Protokoll der Sitzung vom 31.08.2017

(Beifall bei der SPD)

Schauen wir uns einmal die Zahlen genauer an. Von 2012 bis 2016 haben die CDU-geführten Landesregierungen in Hessen rund 430 Stellen in der Justiz abgebaut, seit 2003 betrachtet sogar rund 1.200 Stellen. Auch an Ausbildungsplätzen ist deutlich gespart worden. Während es im Jahr 1999 noch 215 Ausbildungsplätze für den Beruf der Justizfachangestellten gab, ist die Zahl der Ausbildungsstellen bis heute um 53 % reduziert worden.

Meine Damen und Herren aus den Regierungsreihen, Sie haben über Jahre hinweg einen Ausverkauf der hessischen Justiz vorgenommen, der für einen funktionierenden Rechtsstaat nicht mehr tragbar ist.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN- KEN – Holger Bellino (CDU): Ach, du lieber Gott!)

Was ist das Ergebnis dieses Ausverkaufs? Wie aus den Antworten zu der Großen Anfrage hervorgeht, ist der Zustand der hessischen Justiz höchst besorgniserregend. Die über dem Bundesdurchschnitt liegenden Verfahrensdauern in Hessen ziehen sich wie ein roter Faden durch die ordentliche Gerichtsbarkeit und durch die Fachgerichtsbarkeit: immer länger werdenden Verfahrensdauern in Zivil- und Strafsachen, im Bereich des Jugendstrafrechts, im Bereich der Ordnungswidrigkeiten, in Familienrechtsverfahren, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in der Sozialgerichtsbarkeit, in der Finanzgerichtsbarkeit.

Die Belastungssituation der Justizbediensteten ist enorm. Da wundert es auch nicht, dass in einzelnen Bereichen die Anzahl der Verzögerungsrügen im Jahr 2016 den Höchststand erreicht hat. Es verwundert nicht, dass die Personalbelastungsquote in der hessischen Justiz mittlerweile chronisch und grundsätzlich bei deutlich über 100 % liegt, bei Richtern in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zuletzt bei 159 %.

(Günter Rudolph (SPD): Uiuiui!)

Im höheren und im gehobenen Dienst beim Landessozialgericht lag sie zuletzt bei 149 %, im Familienrechtsbereich zuletzt bei 120 %, usw. – Das sind Ihre Bilanzen, meine Damen und Herren aus den Reihen der Landesregierung, und das ist Ihr Versagen, Frau Justizministerin.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LIN- KEN)

Bundesweit zählt der Richterberuf seit jeher zu den angesehensten Berufen. In Hessen hat sich allerdings die entsprechende Selbstwahrnehmung der Richterinnen und Richter negativ gewandelt. Die Attraktivität des Richterberufs hat abgenommen. Die Gehälter in der hessischen Justiz haben sich längst von der allgemeinen Lohnentwicklung abgekoppelt. Justizbedienstete leisten sehr gute, intensive und hoch qualifizierte Arbeit. Sie setzen sich mit all ihren Kapazitäten für unseren Rechtsstaat, für unsere Demokratie und für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit ein.

(Manfred Pentz (CDU): Genau!)

Diese Landesregierung ist jedoch nicht in der Lage, Justizbediensteten die erforderliche Wertschätzung und Anerkennung entgegenzubringen.

(Manfred Pentz (CDU): Das stimmt nicht!)

Abend- und Wochenendarbeit, Erschöpfung, Burn-outs und Frustration sind für hessische Justizbedienstete häufige Vorkommnisse.

(Beifall bei der SPD)

Ob Sie all dies gerne hören oder nicht, Frau Justizministerin: Tatsache ist, dass Ihr Maßnahmenplan zur Stärkung der hessischen Justiz nicht geeignet ist, all diese Missstände zu beseitigen. Ja, Sie haben vergangenes Jahr beschlossen, Ihr Personalabbauprogramm vorerst zu stoppen und zusätzlich 250 Stellen in der Justiz zu schaffen. Angesichts der Tatsache, dass Sie in den letzten Jahren 430 Stellen bzw. seit 2003 sogar 1.200 Stellen abgebaut haben und zusätzlich die Reduzierung der Wochenarbeitszeit für Beamte von 42 auf 41 Stunden kompensiert werden muss, kann Ihr Maßnahmenpaket nur als Tropfen auf den heißen Stein gewertet werden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Erst gestern gab es in der „hessenschau“ einen Bericht über die gnadenlos überlasteten Verwaltungsgerichte. Der Frankfurter Verwaltungsgerichtspräsident Gerster wertete die in diesem Jahr in der Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffenen Stellen als unzureichend und forderte noch mehr Personal.

(Heike Hofmann (SPD): Und er ist kein Sozialdemokrat!)

Genau. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nenne Ihnen gerne zur Veranschaulichung des Problems zwei weitere Beispiele, dieses Mal aus dem Rheingau-TaunusKreis, beide aktuell aus diesem Jahr. Der Rüdesheimer CDU-Bürgermeister ist gerade wegen Vorteilsannahme und versuchter Erpressung zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden. Er sieht keinen Grund, zurückzutreten, weil er ja nicht vorbestraft sei. Warum ist er das nicht? Nach Gesetzeslage gilt man ab einer Verurteilung zu mindestens 91 Tagessätzen als vorbestraft, er aber hat nur 70 bekommen.

Ich zitiere aus der „FAZ“ vom 21. Juni 2017:

Das Gericht erkannte damals ein „eklatantes Fehlverhalten“ und warf sogar die Frage nach dem Amtsverständnis … [des Bürgermeisters] auf. Das Gericht hätte deshalb „unter Abwägung aller Gesichtspunkte eine Geldstrafe von 140 Tagessätzen als schuldangemessen erachtet“, wenn nicht zwi

schen Tat und Hauptverhandlung ein Zeitraum von mehr als 18 Monaten gelegen hätte.

(Zurufe von der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur weil die Staatsanwaltschaft wegen Überlastung so lange für ihre Ermittlungen brauchte, ist der Rüdesheimer CDU-Bürgermeister heute nicht vorbestraft.

(Zurufe von der SPD – Gegenrufe von der CDU)

Das zweite Beispiel. Ein ehemaliger Bürgermeister wird von seinem Nachfolger im Amt angezeigt. Seit einem halben Jahr ruhen die Ermittlungen. Warum? – Ich zitiere aus einem Schreiben der Staatsanwaltschaft Wiesbaden vom März 2017:

In dem Ermittlungsverfahren wird mitgeteilt, dass das Hessische Landeskriminalamt bedauerlicherweise mitgeteilt hat, dass die Ermittlungen mangels personeller Ressourcen derzeit nicht vorangebracht werden können. Aus diesem Grunde ist auch die Auswertung der sichergestellten Beweismittel noch nicht abgeschlossen, weshalb ein Verfahrensabschluss derzeit nicht absehbar ist.

(Marius Weiß (SPD): Das ist ja skandalös! – Gegenruf des Abg. Manfred Pentz (CDU))

Frau Justizministerin, Herr Innenminister, hier geht es schon lange nicht mehr um komplizierte Verfahren, die eben leider mal länger dauern.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

Hier geht es um einen Rechtsstaat, der kapituliert, weil ihn diese CDU-geführte Landesregierung und die vorherigen personell kaputtgespart haben.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Das ist ein Skandal, den Sie verursacht haben. Sie haben den Skandal verursacht.

(Manfred Pentz (CDU): Wissen Sie eigentlich, wer hier 60 Jahre dieses Land regiert hat? Das ist die SPD!)

Seien Sie ehrlich, und hören Sie endlich auf, den Menschen vorzugaukeln, die Partei zu sein – –

(Zuruf des Abg. Manfred Pentz (CDU))

Herr Kollege Pentz, zum letzten Mal.

Hören Sie endlich auf, den Menschen vorzugaukeln, die Partei zu sein, die sich für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger einsetzt.

(Beifall bei der SPD)

Fangen Sie endlich an, die Justiz als das zu behandeln, was sie ist, nämlich die dritte Staatsgewalt im Land. – Danke schön.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD)

Vielen Dank. – Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Dr. Blechschmidt von der FDP-Fraktion.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ein Vertreter der Regierungskoalition jetzt antworten würde. Aber vielleicht dient es auch dem Thema, dass ich jetzt etwas dazu sage.

(Günter Rudolph (SPD): Allemal, Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Clemens Reif (CDU): Wir sind erschüttert!)

Ich danke für den Zuruf, weil er mir die Arbeit erleichtert. – Ich bin von Beruf Rechtsanwalt und Notar und weiß, weil ich in meinem Beruf dreieinhalb Jahre etwas intensiver tätig war, bis ich nachrücken konnte, in welchem Zustand die Justiz ist. Ich danke für das Vorlob. Ob ich es am Ende von Ihnen noch bekomme, Herr Rudolph, weiß ich nicht.

(Günter Rudolph (SPD): Dann nehme ich es zurück!)

Ich male das Bild nicht so düster, wie die SPD das tut. Ich sage das mit der Praxiserfahrung, die ich habe, weil ich auch eine andere Einstellung zur Staatsanwaltschaft habe, die eineinhalb Jahre ermittelt und nicht nur belastende, sondern auch entlastende Beweismittel hat. Ich sage das jetzt unabhängig vom Fall. Mir ist auch relativ egal, ob ein Richter bei der SPD, der CDU oder FDP ist oder ein Angeklagter von der CDU oder der FDP, ein Bürgermeister oder ein Geschäftsmann ist.

(Manfred Pentz (CDU): Das ist der Punkt!)

Ich will es einmal wegbringen von dem Politischen, sondern darüber reden, wie die Justiz sich darstellt. In den fünf Jahren habe ich nicht zu einer Großen Anfrage im Bereich Recht reden können, auch nicht in der Vorsitzendenfunktion, die ich innehatte. Nach dreieinhalb Jahren Abstinenz vom Landtag ist es vielleicht gut, dass ich, wenn ich mich mit der Großen Anfrage und den Erkenntnissen beschäftige, ein bisschen die Praxis einfließen lasse.

Das Schöne ist: Die Große Anfrage wurde im Januar eingebracht und wurde sehr schnell beantwortet. Es war eines der ersten Machwerke, die ich vorfand. Ich hatte auch ein bisschen mehr Zeit, mich damit zu beschäftigen, mehr Zeit, als ich heute haben würde. Ich habe mir die Zahlen angeschaut und im Sommer eine alte Tradition der FDP fortgeführt: die Sommerpause zu nutzen und zu Gerichten zu gehen und Gespräche zu führen. Nicht, dass man als Anwalt, in Bad Homburg und Usingen beim Landgericht und Arbeitsgericht agierend, blind wird, sondern dass man auch einfach einmal nach Kassel fährt und dort hört, wie es in der Justiz aussieht.