Protokoll der Sitzung vom 18.11.2010

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens. – Das Wort hat der Abg. Grumbach für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

(Anhaltende Zurufe von der CDU – Gegenrufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Glocken- zeichen des Präsidenten)

Wir haben in den Zeitungen der letzten Jahre immer wieder gehört, dass es ein großes Unbehagen von Bürgerinnen und Bürgern in Bezug auf die politischen Parteien gibt. Wir haben soeben von Herrn Bellino eine Rede gehört, die beschreibt, warum das so ist.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Die Publikumsbeschimpfung von Peter Handke war eine intelligente Provokation. Bürgerinnen- und Bürgerbeschimpfung schadet der Demokratie.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Ich will das anhand der Art der argumentativen Muster noch einmal deutlich machen. Es gibt ein ganz simples, in der Politik immer wieder genutztes Muster. Man wählt aus Zehntausenden 100 oder 200 aus, redet über sie und versucht damit gleichzeitig, die Zehntausenden zu treffen. Es ist völlig unstrittig in diesem Hause: Gewalt ist kein Mittel der Politik.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Das ist auch bei 99,9 % der Demonstrierenden unstrittig. Trotzdem diskriminieren Sie alle.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Viel spannender wird es aber mit Ihrem Satz von der Miss achtung der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung. Es gehört zum Wesen der Demokratie, dass politische Entscheidungen immer wieder korrigiert werden können. Sie führen das doch gerade vor.

(Zuruf von der SPD: Ja!)

Ihr Ausstieg aus dem Ausstieg, die Aufkündigung des Atomkonsenses ist falsch, unvernünftig, aber demokratisch legitim.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es! – Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Genau so. Es ist falsch, unvernünftig, aber nicht nur legal, sondern auch legitim. Sie dürfen das. Demokratie lässt das zu. Wir haben anhand Ihrer Politik gelernt, dass das, was Generationen junger Menschen einmal gehofft haben, dass, wenn sie einmal etwas durchgesetzt haben, das nicht mehr zurückgeht, falsch war, dass wir jedes Mal neu kämpfen müssen, weil Sie es wieder zurückdrehen können, wenn Sie dafür die Mehrheit haben. Das gilt aber für alle anderen auch – nicht nur für Sie.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Was für Sie noch viel schlimmer ist: Die deutsche Verfassung hat eine viel weitgehendere Grundlage als Ihre Debatte. Art. 8 Grundgesetz ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts sehr viel weiter auszulegen, als Sie das tun.

(Zurufe von der SPD: Richtig!)

Wenn Sie z. B. die Entscheidungen vom 19.12.2001 anschauen, in denen beurteilt wird, ob eine Handlung als verwerflich zu bewerten ist – es geht um die Frage der Nötigung, also einen Straftatbestand –, dann sehen Sie, dass sich das ohne einen Blick auf den mit ihr verfolgten Zweck nicht feststellen lässt. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass es sein kann, dass in bestimmten politischen Situationen Protest über Grenzen hinausgeht, die sonst nicht überschritten werden dürfen, und das trotzdem durch Art. 8 des Grundgesetzes gedeckt ist.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Das missachten Sie, weil Sie ein anderes staatsautoritäres Politikverständnis haben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Ich sage das noch einmal: Gewalt ist kein Mittel der Politik. Der zweite Satz dazu lautet: Wer Gesetze bricht, muss mit den Konsequenzen leben. Das gehört dazu.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf von der CDU)

Nun ist es nicht meine Grundaufgabe, Herrn Trittin zu verteidigen. Aber ich finde das schon faszinierend. Es ist

eine Debatte, die so tut, als habe sich die Welt nicht geändert.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Es ist ein Unterschied, ob man den Dreck nach einem Kompromiss wegräumt, in dem es heißt: „Wir beenden die Produktion von Dreck“, oder aber ob man die Produktion von Dreck dadurch anheizt, dass man sozusagen immer neuen Dreck irgendwo hinschafft, damit neuer geschaffen werden kann. Das ist eine andere politische Grundlage.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Ohne Atomkompromiss und ohne Ausstieg ist die Frage der Endlagerung anders zu beurteilen. Mit Verlaub: Das, was die Bundesregierung da gemacht hat, hat in der Politik immerhin zur Erfindung eines neuen Begriffs geführt. Man nennt so etwas institutionelle Korruption.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Dr. Christean Wag- ner (Lahntal) (CDU): Unglaublich!)

Bleiben wir aber einmal bei der Frage nach dem Selbstverständnis von Parlamentariern.

(Holger Bellino (CDU): Haben Sie das gehört?)

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

(Zuruf von der SPD: Ja!)

Herr Kollege, ich darf Sie doch bitten, auch in der Debatte in der Aktuellen Stunde hier die parlamentarischen Gepflogenheiten einzuhalten. „Institutionelle Korruption“ empfinden wir in diesem Punkt als nicht parlamentarisch.

(Zurufe von der SPD)

Ich darf mir erlauben, darauf hinzuweisen.

(Beifall bei der CDU und der FDP – Minister Boris Rhein: Ungeheuerlich! – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Wenn man den politischen Gegner als korrupt bezeichnet!)

Na ja, wenn man Leuten 140 Millionen € schenkt und mit ihnen darüber verhandelt, wie viel Prozent man davon behalten darf, und das auch noch öffentlich tut, dann weiß ich nicht, was das ist.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf von der CDU: Wo sind wir denn hier? – Widerspruch bei der CDU)

Herr Kollege Grumbach, ich darf Sie bitten, mit mir nicht in eine Diskussion einzutreten. Ich habe Sie darauf hingewiesen. Ich halte diese Formulierung nicht für parlamentarisch und darf Sie bitten, sich daran zu halten.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Verleumdung, was der da macht! Das lassen wir nicht zu, dass Sie die Demokratie und demokratische Parteien hier als korrupt verdächtigen! Unterbrechung der Sitzung!)

Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen. Ich darf Sie alle bitten, sich etwas zu mäßigen. Es dient sicherlich auch nicht dem weiteren Fortgang des Tages, wenn wir jetzt den Ältestenrat einberufen. Aber das obliegt ganz Ihnen. Ich bin da ganz locker. Ich habe darauf hingewiesen, dass ich das nicht für parlamentarisch halte, und bitte Sie, dies alle so zur Kenntnis zu nehmen.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Kommen wir zurück zum Art. 20:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

Es gibt einen sehr spöttischen Vermerk von Wolfgang Neuss aus den Siebzigerjahren. Er hat diesen Satz vervollständigt mit „doch nie mehr kehrt sie wieder“. Ich glaube, dass der spöttische Vermerk ein bisschen mit der Rolle der Parteien zu tun hat. Art. 21 sagt:

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.