber die Union – das ist die historische Wahrheit –, die trotz Anfeindungen und zum Teil übler Beschimpfungen und Verleumdungen in den Achtzigerjahren an dem Ziel der deutschen Einheit festgehalten hatte, unbeirrbar und zu Recht.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Es ist auch geschichtliche Wahrheit, dass das beharrliche Festhalten am NATO-Doppelbeschluss, bei dem die Sozialdemokraten leider ihren Kanzler Helmut Schmidt einsam im Regen stehen ließen, eine Voraussetzung für den Zerfall und die Erosion der verbrecherischen Regime im Osten Europas war.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Prominente deutsche Politiker der Linken äußerten sich noch 1989 und 1990 kritisch und ablehnend zur deutschen Einheit. Der bekannte Chor der intellektuellen Bedenkenträger distanzierte sich und projizierte eine deutsche