Protokoll der Sitzung vom 29.08.2017

(Günter Rudolph (SPD): Das konnte er!)

Das konnte er gut. – Ich habe aber ein bisschen den Eindruck, dass zwar in der Rhetorik, wo man hin will, vieles aufgenommen wird, am Ende aber die Substanz, die notwendig ist, um diese Veränderungen zu erreichen, noch nicht vorhanden ist.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, dabei will ich ausdrücklich zugestehen, dass das kein triviales Thema ist. In der Verkehrspolitik haben in den letzten Jahrzehnten ziemlich viele systematische Fehler gemacht – und zwar parteiübergreifend.

(Günter Rudolph (SPD): Außer den GRÜNEN, das ist klar!)

Das ist klar. Die GRÜNEN machen nie Fehler. Das ist aber ein anderes Thema.

In der Zeit von Rot-Grün vor 1999 ist in Hessen unter dem Verkehrs- und Landesentwicklungsminister Lothar Klemm in der Verkehrs- und Infrastrukturpolitik noch ziemlich viel passiert. Davon profitiert das Land bis heute.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister, deshalb hilft es – auch angesichts einer Bevölkerungsprognose, die jeden hier im Raum alarmieren muss – nicht, sich allein auf Projekte zu beziehen, die im Bundesverkehrswegeplan angelegt sind, insbesondere dann

nicht, wenn es um den Schienenverkehr geht. Die Stadtentwicklungsforschung sagt uns in diesen Tagen und Wochen, dass allein in Frankfurt bis 2030 mit einem Nettozuzug von bis zu 100.000 Neubürgerinnen und Neubürgern zu rechnen ist. Wenn wir in der Großregion Frankfurt/RheinMain, von Aschaffenburg bis Mainz, von Bensheim bis Gießen, mit einen Nettozuzug von bis zu 240.000 Menschen rechnen müssen, dann haben wir ein substanzielles Infrastrukturthema. Deswegen ist der Satz – auch dazu hätte ich mir heute ein bisschen mehr erwartet – des „Vorrangs von Sanierung vor Neubau“ angesichts dieser Bevölkerungsentwicklung so richtig wie falsch. Wir haben in der Frage eines möglichen Ringes um den Großraum Frankfurt/Rhein-Main einen Fingerzeig gegeben, welche Fragen wir eigentlich aufzurufen haben. Es wird ohne einen Neuund Ausbau der Infrastruktur – ich sage ausdrücklich dazu: mit einem absoluten Vorrang für den schienengebundenen Nah- und Regionalverkehr – nicht gehen.

(Beifall bei der SPD)

Dazu hätte ich mir in der Tat heute ein bisschen mehr erwartet – mit Blick darauf, dass Sie gesagt haben, Sie hätten eine Strategie. Nun weiß ich ja, dass der alte Grundsatz lautet: Über das, was die Strategie gewesen ist, entscheidet man am Ende. – Ob das, was Sie zur Energiewende gesagt haben – Sie werden sich dunkel daran erinnern, dass ich vieles von dem ausdrücklich begrüßt habe, was Sie hier erklärt haben –, heute noch haltbar ist, ob wir beispielsweise mit Blick auf die Herausforderungen der E-Mobilität nicht ganz andere Fragestellungen hinsichtlich der Energieerzeugung und -speicherung zu lösen haben – über die Öko- und Energiebilanzen bei der E-Mobilität habe ich noch gar nicht gesprochen –, diese Frage muss zumindest aufgerufen werden.

Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Ihr Hinweis darauf, dass Sie jetzt viel, viel mehr Geld für E-Busse aufwenden, freut mich. Ich weiß, dass Sie Marketing wirklich exzellent können – das erkenne ich neidlos an –, aber ich will Ihre 5 Millionen € für E-Busse, die Sie jetzt ins Schaufenster hängen, einmal übersetzen. Wenn ich die Konzeption richtig verstanden habe, die Sie vorschlagen, wird es am Ende so sein, dass bei den E-Bussen angesichts der Mehrkosten in Höhe von 400.000 bis 450.000 € 40 % der Anschaffungskosten gefördert werden.

Das heißt, Sie werden mit einem Finanzvolumen von etwa 5 Millionen € – Sie haben auf die Programme hingewiesen, die Sie bisher hatten – pro Jahr 25 Fahrzeuge in Hessen fördern können, wenn alles gut läuft.

(Günter Rudolph (SPD): Ach, doch!)

Bei einer geschätzten Gesamtzahl von etwa 3.000 Bussen im öffentlichen Personen- und Schülernahverkehr brauchen wir etwa 100 Jahre, wenn wir diese Ausbauschritte zugrunde legen. Nun muss man fairerweise dazusagen, dass das Bundesprogramm mit der 80-%-Förderung viel lukrativer ist. Insofern wird es da ein paar Entwicklungen geben.

Ich will nur darauf hinweisen, weil Sie, auch in Vorbereitung dieser Regierungserklärung, wieder schöne dpa-Meldungen produziert haben, in denen steht, wie viel Geld Sie jetzt aufwenden, um die E-Mobilität zu fördern. Gemessen an der Aufgabe sind das alles kleine Bausteine. Damit anschließend nicht wieder das Geheule anfängt, sage ich ausdrücklich dazu, das sind auch richtige Schritte.

Aber angesichts der Größe der Aufgabe bei der Mobilitätsund Verkehrswende – deswegen werden wir Ihr Diskussionsangebot im Rahmen des Mobilitätskongresses ausdrücklich annehmen; ich bin gespannt, ob es nur ein Lippenbekenntnis ist oder ob es ernst gemeint ist – sind das alles ganz kleine Kieselsteine auf dem Weg zu einer Veränderung, bei der wir uns auch Planungs- und Bauzeiten wie bisher nicht mehr erlauben können. In den frühen Siebzigerjahren hat man angefangen, über die Nordmainische SBahn zu diskutieren. Wenn wir mit dieser Planungs-, Entscheidungs- und Baugeschwindigkeit die Verkehrs- und Mobilitätswende der Zukunft angehen, dann gute Nacht, Marie. Dann wird das mit dem Projekt überhaupt nichts.

(Beifall bei der SPD)

Aus unserer Sicht – auch da hätte ich mir ein paar Bemerkungen mehr erlaubt; ich will einen Hinweis darauf geben, in welche Richtung man unserer Auffassung nach denken muss – brauchen wir eine Weiterentwicklung der Verkehrsverbünde und der lokalen Nahverkehrsgesellschaften zu Mobilitätsdienstleistern, die deutlich mehr sind als ein bisschen Planung und Organisation. Ich glaube übrigens, dass wir auch da in der Sache nicht so weit auseinanderliegen. Das würde mich zumindest sehr wundern. Aber ich sehe, dass da überhaupt kein Druck ausgeübt wird, um die Veränderungsgeschwindigkeit zu erhöhen, was aber notwendig ist. Wir können die Aufgaben, die vor uns liegen, nicht im Schneckentempo organisieren.

Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen daran – ich will zumindest ganz kurz den Blick darauf lenken; das ist keine sozialdemokratisch, sondern eine grün geführte Landesregierung –: Ich finde, dass dazu auch eine professionellere Organisation in der Regierung und in den Ministerien gehört. Die Schaffung einer Einrichtung wie der Abteilung für nachhaltige Mobilität im baden-württembergischen Verkehrsministerium zeigt, was möglich ist, wenn man die Aufgabe ernst nimmt und ihre Lösung wirklich vorantreiben will.

Ich will, auch ein bisschen mit Blick auf die Zeit – aber das ist ein Thema, das mir heute besonders wichtig ist –, einen Punkt aus Ihren Bemerkungen aufgreifen: das Thema Landesstraßenbau und -sanierung. Sie erklären hier, Sie könnten Beton. Ich ergänze: Asphalt, Schotter und alles, was dazugehört. Sie verweisen darauf, dass Sie viel Geld dafür aufwenden. Aber Sie wissen – das müssen Sie in Ihre 3-Milliarden-€-Liste noch mit aufnehmen –, dass die Kosten für die Sanierung und Modernisierung der Straßeninfrastruktur, nach den Daten geschätzt, die Sie uns selbst liefern, bei mindestens 80 Millionen € zusätzlich im Jahr liegen, unter anderem deswegen, weil, wie Sie klar beschreiben, etwa 47 % aller Kommunal- und Landesstraßen in einem schwierigen bis schlechten Zustand sind.

Das heißt, Sie können sich hier jedes Jahr dafür feiern, auch angesichts von Rekordeinnahmen – im Haushalt sind Rekordeinnahmen zu verzeichnen –, dass Sie da ein bisschen mehr machen. Aber wir laufen den Sanierungsbedarfen aus den letzten Jahrzehnten hinterher, die wir nicht befriedigt bekommen, wenn es bei den Instrumenten der heutigen Zeit bleibt.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt habe ich noch nichts zu den Autobahnen A 49 und A 44 gesagt. Die Bagger rollen da immer noch nicht, zumindest nicht besondere häufig. Dennoch will ich eine Bemerkung zu dem Thema Gemeindeverkehrsfinanzierungs

gesetz machen, auf das wir schon lange und sehnsüchtig warten, übrigens auch mit Blick auf den Ausbau des Schienenschnellverkehrs – Stichwörter: Nebenstrecken, Lumdatalbahn und Horlofftalbahn, deren Reaktivierung zwingend notwendig ist, um die Verkehrssituation zu verbessern. Auch Sie wissen, dass wir seit Jahrzehnten darüber diskutieren. Ich will das heute einmal angesprochen haben.

Sie stellen heute eine große Zahl – 100 Millionen € – für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz der neuen Ausgestaltung ins Schaufenster. Ich will das ein kleines bisschen relativieren. Es bedeutet, es sind 8 Millionen € mehr als heute in der Finanzierungsstruktur. Das relativiert ein kleines bisschen Ihre Aussagen.

(Günter Rudolph (SPD): Immerhin 10 %!)

Ich betone das alles deswegen, weil in diesem Raum klar sein muss, dass die Verkehrs- und Mobilitätswende eine der wirklich großen Aufgaben für die nächsten Jahre ist und es nicht hilft, sich das schönzureden, das Ganze noch mit ein paar Haushaltsmitteln zu versehen und zu glauben, dass damit am Ende alles wird. Das gilt übrigens genauso für die Erneuerungsinvestitionen sowohl bei den Bussen – über E-Busse habe ich gerade geredet – als auch bei den Sund U-Bahnen. Auch dort haben wir enorme Investitionsdefizite.

Ich will kurz nach Berlin schauen. Der Berliner Senat hat entschieden, mit den Berliner Verkehrsbetrieben ein Paket von 100 Millionen € jährlich zur Investitionsverstetigung zu organisieren. Nun weiß ich auch, dass das nicht vollständig zu vergleichen ist; aber einen Investitionsfonds aufzulegen, mit dem man in den nächsten Jahren substanziell versucht, auch die notwendige Erneuerung des Fuhrparks zu finanzieren, ist überfällig.

Über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von Schüler-, Landes- und anderen Tickets brauchen wir hier nicht zu streiten. Aber im Kern müssen Sie heute doch darum beten, dass nicht alle diese Dinger in Anspruch nehmen. Die Verkehrsverbünde erklären Ihnen nämlich schon heute, dass es auf der Schiene keinerlei Kapazitäten mehr gibt, um all die Personen zu transportieren. Sie können sich gern einmal morgens zwischen 7 Uhr und 9 Uhr in die Regionalbahn setzen, die von Gießen nach Frankfurt fährt: Gestapelt bekommen Sie das hin. Sie kommen vielen Leuten so nah, wie Sie es niemals wollten.

Das ist ein Hinweis darauf, dass wir ein riesengroßes Thema bei den Erneuerungsinvestitionen haben. Auch darauf hätte ich heute gern einen Hinweis gehabt; denn es ist dringend notwendig, einen solchen Fonds aufzulegen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will mit Blick auf die sehr kurze Redezeit, die ich noch habe, einen Punkt aufgreifen, der mir am heutigen Tag ebenfalls sehr wichtig ist.

(Zuruf von der CDU)

Ja, das ist leider so. Ich finde es auch sehr bedauerlich, aber es lässt sich manchmal nicht vermeiden. Vielleicht hätte ich heute weniger Staumeldungen haben müssen. Aber das ist nun einmal die Wirklichkeit. Auch da gilt der alte Grundsatz: Man muss das Leben so nehmen, wie es ist, aber man darf es nicht so lassen.

(Beifall bei der SPD)

Ich will ein paar Anmerkungen zu dem Thema Automobilland machen. Der Herr Minister hat nämlich am Anfang etwas zu dem Thema Dieselaffäre gesagt und zu den möglichen Veränderungen, die daraus entstehen.

Ich will gleich zu Beginn sagen: Ja, die deutsche Automobilindustrie steht vor gewaltigen Herausforderungen. Aber es geht nicht nur um die Automobilindustrie; denn die Veränderungen von Mobilität, auch der Produktionszyklen von Autos, werden auch uns fordern: in der beruflichen Bildung, in der Industriepolitik. Ich finde es übrigens ein riesengroßes Problem, in welcher Art und Weise die Industriepolitik derzeit von einigen Interessierten verächtlich gemacht wird; denn ich glaube, am Ende wird diese Herausforderung nur gemeinsam von Industrie, Gewerkschaften, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gelöst werden können. Sie wird nie von nur einem gelöst werden.

(Beifall bei der SPD)

Es geht darum, dass durch den Beschiss einiger Vorstände samt einigen Technikverantwortlichen eine ganze Branche und ihre Beschäftigten in einer Art und Weise unter Druck geraten, die hoch emotionalisiert. Das macht, was die Transformation der deutschen Automobilindustrie betrifft, manches Thema noch schwieriger. Die Entkarbonisierung – ich sage ausdrücklich nicht Elektrifizierung – des Verkehrssektors, die eine Technologieoffenheit auch bei der Antriebstechnologie erfordert, ist eine der ganz großen Aufgaben. Da geht es nicht nur um Batterien.

Ich will nur einen kleinen Hinweis geben. Vor wenigen Tagen war ich bei der Fritz Winter Eisengießerei in Stadtallendorf. Sie haben dort deutlich gesagt, dass, wie man erkennt, wenn man sich die Öko- und die Energiebilanz betrachtet, ihre neuen Gussmethoden bei einem klassischen Bus zu erheblichen Vorteilen gegenüber der derzeit gängigen Produktion von Alumotoren führen. Warum? Im direkten Vergleich mit der neuen Produktion müsste ein Alumotor, so, wie er heute Standard in der Leichtbauweise ist, 800.000 km fahren, um die Energie- und CO2-Bilanz zu erreichen, die mit dieser Gussmethode erzielt wird.

Das wurde unabhängig untersucht. Deswegen müssen wir auch bei den Fragen der Automobilindustrie weg von einer isolierten Betrachtung von Tank und Rad hin zu einer Gesamtbetrachtung, weil wir uns ansonsten auch an den Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Automobilindustrie und einer wirklich nachhaltigen Mobilitätsentwicklung vergreifen. Das ist mir am Ende sehr, sehr wichtig.

(Beifall bei der SPD – Vizepräsident Wolfgang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Ich komme zum Schluss mit einem kleinen abschließenden Hinweis. Ich habe mir hier noch einen Punkt aufgeschrieben, als Sie das am Ende angesprochen haben, nämlich das Thema der Luftverkehrswirtschaft. Sie hatten ja im letzten Jahr einmal angekündigt, dass Sie vor der Sommerpause etwas zum Thema Lärmobergrenze und auch den Perspektiven der Mobilitätsentwicklung in diesem Bereich sagen. Wir warten immer noch darauf.

Sie hatten eigentlich angekündigt, dass Sie ordnungsrechtlich vorgehen wollen. Wir hätten gern heute gewusst, wie Sie damit umgehen. Langer Rede kurzer Sinn: Für uns ist die Mobilitäts- und Verkehrswende deutlich mehr, als nur zu beschreiben, wie man sich im Jahr 2035 fortbewegt. Das sind übrigens fünf Jahre mehr, als der Bundesverkehrswegeplan und der Landesentwicklungsplan gehen –

warum auch immer. Es geht nicht nur darum, darüber zu reden, wie das im Jahr 2035 geht.

Für uns geht es vor allem darum, wie wir die Mobilitätssituation der Menschen in Stadt und Land für Pendlerinnen und Pendler und für die Beschäftigten dauerhaft verändern. Ich finde, dazu ist heute von Ihnen entschieden zu wenig gesagt worden. Das bedauere ich. Aber wir werden ganz sicher auch im Rahmen des Mobilitätskongresses im Gespräch bleiben. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und der Abg. Mür- vet Öztürk (fraktionslos))

Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel.

Meine Damen und Herren, noch eingegangen und an den Plätzen verteilt ist ein Dringlicher Antrag der Abg. Lotz, Gremmels, Löber, Müller (Schwalmstadt), Schmitt, Siebel, Warnecke, Grüger (SPD) und Fraktion betreffend Erhalt des Landgestüts Dillenburg, Drucks. 19/5198. Wird die Dringlichkeit bejaht? – Das ist der Fall. Dann wird dieser Dringliche Antrag Tagesordnungspunkt 70, und die Redezeit beträgt fünf Minuten je Fraktion.