Protokoll der Sitzung vom 29.09.2010

Vielen Dank, Herr Döweling. – Das Wort hat Frau Kollegin Cárdenas für die Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Kurz ein Wort zu Herrn Döweling. Sie haben gesagt, es wäre ein Albtraum für die Schulen, wenn sie nicht mehr sitzen bleiben lassen können. Das finde ich eine Unverschämtheit.

(Mario Döweling (FDP): Das habe ich so nicht gesagt! Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie das gehört!)

Damit beleidigen Sie sehr viele Schulen und Lehrer, die das seit Jahren umzusetzen versuchen und denen das zum Teil von dieser Regierung nicht gewährt wird. Es ist schon eine Unverschämtheit.

(Beifall bei der LINKEN – Mario Döweling (FDP): Sie müssen zuhören, Frau Kollegin! – Gegenruf des Abg. Gerhard Merz (SPD): Das ist eine Ihrer Stärken!)

Frau Präsidentin, auch wir finden es bemerkenswert, dass die größte Oppositionsfraktion jetzt ein eigenes Schulgesetz vorgelegt hat. Herzlichen Dank dafür. Die SPD hat auf ihrer Pressekonferenz kundgetan, sie habe fünf Jahre an diesem Gesetzentwurf gearbeitet, und damit könne nun endlich Chancengleichheit im Bildungssystem erreicht werden.

Auch wollte der Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion mit allen Fraktionen Spitzengespräche führen. Das ist schon angesprochen worden. Daraus ist bisher nichts geworden. Aber ebenso wenig wird sich mit dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächliche Chancengleichheit durchsetzen lassen. Das ist wenigstens unsere Einschätzung.

Exemplarisch einige Punkte, die wir unterstützen. Das Gesetz macht Schluss mit G 8. Zwar will es eine generell flexibilisierte Oberstufe statt, wie wir uns das wünschen, ein Abitur nach in der Regel 13 Jahren und mit sogenannten Enrichments für leistungsstarke Kinder. Aber durchaus: Dieser Schritt geht in die richtige Richtung und verdient Respekt.

Auch die Wahlmöglichkeit zwischen Religion und Ethik ist ein richtiger Schritt, ebenso wie die Wiedereinführung des herkunftssprachlichen Unterrichts – eine Forderung, die wir immer schon erhoben haben.

Auch die Bedeutung der individuellen Förderung sehen Sie ähnlich wie wir als sehr hoch an. Das Anrecht auf individuelle Sprachförderung ist richtig und wichtig. Die Nichtversetzung nach Klasse 6 nur in Ausnahmefällen begrüßen wir ebenso, auch wenn sie uns nicht weit genug geht. Auch die angedachte Stärkung der Schulkonferenz halten wir für einen Schritt in die richtige Richtung,der jedoch in Teilen deutlich konterkariert wird.

Nun zum weniger Positiven. Der vorgelegte Gesetzentwurf hat aus unserer Sicht mit Chancengleichheit recht wenig zu tun. Denn frei nach der Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ tastet er die Gliedrigkeit des Schulsystems nicht an, was aber Voraussetzung für wirkliche Chancengleichheit wäre. Er zementiert dies sogar noch.

Das tut er,indem er auf der einen Seite Hauptschulen und Realschulen zu einer Schule verschmelzen lässt und auf der anderen Seite die Gymnasien nahezu unangetastet lassen will. Vor solchem Hintergrund wird dann auch die Rede von der Inklusion zum schlechten Scherz, der auf Kosten der Kinder gehen muss.Wie soll denn ein nach wie vor hoch selektives – –

Frau Kollegin Cárdenas, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wagner?

Vielleicht am Schluss, wenn ich durch bin. Ich weiß nicht, wie viel ich schaffe.

(Leif Blum (FDP):Dann ist es keine Zwischenfrage mehr!)

Dann machen Sie eine Endfrage.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie soll ein nach wie vor hoch selektives, weil gegliedertes Schulsystem zu einem inklusiven Schulsystem mutieren? Meine Damen und Herren, das geht doch gar nicht. Oder sollen auch hier die erweiterten Realschulen allein die notwendigen Veränderungen zu einem inklusiven System erbringen? So geht es nicht.

Erstens.Wir wollen gute Bildung für alle Kinder und nicht nur die Chance auf gute Bildung. Ihr Ansatz, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ist: Es gibt eine begrenzte Anzahl guter Bildungsmöglichkeiten, und jede und jeder verdient eine Chance darauf. – Ich hoffe, ich habe Sie da falsch verstanden.Wir sagen:Nein danke,gute Bildung und nicht die Chance auf selbige ist ein Menschenrecht.

Zweitens. Liest man den Gesetzentwurf, fällt auf, dass die Grundausrichtung für das Schulsystem in diesem unreflektiert wirtschaftspolitisch begründet wird. In Ihrem Entwurf steht z. B.: „Durch die Erschließung aller Begabungspotenziale wird unser Land zukunftsfähig“, weil leistungsfähig. Dadurch „können die Unternehmen ihren Fachkräftebedarf und damit ihre Konkurrenzfähigkeit sichern“. Damit „können wirtschaftliche Prosperität, gesellschaftlicher Wohlstand und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes... gesichert werden“.

Kein Wort zu den Problemen einer verschärften Konkurrenzwirtschaft, nationalen und internationalen Verteilungsproblemen und -kämpfen, zu Sozialabbau und Entsolidarisierung und der Notwendigkeit einer kritischen Aufarbeitung.

Wie bereits gesagt: Bildung ist für uns mehr als nur Humankapital und Standortfaktor. Sie ist für uns Menschenrecht, das jedem und jeder in höchstmöglicher Qualität zusteht.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Zum Schulmodell der SPD für die Sekundarstufe. Nach dem Motto „allen recht und niemandem wehtun“ schlägt die SPD vor,in der Sekundarstufe I sollen Eltern ihr Kind wahlweise – politische Richtungsentscheidungen und Vorgaben gibt es hier wohl nicht – entweder auf eine Förderschule, Förderstufe, integrierte Hauptund Realschule, kooperative Gesamtschule, integrierte

Gesamtschule, ein Gymnasium oder eine Gemeinschaftsschule schicken können.

Meine Damen und Herren, so stehlen Sie sich aus der politischen Verantwortung und verdeutlichen nach außen nur Entscheidungsunfähigkeit und Orientierungslosigkeit aufgrund des Mangels an eigenen konzeptionell-inhaltlichen Vorstellungen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), zur SPD gewandt: Was habt ihr denen getan?)

Aus unserer Sicht fallen Sie damit noch hinter die Bildungspolitik z. B. der Hamburger CDU- und GRÜNENKoalition zurück.

(Zuruf des Abg. Leif Blum (FDP))

Viertens. Zum Thema Inklusion. Natürlich begrüßen wir ein klares Inklusionsgebot. Aber das geht nicht, wenn Sie sich erstens um die Frage der Sekundarstufe I herummogeln und wenn Sie zweitens nicht die Frage der Ressourcen aufwerfen. Sie müssen ein einklagbares Recht auf einen Platz in einer allgemeinen Schule über die ganze Schulzeit hinweg unter Gewährung der angemessenen Vorkehrungen – wie es neudeutsch heißt – in das Gesetz hineinschreiben, um deutlich zu machen, dass Inklusion nicht umsonst zu haben ist.Eben das scheint die SPD-Fraktion vorzuhaben.In der Pressekonferenz zu diesem Thema wurde gesagt, für das ganze Gesetz sollten Folgekosten von weniger als 40 Millionen c entstehen.

(Heike Habermann (SPD): Nein, das stimmt so nicht!)

Das stimmt so nicht, okay, dann können Sie das noch klarstellen. – Mehr sei mit den Haushältern der Fraktion nicht verhandelbar gewesen;das ist das,was wir gehört haben.

Es fehlt offensichtlich – so habe ich gedacht – an der Bereitschaft, die notwendigen Mittel zu mobilisieren, um sie dann investieren zu können.So hätten Sie damit nicht umgehen dürfen. Anscheinend haben Sie da andere Vorstellungen. Es geht aber nur, wenn Sie das entsprechend ins Gesetz aufnehmen, nämlich einen Rechtsanspruch und angemessene Vorkehrungen, sonst werden wir die Inklusion so nicht bekommen, wie wir sie vorhaben, dass sie die Förderung für alle Kinder nach ihren Bedürfnissen ermöglicht.

Fünftens. Zu den sogenannten Bildungsstandards und der sogenannten Kompetenzorientierung. Die SPD setzt zentral auf Kompetenzen und Standards als Kern der inhaltlichen Ausgestaltung der Schule.Wir haben dazu schon einiges in unserer Antwort auf die Regierungserklärung von Frau Ministerin Henzler ausgeführt. Die SPD scheint diesen zum einzig bestimmenden Faktor des schulischen Lernens zu machen oder machen zu wollen. Das kritisieren wir ebenso wie ihre Bemühungen, die selbstverantwortliche Schule in den §§ 131 bis 143 unabhängig von der Fachaufsicht zu machen.

Abweichungen von bestehenden Rechtvorschriften sollen in § 134 zu Regelabweichungsmöglichkeiten werden, die sich von der Stellenbewirtschaftung und Personalverwaltung bis zur rechtlichen Selbstständigkeit erstrecken. Auch die Rechtsform der rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts soll möglich werden. Das alles lehnen wir ab.

Ich würde gerne noch mehr zu anderen Punkten aus Ihrem Gesetzentwurf sagen, z. B. zu Kompetenzen und zur

selbstverantwortlichen Schule, zur christlichen Tradition, die Sie erhalten haben, zur demokratischen Verfasstheit der Schule, die uns zu wenig verankert ist.Wir werden die Debatte an anderer Stelle vertiefen müssen. – Vielen Dank. – Jetzt könnte Herr Wagner fragen.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Kollegin Cárdenas,Sie hatten sich über den richtigen Weg zum längeren gemeinsamen Lernen geäußert und hatten kritisiert, dass das nicht im Gesetz für alle Schulen vorgeschlagen wird. Könnten Sie uns erläutern, wie Ihre Partei in Berlin und in Brandenburg den Weg zum längeren gemeinsamen Lernen geht? Wenn ich es richtig weiß, setzt sie dort auch auf Freiwilligkeit und nicht auf Zwang. Wie passt dann Ihre Oppositionsrede zu dem, was Sie in Regierungsverantwortung tun?

Herr Wagner, Sie wollen mich jetzt aufs Glatteis führen, das ist mir schon klar. Darauf werde ich jetzt nicht eingehen. Ich denke, dass wir in einer Situation, wo wir in der Opposition sind, andere Möglichkeiten haben, als wenn wir in der Regierung sind.

(Allgemeine Heiterkeit)

Herr Wagner, wir regieren dort nicht alleine. Ich denke, dass wir in Berlin als LINKE sehr gute Positionen eingebracht haben, die von der SPD – da bin ich auch im Gespräch mit Frau Habermann – wieder zurückgenommen worden sind. Wir wären inzwischen an ganz anderer Stelle, wenn das nicht passiert wäre.

Als wir damals versucht haben, Ihre mögliche Regierung mit der SPD zu tolerieren, haben wir auch durchaus gute Anfänge gemacht, zu denen Sie hoffentlich weiter stehen. Daher haben wir gute Möglichkeiten, wieder zu solchen Schritten zu kommen. – Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank. – Nun hat für die Landesregierung Frau Kultusministerin Henzler das Wort.

Frau Präsidentin,meine Damen und Herren! Frau Habermann, Sie haben in Ihrem Beitrag mehrmals darauf hingewiesen, Ihr Ziel ist eine Schule, die alle Kinder annimmt, Ihr Ziel ist eine Schule, die sich um alle Kinder kümmert, Ihr Ziel ist eine Schule, die alle Kinder fördert. Falls Sie damit andeuten wollen, dass das in hessischen Schulen nicht gemacht wird, dann weise ich das auf das Entschiedenste zurück. In hessischen Schulen werden Kinder angenommen, individuell gefördert, und man kümmert sich um Kinder.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Zweitens haben Sie wieder bemängelt, dass das Elternhaus für die schulische Bildung der Kinder verantwortlich ist. Das ist es natürlich; denn Kinder sind fünf, sechs oder sieben Jahre alt, bevor sie in die Schule kommen. Die

Schule kann diese versäumten Jahre nicht unbedingt wieder aufholen.

Zum anderen haben Sie Hessen vorgeworfen,dass das bei uns auch so wäre. Das möchte ich korrigieren; Sigmar Gabriel hat dabei auch nicht Recht. Die ersten beiden Länder, in denen die soziale Herkunft beim schulischen Erfolg nicht durchschlägt, sind Berlin und Bremen. Ich möchte jetzt gar nicht darauf hinweisen, wo diese beiden Länder in der Leistungsbewertung stehen. Das dritte Bundesland, in dem die soziale Herkunft am wenigsten die schulischen Leistungen beeinflusst,ist nach der letzten Umfrage Hessen. Darauf bin ich sehr stolz.

(Beifall bei der CDU und der FDP)