Protokoll der Sitzung vom 08.06.2011

(Günter Rudolph (SPD): Nur zu!)

Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass wir in Deutschland inzwischen viele tariffreie Zonen ohne jegliche tarifpartnerschaftliche Regelungen und Bindungen haben. Dem kommen Sie mit Ihren branchenspezifischen und mit Ihren regionalen Tarifverträgen einfach nicht bei; da hilft nur eine gesetzliche Regelung. Das muss doch in die Köpfe hineinzubekommen sein.

(Beifall bei der SPD)

Ich zitiere mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten folgende Situationsbeschreibung.

(Günter Rudolph (SPD): Es geht auch ohne Erlaubnis! – Gegenrufe von der CDU: Oh! – Günter Rudolph (SPD): Das ist so!)

Hören Sie genau zu:

Die Situation in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt ist in den letzten Jahren durch unterschiedliche Tendenzen gekennzeichnet. Während einerseits gut Qualifizierte höhere Löhne erhalten und in der jetzigen Wirtschaftssituation relativ gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, nimmt die Arbeitslosigkeit gerade unter niedrig qualifizierten Menschen weiter zu. Aber auch gut und sehr gut Qualifizierte werden andererseits zunehmend... unter Druck gesetzt, Lohnverzicht zu akzeptieren. Vor allem in Ostdeutschland ist... ein ständig wachsender Niedriglohnbereich festzustellen. Immer mehr Menschen sind über die Einkünfte aus Erwerbstätigkeit alleine nicht mehr in der Lage, sich und ihre Familien zu ernähren.

Deshalb spricht man sich für einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn aus. Die Höhe des Mindestlohns soll sich nach dem jährlich zu ermittelnden soziokulturellen Existenzminimum richten und nicht unter 7,50 € liegen.

Meine Damen und Herren, so lautet nicht etwa ein Parteitagsbeschluss der SPD oder eine auf einem Gewerkschaftstag erhobene Forderung, sondern das war bereits im Jahr 2007 die Position des Kolpingwerks. Die Grundlage dieses Beschlusses ist nichts anderes als ein zentraler Grundsatz der Katholischen Soziallehre. In der Sozialenzyklika „Gaudium et spes“ wird eindeutig davon gesprochen, dass Arbeit – ich zitiere – „so zu entlohnen ist, dass dem Arbeiter die Mittel zu Gebote stehen, um sein und der Seinigen materielles, soziales, kulturelles und spirituelles Dasein angemessen zu gestalten“.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Sehr gut!)

Man sollte doch annehmen, dass sich eine Partei, die sich ausdrücklich als „christlich-demokratisch“ bezeichnet, dieser Lehre nicht länger verschließen kann.

(Beifall bei der SPD)

Die christlich-sozialen Kollegen in Bayern scheinen unserer Erkenntnis nach einen Schritt weiter zu sein. Den Christlich-Demokratischen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, der Katholischen Soziallehre nicht direkt verpflichtet fühlen, möchte ich ein weiteres Zitat zurufen – ebenfalls mit der Erlaubnis des Präsidenten –:

Die Einführung einer allgemein verbindlichen Lohnuntergrenze auf Basis des Mindestlohns in der Leih- und Zeitarbeit ist absolut richtig. Sie entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in unserem Land.

Auch das war keiner von uns, sondern das hat Karl-Josef Laumann, der Vorsitzender der CDA, am 29. Mai 2011 auf dem 34. Bundestag der CDA gesagt. Ich zitiere weiter:

Nun kommt es darauf an, unsere Forderungen in der Partei weiter mehrheitsfähig zu machen. Die CDU kann nur dann als Volkspartei überleben, wenn wir als CDU eine sozial gerechte Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland betreiben. Auf den Herbst der Entscheidung muss jetzt der Sommer der Gerechtigkeit folgen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Ein guter Mann. Ich hätte es nicht besser formulieren können. Er gehört zu denen in der Union, die es begriffen haben.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Mein lieber Herr Kollege, Altbundeskanzler Helmut Schmidt hätte an der Stelle gesagt: Davon können Sie sich eine Scheibe abschneiden.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Ja, ja, all das kennen wir schon. – Festzustellen ist, dass es in der Union immer mehr werden, die sich diesem gesetzlichen Auftrag nicht mehr verschließen wollen. Wir fragen uns: Warum in Gottes Namen ist das in der hessischen Union und in der CDU-Fraktion in diesem Hause einfach nicht möglich? Warum schwenken Sie nicht auf diese vernünftige Linie ein?

(Beifall bei der SPD)

Wir fragen uns: Warum winden Sie sich wie ein Aal um diese Entscheidung – die Einführung eines Mindestlohns – herum? Aus unserer Sicht ist es höchste Eisenbahn, zu handeln. Deswegen muss von diesem Haus endlich eine glasklare Botschaft in Form eines Beschlusses ausgehen.

Wir fordern heute alle Fraktionen zu der Feststellung auf, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € pro Stunde überfällig ist. Sie ist nicht nur deshalb überfällig, weil wir damit die öffentlichen Haushalte um eine Summe in Milliardenhöhe entlasten, sondern auch, weil dadurch eine beträchtliche Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern spürbar mehr Geld zur Verfügung hat und weil dann in dieser Republik nicht ein Wettbewerb um den niedrigsten Lohn, sondern ein Wettbewerb um die beste Qualität stattfindet.

(Beifall bei der SPD)

Wir fordern die Landesregierung auch dazu auf, auf die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in entsprechender Weise einzuwirken.

Das gilt auch für die Fraktionen in unserem Hause. Von Herrn Dr. Wagner von der CDU hört man, dass er der Kanzlerin gelegentlich Botschaften schickt. Warum macht er das nicht auch einmal für einen guten Zweck?

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

Bei der FDP-Fraktion muss ich mich ausdrücklich dafür entschuldigen,

(Günter Rudolph (SPD): Was?)

dass sie in meiner Rede bisher nicht vorgekommen ist. Aber mir ist beim besten Willen nicht eingefallen, wie man Beton geschmeidig machen kann, ohne ihn zu sprengen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Decker. – Bevor ich Frau Kollegin Schott für die Fraktion DIE LINKE das Wort erteile, darf ich auf der Tribüne unseren ehemaligen Kollegen und jetzigen Regierungspräsidenten von Kassel, Herrn Dr. Lübcke, herzlich begrüßen.

(Allgemeiner Beifall)

Frau Schott, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist es mir eine ganz besondere Freude, hier heute über den gesetzlichen Mindestlohn sprechen zu können. Aus allem, was sich in den letzten Wochen dazu getan hat, schließe ich, dass es einer deutlichen Mehrheit in diesem Haus ebenso gehen müsste.

Im Interesse der neu hinzugekommenen Freunde des Mindestlohns möchte ich die Zeit nutzen, um mich mit einigen der beliebtesten Mythen seiner Gegner auseinanderzusetzen, damit wir alle in Zukunft für den Mindestlohn eintreten können. Es soll schließlich noch immer Zauderer geben, die überzeugt werden müssen.

Arm trotz Arbeit – das ist kein Phänomen, das nur gelegentlich am Rande der Gesellschaft vorkommt. 22 % aller Vollzeitbeschäftigten arbeiten im Niedriglohnsektor. Für Hessen heißt das: Es geht um 130.000 Männer und 165.000 Frauen. Das zeigt wieder einmal, dass die Armut sozusagen weiblich ist. Diese Männer und Frauen sind vollzeitbeschäftigt. Die Zahl derer, die für einen Niedriglohn arbeiten, ist insgesamt deutlich höher; denn wir wissen, dass insbesondere in den atypischen Beschäftigungsbereichen ganz schlechte Löhne gezahlt werden.

Es wird immer wieder behauptet, Mindestlöhne zerstörten Arbeitsplätze. Es gibt aber keine einzige Grundlage, auf der diese Behauptung beruht. Als Großbritannien den Mindestlohn eingeführt hat, gab es all diese Befürchtungen auch, die konnten aber tatsächlich nicht nachgewiesen werden.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Im Gegenteil!)

Wenn eine Friseurgesellin 3 € pro Stunde mehr verdienen würde und wenn diese gesamten Kosten auf den Kunden

abgewälzt würden, würde ein Haarschnitt ca. 75 Cent teurer. Niemand wird deswegen weniger zum Friseur gehen.

(Patrick Burghardt (CDU): Das haben die Tarifparteien vereinbart! Ihre Gewerkschaften haben das vereinbart!)

Im Gegenteil, der Lohnanteil in der Preiskalkulation ist in den meisten Branchen nicht der kostentreibende Faktor, auch wenn immer das Gegenteil behauptet wird. Die Lohnstückkosten liegen in Deutschland deutlich unter dem europäischen Durchschnitt.

Es gibt aus Sicht der LINKEN auch nicht den geringsten Anlass, Unternehmergewinne durch Aufstockerleistungen für Arbeitnehmer zu erhöhen; denn das ist es doch, was in den meisten Fällen tatsächlich passiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Es heißt immer wieder, es sei doch besser, ein Erwerbsloser finde eine Arbeit, egal, was er dabei verdient. Wenn das Einkommen zu niedrig ist, könne er ja aufstockende Leistungen beantragen. – Welcher Logik entspricht dieses Herangehen? Wir hinterfragen nicht, warum jemand so wenig verdient, sondern nehmen hin, ohne Rücksicht auf die Einnahmesituation eines Unternehmens, dass zu nied rige Löhne gezahlt werden. Für Unternehmen in Gründung, für Unternehmen in Krisen und für Unternehmen, die neue Arbeitsplätze schaffen, gibt es vielfältige Möglichkeiten der Unterstützung, die aus meiner Sicht auch legitim und notwendig sind. Nicht nachzuvollziehen ist aber, warum es einem Unternehmen gestattet ist, Menschen zu beschäftigen, ohne sie dafür angemessen, menschenwürdig, fair und existenzsichernd zu entlohnen.

(Leif Blum (FDP): So wie Sie!)

Diese Rechtslage bekämpft DIE LINKE seit ihrer Gründung, und ich verspreche Ihnen: Wir werden weiter um den gesetzlichen Mindestlohn kämpfen.

(Beifall bei der LINKEN)