Herr Kollege Degen, ich muss Sie einmal enttäuschen: Von den 28 Ländern in der Europäischen Union hat Deutschland historisch gesehen und seit ganz, ganz vielen Jahren die niedrigste Jugendarbeitslosenquote, die in diesem Jahr auf einen Tiefstand von 6,6 % gesunken ist. Das heißt, unser Bildungssystem führt in keine Sackgasse. Unser Bildungssystem gewährleistet alles, bereits in der Kita beginnend, von der Grundschule über die weiterführenden Schulen – zum Teil in einem dualen Ausbildungssystem – bis hin zum Abitur und auf direktem Wege an die Universitäten, selbst für diejenigen, die nicht den direkten Weg über das Gymnasium genommen haben. Darauf sind wir sehr stolz.
Deshalb ist Ihre Logik, die verpflichtende Einrichtung von Ganztagsschulen führe immer und überall zu Bildungsgerechtigkeit, grober Unfug. Ich sage Ihnen auch, weswegen. Ein Land wie Frankreich mit einem traditionell gewachsenen Ganztagsschulsystem und einer hohen Zahl von Akademikern hat unter dem Strich eine Jugendarbeitslosenquote von 22 %. Herr Kollege Degen, die Quote in Deutschland liegt bei 6,6 %, die Quote in Frankreich bei 22 %. Die Franzosen haben ein Ganztagsschulsystem, solange sie denken können.
Wo bleibt da Ihre Logik? Ich halte es für ungerecht, wenn so viele junge Menschen ihrer Bildungs- und Berufskarriere beraubt werden, nur weil ein System offensichtlich scheitert.
Andere Länder sind da sehr erfolgreich, beispielsweise Singapur und Hongkong. Auch das steht in dieser Studie. Diese Länder bieten aber wohl nicht allen Ernstes Vergleichsgrößen.
Trotz der Herausforderung durch die enorme Zunahme der Zahl an Viertklässlern haben wir ganz erfolgreiche Arbeit an den Grundschulen geleistet. Wir haben diese Herausforderung mit Bravour bestanden. Die IQB-Studie, eine Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, dokumentiert das. Hessen liegt im vorderen Drittel, auf Platz 5 unter allen Bundesländern. Das ist bei einem Flächenland ein Spitzenwert. Das haben wir trotz der gerade eben beschriebenen Herausforderungen erreicht.
Die einzelnen Bausteine, die wir vorhalten – Vorlaufkurse, das Bekenntnis zur Schreibschrift, das Bekenntnis zu richtiger Orthografie von Anfang an, das Programm quop, das Sie eben als „nebenbei laufend“ beschrieben haben –, führen tatsächlich zu erfolgreichen Bildungsverläufen, zu erfolgreichen Karrieren. Für die Koalitionsfraktionen ist das die Bedeutung des Begriffs Bildungsgerechtigkeit; denn wir müssen den jungen Menschen die Chancen eröffnen, damit sie ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten bestmöglich einsetzen können. Wir brauchen keine Maßnahme, die für alle verpflichtend ist. Das lehnen wir strikt ab.
Ich will einen kurzen Schlenker machen und auf die Sachverständigen in der Enquetekommission „Bildung“ Bezug nehmen, die bestätigen, dass die Erwartungen an den Ganztagsunterricht bei Weitem nicht den Erwartungen entsprechen, dass auch diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben, bei Weitem nicht so davon profitieren, wie Sie es eben darzustellen versucht haben. Eine aktuelle Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen kommt zu dem Ergebnis – ich darf zitieren –:
Auch für Jugendliche aus niedrigen sozialen Schichten oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulen auf ihre schulischen Leistungen nachweisen.
Das heißt unter dem Strich, es gibt keinerlei wissenschaftlich belegten kompensatorischen Effekt. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis, und nehmen Sie nicht irgendwelche Scheibchen aus irgendwelchen Studien, um sie, durch Ihre in Teilen ideologisch gefärbte Brille blickend, hier als „Bildungszwänge“ darzustellen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Unsere Prinzipien beim Ausbau der Ganztagsangebote lauten Vielfalt, Freiwilligkeit, das Vorhalten eines durchlässigen Bildungssystems, Chancen für alle – –
Unter dem Strich sage ich Ihnen: Bei uns entscheiden die Eltern, wie die Kinder betreut werden, nicht die Regierung. Dazu stehen wir, und darauf sind wir stolz.
(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktions- los))
Vielen Dank. – Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, begrüße ich auf der Besuchertribüne die Mitglieder der Besatzung der Fregatte Hessen, angeführt vom Ersten Offizier, Fregattenkapitän Matthias Schütte. Die Mitglieder der Besatzung halten sich im Rahmen eines viertägigen Besuchs in Hessen auch hier im Landtag auf. Herzlich willkommen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Schwarz, Sie haben bestimmt lange gesucht, einen Sachverständigen in der Enquetekommission zu finden, der vorträgt, dass Ganztagsschulen überhaupt keine Auswirkungen auf die Schulentwicklung von Kindern hätten. Ich weiß nicht, wie lange Sie gebraucht haben, so jemanden zu finden. Ich finde es jedenfalls bemerkenswert.
Kommen wir einmal zu den ernsthaften Dingen, denn Sie sind in der Frage der Bildungsgerechtigkeit kein Partner zur Auseinandersetzung, denn da sind Sie eher unbewaffnet.
Setzen wir uns einmal mit der SPD-Fraktion und ihrem Antrag auseinander. Liebe Mitglieder der SPD-Fraktion, ich bin ein bisschen verwundert, dass Sie die IGLU-Studie bemühen, um hier ein wirklich wichtiges Thema anzusprechen, nämlich dass der Bildungserfolg eines Kindes nach wie vor maßgeblich von der sozialen Herkunft und den finanziellen Verhältnissen seiner Familie abhängig ist. Das zu begründen, hätte es der IGLU-Studie nicht bedurft.
Lernleistungsstudien, wie IGLU, quop usw., lehnen wir nach wie vor vehement ab, weil sie nichts Belastbares über die Lernentwicklung und die Perspektiven eines Kindes aussagen. Sie sind nämlich nur Schnappschüsse und erfassen keine Perspektiven, keine Entwicklungen. Mit diesen Lernstandsmessungen werden die Kinder unter einen Leistungsdruck gesetzt. Der ist unnötig. Aussagen darüber, wie gut, wie schnell, in welchen Schritten und mit welchen Hilfen – das würde Förderung bedeuten – diese Entwicklung vonstattengeht, werden in diesen Lernstandserhebungen genau nicht erhoben.
Ich hätte mir zwar einen anderen Ausgangspunkt für Ihren wichtigen Antrag gewünscht, aber Ihre Forderungen halte ich für sehr richtig.
Selbstverständlich muss Bildung – von der Kita bis zur Hochschule und auch die Erwachsenenbildung – für alle Menschen frei zugänglich sein. Aus diesem Grunde ist die Abschaffung der Studiengebühren nach wie vor ein toller Erfolg, der vor etwa zehn Jahren in Hessen errungen worden ist.
Studiengebühren schließen vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien vom Besuch von Universitäten aus. Übrigens schließen Kitagebühren Kinder von frühkindlicher Bildung aus, ebenso wie anfallende Unkostenbeiträge für Arbeitsgruppen Kinder vom Pakt für den Nachmittag ausschließen.
Eine echte Lernmittelfreiheit ist dringend geboten. Sie haben geschrieben, „ein Schulgeld durch die Hintertür“ sei entschieden abzulehnen.
Übrigens gehört auch das Schülerticket hierhin. Wenn nämlich ein Kind aus einem einkommensschwachen Haushalt unter § 161 Hessisches Schulgesetz fällt und kein hessenweites Ticket bekommt, ist das eine Benachteiligung, die seine Familie nicht ausgleichen kann, weil sie einfach nicht in der Lage ist, genug Geld dafür aufzubringen.
Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag ist sehr berechtigt; denn in der hessischen Bildungspolitik passiert erschreckend wenig, was zu mehr Bildungsgerechtigkeit beiträgt. Eher bleibt die soziale Ungerechtigkeit an den Schulen seitens der Landesregierung unbeachtet.
Das Märchen von der Durchlässigkeit an den hessischen Schulen mag ich überhaupt nicht mehr hören; denn wirklich durchlässig ist dieses Schulsystem meistens nur in eine Richtung, nämlich nach unten.
Ich kann Ihnen das auch belegen: Mittlerweile kommen auf einen Bildungsaufsteiger – eine Schülerin oder ein Schüler, die oder der auf eine höhere Schulform wechselt – mehr als acht Bildungsabsteiger, also Schülerinnen und Schüler, die von einer höheren auf eine niedrigere Schulform abgeschult werden. In den Förderschulen erreichen knapp 75 % der Schülerinnen und Schüler keinen Hauptschulabschluss. Von Durchlässigkeit kann also keineswegs die Rede sein.
Auf Durchlässigkeit ist dieses Schulsystem auch nicht angelegt. Es ist ein aussonderndes System, kein inklusives. Es zwingt die Lehrkräfte zudem dazu, nach einer nur vier Jahre dauernden Grundschulzeit Prognosen für die künftige Bildungslaufbahn von Kindern abzugeben und sie dann verschiedenen Schulformen zuzuordnen. Meine Damen
und Herren, hören Sie doch einmal der Vorsitzenden der Landesgruppe Hessen des Grundschulverbands zu. Sie sagt aus Erfahrung, dass solche Prognosen überhaupt nicht erstellt werden können.
Weder die ausufernde Mehrgliedrigkeit noch der Pakt für den Nachmittag stellt Bildungsgerechtigkeit her. Der Pakt für den Nachmittag verhindert eher den Ausbau echter Ganztagsschulen.
Bildungsgerechtigkeit wird schon gar nicht durch Ihre Weigerung hergestellt, in Gesamtschulen ein längeres gemeinsames Lernen zuzulassen, wie es in vielen Staaten längst gang und gäbe ist – wenn Sie schon andere Staaten anführen.
Ja, über Frankreich können wir einmal diskutieren. Aber das ist jetzt meine Redezeit. – Besonders falsch ist, dass genau diese sinnvollen Konzepte an den sich einer immer größeren Beliebtheit erfreuenden Privatschulen längst etabliert sind. Auch die staatlich finanzierten Modellschulen arbeiten längst mit modernen Konzepten, vom jahrgangsübergreifenden Lernen bis zum Aussetzen der Notengebung. Das sind Schulen, die so begehrt sind, dass sie, weil sie überlaufen sind, jedes Jahr 75 % der Bewerber ein Ablehnungsschreiben schicken müssen. Das sind Schulen, die Schulpreise gewinnen und deren Projektarbeit immer wieder besonders heraussticht.
Die schwarz-grüne Landesregierung weiß also eigentlich, wie sie Bildungshürden abbauen könnte. Sie will es aber nicht. Wirkliche Veränderungen und mehr Chancengerechtigkeit sind mit Schwarz-Grün also nicht erreichbar. Das hat nicht zuletzt auch die gestrige Haushaltsdebatte zum Einzelplan 04 gezeigt.
Daher befürchte ich, dass dieser Antrag der SPD-Fraktion auch nicht dazu beitragen wird, dass die Landesregierung notwendige Änderungen vornimmt.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zuletzt will ich noch eines loswerden: Wenn wir hier über Bildungsgerechtigkeit sprechen, würde ich mir zumindest einen kurzen Hinweis darauf wünschen, wie wir diese auch für Flüchtlingskinder herstellen können, die aufgrund ihrer oftmals dramatischen Erfahrungen und gebrochenen Bildungsbiografien sicherlich zusätzliche Hilfe benötigen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ziel, das wir GRÜNE mit unserer Bildungspolitik erreichen wollen, ist, allen jungen Menschen die gleichen Startvoraussetzungen zu bieten: von der frühkindlichen Bildung bis zum Masterabschluss oder bis zum Meisterbrief. Die Bildungspolitik soll dazu dienen, dass alle jungen Menschen die gleichen Möglichkeiten haben und