Protokoll der Sitzung vom 29.06.2017

Kinder sind darauf angewiesen, vertrauensbildende Grunderfahrungen zu machen, die sie ein Leben lang tragen. Sie brauchen Ausdrucksformen und Deutungsangebote, um das ganze Spektrum möglicher Erfahrungen positiv verarbeiten zu können.

Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, Religionen, gesellschaftlichen Prozessen, Demokratie und wirtschaftlichen Themen ist selbstverständlich angepasst an den Bildungs- und Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes. Hier knüpft eine der grundlegenden Feststellungen an. Die Bildungs- und Betreuungseinrichtungen – hierzu zählen auch die Kindertagesstätten – spielen eine maßgebliche Rolle bei der Vermittlung von Werten, um die es hier geht. Bereits dort werden die Grundlagen gelegt. Dort sind Partizipationsmöglichkeiten und Anwendungsfelder möglich, sodass die Werte quasi auch erprobt werden können.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die eigentliche Schwierigkeit besteht doch darin, die Erwartungshaltung, die dort formuliert ist, mit der Realität abzugleichen. Vor diesem Hintergrund geht es auch nicht darum, die Bedeutung oder das Engagement, das gerade mit Blick auf die Prävention besonders wichtig ist, abzuschwächen. Es ist aber unbedingt notwendig, die Erwartungen, die die Politik und die Gesellschaft an Schulen und Lehrkräfte stellen, zu hinterfragen und die Entfaltungsmöglichkeiten zu überprüfen.

Alle sich ergebenden Fragestellungen sind nicht neu. Man kann sie schon bei Aristoteles finden. Er verweist in seiner Auseinandersetzung mit der ethisch-sittlichen Tugend darauf, dass diese nicht von Natur aus gegeben oder ihre Herausbildung die Folge eines biologischen Entwicklungsprozesses sei, sondern dass sie der Erziehung und der Gewöhnung bedürfe. Eine ähnliche Argumentation finden Sie in Immanuel Kants Schriften. Dieser negiert ebenfalls die Annahme, dass Tugenden angeboren seien. Diese müssten vielmehr durch die Ausübung der Beherrschung innerer Widerstände kultiviert werden.

Von diesen Werten und von diesen Erkenntnissen ausgehend, wird der Schule seit jeher die Aufgabe zugeschrieben, als Instanz der sekundären Sozialisation auf die Kinder und Jugendlichen einzuwirken und nicht nur fachliche Inhalte zu vermitteln.

Ich sage sehr deutlich, in diesem Zusammenhang ist Schule nicht allein. Vielmehr müssen auch Gruppenprozesse und Sozialisationsprozesse, die vorherrschend durch Familien, aber auch durch Peergroups, durch Freunde oder durch Klassen, aber auch durch politische Statements weitergegeben werden, untersucht und Strukturen sichtbar gemacht werden, die Vorurteile abbauen, um den Zielen der Wertevermittlung gerecht zu werden.

Das bedeutet für den schulischen Kontext, dass nicht nur spezielle Programme und Projekte ins Leben gerufen und Lerninhalte vermittelt werden, sondern dass die zu vermit

telnden Werte auch kritisch gelebt werden. Dazu bedarf es auch der kritischen Selbstreflexion des jeweiligen Lehrers, inwieweit chauvinistische, diskriminierende oder sexistische Sprüche geduldet oder selbst verwendet werden, sodass auf vorhandene Repertoires, Bilder und Erzählungen zurückgegriffen werden kann.

Meine Damen und Herren, Lehrerinnen und Lehrer müssen mutig eingreifen, wenn sich derartige Strukturen auf dem Pausenhof oder im Klassenraum wiederfinden. Kurzum: Die Werte, die wir definieren und über die wir uns hoffentlich einig sind, müssen gelebt werden. Es muss ein Schulklima vorherrschen, in dem sich die Ziele auch widerspiegeln.

(Beifall bei der FDP)

Schulen können an vielfältigen Programmen oder Projekten teilnehmen und trotzdem im Vergleich zu anderen Schulen, die die Themen nicht explizit bearbeiten, aber die im Schulalltag und im menschlichen Miteinander einen wichtigen Interaktionsprozess zwischen Lehrer und Schüler mit Leben füllen, mäßigere Erfolge erzielen. Das heißt, es kommt nicht immer darauf an, möglichst viele Programme aufzulegen und alles Mögliche zu erklären, sondern es geht darum, die Werte zu leben, sie zu zeigen und sie den Schülern durch das Vorleben zu vermitteln. Deshalb müssen diese Werte gelebt werden. Das ist letztlich der entscheidende Faktor.

Diese Werte dürfen nicht nur Ausdruck bloßer Lippenbekenntnisse sein, auch nicht indoktrinierend vermittelt werden. Vielmehr muss das einhergehen mit der Förderung von Mündigkeit, mit Anerkennung und Selbstständigkeit.

Insgesamt zeigt sich in diesem Zusammenhang aber auch, dass nicht nur der Schule, sondern auch verstärkt der Jugend- und Sozialarbeit eine wichtige Rolle zukommt. Das Zusammenwirken in multiprofessionellen Teams und die Arbeit mit interdisziplinären Ansätzen gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. Ich glaube, da haben wir in Hessen noch Nachholbedarf.

(Beifall bei der FDP)

Zum Beispiel gerade mit Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Thema

(Abg. Dr. Walter Arnold (CDU) führt mit Minister Dr. Thomas Schäfer ein Gespräch an der Regierungsbank.)

wenn ich störe, höre ich gerne auf – der religiös motivierten Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit dem Phänomen des Salafismus, mit dem wir uns hier schon mehrfach auseinandergesetzt haben, wird deutlich, dass bei der Auseinandersetzung und der Prävention nicht auf die herkömmlichen Angebote abgestellt werden kann, sondern dass die Zusammenarbeit zwischen Kultusbereich, Sozialbereich, Innen- und Justizressort notwendig ist – da haben wir großen Verbesserungsbedarf –, um geeignete Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Das zeigt die Antwort auf die Große Anfrage genauso wie die Antwort auf unsere Kleine Anfrage, Drucks. 19/3786.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, mit Blick auf die letzten Plenardebatten, in denen sich der Landtag intensiv mit den veränderten Anforderungen, den zunehmenden Aufgaben und der Belastungssituation der Lehrkräfte auseinandergesetzt hat, ist zu hinterfragen, wie die Verzahnung und die Zu

sammenarbeit sowie die Bereitstellung von Informationen, Beratungsangeboten und Angeboten intensiviert werden können, um die im Schulgesetz verankerten Zielsetzungen umsetzen zu können. Eines müssen wir an dieser Stelle wieder einmal ganz klar festhalten – und das beschäftigt uns im Moment dauernd –: Wir haben den Zustand einer extremen Belastung aller Lehrerinnen und Lehrer im Lande Hessen, sodass eines jedenfalls nicht weiter funktionieren kann, nämlich „einfach einmal obendrauf“, wie es die Koalition in anderen Bereichen praktiziert, z. B. bei der Frage der Inklusion, der Frage der Integration oder bei der Verstärkung der Ganztagsangebote. Die Lehrkräfte sind an der Grenze ihrer Belastung angekommen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, deswegen kann es nicht sein, dass wir einfach die Lehrkräfte mit zusätzlichen Anforderungen bedenken oder neue Module fordern. Vielmehr brauchen wir eine Anpassung der Aus- und Weiterbildung, die den Anforderungen und Herausforderungen gerecht wird.

Abschließend möchte ich kritisch auf den letzten Fragenkomplex der Großen Anfrage eingehen. Das betrifft die Themenfelder der Medienkompetenz und der digitalen Medien. Die Antworten auf die gestellten Fragen liefern ebenso wie die Antworten auf die Fragen in unserer Kleinen Anfrage zur gleichen Thematik nicht den Beweis, dass diese Landesregierung ein zukunftsweisendes Konzept hat. Vor allem zeigt sich, dass sich die Landesregierung nicht in die Karten schauen lassen möchte, wenn es darum geht, ein Konzept zu entwickeln. Gleiches gilt für die Frage, ob die Landesregierung überhaupt daran arbeitet. Wenn man die Antworten liest, könnte man vielmehr vermuten, dass sich die in der Enquetekommission „Bildung“ zeigende Grundskepsis aller anderen Fraktionen außer der Freien Demokraten gegenüber den Herausforderungen der Digitalisierung wie Mehltau auch über das Kultusministerium gelegt hat.

(Beifall bei der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, so geht es jedenfalls nicht in die Zukunft.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Nancy Faeser (SPD))

Das Wort hat Frau Kollegin Faulhaber für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Mit dieser Anfrage ist ein wichtiger Bereich angesprochen worden. Mir sind viele Dinge in den Antworten zur SPD-Anfrage aufgefallen, die ich jetzt hier bewerten könnte. Ich habe mich aber entschlossen, das Thema der Werte einmal grundsätzlicher anzugehen, weil Werte ja grundsätzliche Sachen sind.

Schule prägt Menschen nicht allein. Die beste Absicht scheitert nicht selten an den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Zunächst einmal möchte ich Folgendes sagen: Es ist gut, dass im Hessischen Schulgesetz ein Erziehungsauftrag im

Sinne der Hessischen Verfassung und des Grundgesetzes festgeschrieben wurde. Es ist gut, dass zahlreiche Projekte präventiv gegen rechtes Gedankengut und fanatische religiöse Ideen arbeiten und demokratische Strukturen eingeübt werden. Es ist gut, wenn der Anspruch formuliert wird, dass Respekt, Menschenrechte, Gleichberechtigung und das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen Bestandteile des schulischen Bildungsauftrags sind. So sollte das auch sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, Postulate müssen sich aber immer in der Praxis bewähren; denn sonst bleiben sie Postulate.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie also in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion das Folgende formulieren, dann muss das den Realitätstest bestehen. Ich zitiere:

Das Fach Politik und Wirtschaft reflektiert als Fach der politischen Bildung die Bedeutung der Werte Frieden, Freiheit, Sicherheit und gerecht verteilter Wohlstand gerade angesichts der bestehenden Ungleichzeitigkeit in der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung von Staaten und Regionen.

Es werden noch viele solcher Postulate genannt, denn es ist ja eine Große Anfrage.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Ich konzentriere mich aber auf das vorgetragene Zitat aus dem Abschnitt III mit dem Titel „Umsetzung des demokratischen Bildungsauftrags an Schulen“.

Frieden wird als Erstes genannt. Das finde ich angemessen. Die Praxis ist aber leider nicht entsprechend. Das Hessische Kultusministerium schloss vor einigen Jahren einen Kooperationsvertrag mit der Bundeswehr und ermöglicht Jugendoffizieren, für Waffendienst und Kriegseinsätze in Schulen zu werben. Ist das die Friedenserziehung, die hier eingefordert wird?

(Alexander Bauer (CDU): Freiheit ist auch ein Wert!)

Ich weiß, das sehen Sie nicht so. Sie werden mich von Ihrer Meinung aber nicht überzeugen.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Wir sind auch nicht für Kriegseinsätze!)

Ich habe zehn Minuten Redezeit. Jetzt kommt es darauf an, ob Sie im Schulunterricht aufgepasst und die Demokratieerziehung angenommen haben.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU und der FDP – Dr. Walter Arnold (CDU): Das war jetzt aber sehr belehrend!)

Friedenserziehung ist, wenn man lernt, dass Konfliktlösungen unter Ausschluss kriegerischer Mittel stattfinden müssen. Friedenserziehung ist eine Politik im Geiste der UNO. Sie ist auf Interessenausgleich und auf gerechte Wirtschaftsbeziehungen ausgerichtet, nicht auf Militäreinsätze.

(Beifall bei der LINKEN)

Waffenlieferungen und Krieg, das Werben um Nachwuchs aus den Schulen hat weder mit Demokratie noch mit Aufklärung, noch mit objektiver politischer Bildung zu tun.

Leider gehört es noch zur Ausnahme, dass sich beispielsweise die Ernst-Reuter-Schule II in Frankfurt dagegen engagiert und sich selbst zur „bundeswehrfreien Schule“ erklärt hat.

(Zuruf des Abg. Alexander Bauer (CDU))

Kommen wir zu Freiheit und Sicherheit. Jedes Kind weiß bei uns, dass Freiheit nicht das Recht des Stärkeren sein darf, aber auch, dass Freiheit ganz oft eben das Recht des Stärkeren ist. Was wird schon Kindern vermittelt? Freiheit ist sehr vom Portemonnaie abhängig. Die freie Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit hängt oftmals davon ab, ob die Eltern das Geld für den Bus, das Musikinstrument, den Theaterbesuch oder die Klassenreise aufbringen können.