Die Polizei in Kassel hat damals – und bis heute – einen außerordentlich guten persönlichen Kontakt zur Familie Yozgat gepflegt, auch, weil sie die Umstände bis heute nicht loslassen. Unser Dank gilt stellvertretend den beiden Beamten Herrn Hoffmann und Herrn Wetzel, die das wirklich vorbildlich geleistet haben.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und der FDP, bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))
Kommen wir einmal zu den Merkwürdigkeiten. Obwohl Herr Temme unter Mordverdacht stand, gingen seine Vorgesetzten beim Verfassungsschutz davon aus, dass er bald wieder zurück in sein Amt kommen sollte. Das legt den Schluss nahe, dass er vielleicht doch dienstlich im Internetcafé gewesen sein könnte.
Um Licht ins Dunkel zu bringen, haben wir sehr viele Zeugen aus dem Verfassungsschutz eingeladen, die damals eingesetzt waren. Ich kann Ihnen sagen, dass wir durchaus eine Mentalität erfahren mussten, die davon geprägt war, alles für sich zu behalten, keine größeren Zusammenhänge zu erkennen und eher lethargisch abzuarbeiten. Das ist sicherlich auch eine Erklärung dafür, warum all die Jahre die Verfassungsschutzbehörden nicht in der Lage waren, das untergetauchte Trio zu finden, und warum sie auch die bestehenden gefährlichen Vernetzungen der rechten Szene unterschätzt haben.
Ein halbes Jahr nach der Entdeckung des NSU beauftragte der damalige Innenminister Boris Rhein im Jahr 2012 eine leitende Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes damit, die Akten der letzten 20 Jahre zu überprüfen. Warum eigentlich eine leitende Mitarbeiterin einer Behörde, die zu überprüfen ist? Das ist eine berechtigte Frage, die man auch nur bedingt beantworten konnte. Herr Rhein war der Auffassung, dass sie das gut konnte.
Der eigentliche Abschlussbericht dieser Aktenprüfung lag erst im September 2014 vor und wurde als Verschlusssache VS-Geheim mit einer Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren eingestuft – die eigene Untersuchung im Amt –, sodass der Ausschuss den Bericht am Anfang öffentlich nicht nutzen durfte, weil er auf 120 Jahre geheim eingestuft war. Das ist so einer der Kämpfe, die wir führten. Das wollte ich Ihnen einmal exemplarisch darstellen.
Wir haben dann im Ausschuss sehr lange darum gekämpft – weil es ja zur eigentlichen Aufklärungsarbeit gehört –, die Akten aus dem Landesamt zu überprüfen und zu schauen, was denn die Behörde selbst an Versäumnissen festgestellt hat, und haben sehr lange darum gerungen, dass dieser Bericht wieder herabgestuft wurde und wir ihn öffentlich verwenden konnten. Was war denn da der Grund, das geheim zu halten, frage ich Sie.
Der Bericht hatte zahlreiche Versäumnisse offenbart, übrigens in der Verantwortungszeit des damaligen Innenminis
ters Volker Bouffier. Die Fraktion der SPD im Hessischen Landtag ist davon überzeugt, dass Andreas Temme die Tat auch wahrgenommen haben muss und zur Tatzeit am Tatort gewesen ist. Das deckt sich übrigens auch mit der Einschätzung des Vorsitzenden Richters am OLG und der BAO Bosporus, die damals die Ermittlungsarbeiten vorgenommen hat.
Aber obwohl der Verfassungsschützer Andreas Temme gegen zahlreiche Dienstpflichten verstieß und unter Mordverdacht stand, sah das hessische Innenministerium unter Leitung von Volker Bouffier damals keine Notwendigkeit, das Parlament und die Öffentlichkeit zu informieren. Dieses Versäumnis wurde zwar von Herrn Frömmrich nicht erwähnt, ist aber im Abschlussbericht von Schwarz-Grün enthalten.
Allerdings fehlt in dem Mehrheitsbericht die wichtige Erkenntnis, dass Volker Bouffier das damals bewusst entschieden hat. Es gab nämlich, nachdem er über den Verdacht gegen Andreas Temme informiert wurde, eine Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission im Mai 2006; der Mord geschah im April. Die entsprechenden Mitarbeiter der Fachabteilung hatten das für Frau Scheibelhuber, die damals Staatssekretärin war, aufgeschrieben und vorbereitet. Aber der Minister hat vor der Sitzung entschieden, dass weder die Öffentlichkeit noch das Parlament informiert werden sollte – und zwar ganz bewusst. Er hielt es nicht für notwendig.
Ich erinnere noch einmal daran: Es war ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz, der unter Mordverdacht bei einer bundesweiten Mordserie stand, und Volker Bouffier selbst hat entschieden, das Parlament nicht zu unterrichten. Erst, als im Juli die „Bild“-Zeitung berichtete, musste Volker Bouffier das Parlament informieren. So erfuhren die Parlamentarier erst drei Monate nach dem Mord vom Tatverdacht. Und das, weil Volker Bouffier das entschieden hatte, meine Damen und Herren, und das war falsch.
Es gab natürlich ein Disziplinarverfahren gegen den Beamten Andreas Temme, das aber leider nicht konsequent geführt wurde und eigentlich zu einem guten Abschluss hätte geführt werden müssen. Aber es war der damalige Innenminister selbst, der sich in das Verfahren eingemischt hatte. Ich erinnere noch einmal an die damaligen Zeiten, als es durchaus Disziplinarverfahren gegen hessische Polizeibeamte gab, bei denen sehr hart durchgegriffen wurde – an dieser Stelle aber nicht.
Volker Bouffier war mit in die Beratung darüber einbezogen, und es war ihm wichtig, dass – Zitat – „dem Beamten keine finanziellen Nachteile … entstehen sollten“. Und das, obwohl der Verfassungsschutzmitarbeiter zum damaligen Zeitpunkt noch Tatverdächtiger war. Wie kommt denn der damalige Innenminister Volker Bouffier dazu, sich derart in ein Disziplinarverfahren einzumischen und diese Auffassung zu vertreten, dass jemand, der unter Mordverdacht steht, aber auf jeden Fall seine Bezüge behalten soll? Ich finde, das legt den Verdacht der dienstlichen Befassung doch sehr nahe.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos) – Präsident Norbert Kartmann übernimmt den Vorsitz.)
Erst nachdem das alles in der Presse bekannt war, hat man überhaupt davon Abstand genommen, Temme wieder im Amt einzusetzen, und hat dann erst das Disziplinarverfahren richtig eingeleitet, also erst nachdem die „Bild“-Zeitung ermittelt hatte. Man muss sagen, es war nicht in Ordnung, wie das Disziplinarverfahren gelaufen ist. Er ist dann zum Regierungspräsidium nach Kassel versetzt worden, ohne weitere Ermahnung, ohne Sanktionen, und das, obwohl viele Dienstpflichtverletzungen neben diesem Nichtmelden der Anwesenheit am Tatort vorlagen.
Jetzt kommen wir zur Sperrerklärung, die Herr Frömmrich auch erwähnt hat. Der damalige Innenminister – das hat Herr Frömmrich nicht gesagt, das steht auch nicht im Abschlussbericht – hat sich immer nur einseitig durch das Landesamt für Verfassungsschutz unterrichten lassen. Er hat nicht Gespräche mit der Staatsanwaltschaft oder der Polizei geführt. Die Behauptung, die Staatsanwaltschaft hätte immer nur alle Quellen oder keine vernehmen wollen, trifft nicht zu. Wir haben mehrere Schreiben und Zeugenaussagen, die das eindeutig widerlegen. Man hätte also vonseiten des Innenministeriums eine differenzierte Aussagegenehmigung, bezogen auf die zwei rechtsextremistischen Quellen, erteilen können.
Hätte der Innenminister sich auch die Seite der Staatsanwaltschaft oder der Polizei angehört, hätte er erkennen müssen, dass es nicht bei allen V-Leuten um die Beobachtung des islamistischen Terrorismus gegangen wäre. Selbst die Leitungsebene der Polizei, Herr Polizeipräsident Nedela, sagte dem Ausschuss, er könne sich nicht erinnern, in den Abwägungsprozess des Innenministers eingebunden gewesen zu sein.
Herr Ministerpräsident, aus all diesen Gründen war Ihre Entscheidung zur Sperrerklärung falsch. Sie haben damals keinen ordentlichen Abwägungsprozess vorgenommen.
Herr Ministerpräsident, deshalb tragen Sie persönlich nicht nur eine moralische Verantwortung und die Pflicht, sich für die Ermittlungen im Umfeld der Familie zu entschuldigen. Sie haben durch Ihr eigenes falsches Handeln auch noch die Ermittlungen behindert. Deshalb erwarten wir, dass Sie heute Verantwortung übernehmen, sich ans Pult stellen und sich bei der Familie entschuldigen sowie zumindest die Fehler der Behörden einräumen. Ganz gut wäre es, wenn Sie Ihre eigenen Fehler einräumen würden.
Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.
Herr Bouffier, Sie tragen eine hohe Verantwortung. Wir fordern Sie nochmals auf, sich hier endlich zu entschuldigen. Im Gegensatz zu anderen, die damals Verantwortung trugen – ich will nochmals daran erinnern –, haben Sie sich bis heute nicht entschuldigt und Ihre Fehler eingeräumt. Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet nur hier im Lande
Hessen alles gut gelaufen ist. Selbst der Mehrheitsbericht von Schwarz-Grün hat gezeigt, dass dem nicht so war.
Herr Bouffier, deswegen fordern wir Sie auf: Entschuldigen Sie sich bei der Familie, und räumen Sie endlich Ihre Fehler ein.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Die Untersuchungen des Ausschusses sind zwar beendet. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Aufklärung beendet ist. Wir tragen alle eine hohe Verantwortung dafür, weiter an der Aufarbeitung zu arbeiten, damit sich eine solch furchtbare Mordserie nicht wiederholt. Wir müssen die Zivilgesellschaft stärken. Wir müssen gemeinsam mit den Handelnden dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passieren kann.
Deswegen haben wir auch einen runden Tisch mit der Zivilgesellschaft und mit Journalisten ins Leben gerufen. Die Familien haben Unrecht erfahren, und das dadurch verloren gegangene Vertrauen in den Rechtsstaat müssen wir endlich zurückgewinnen. Dazu haben wir noch viel Arbeit vor uns, wozu ich Sie alle nur einladen kann.
Ich wiederhole mich am Schluss: Herr Ministerpräsident, Sie sind heute gefragt. Wir erwarten von Ihnen eine persönliche Erklärung. – Herzlichen Dank.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD – Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öztürk (frak- tionslos))
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Untersuchungsausschuss war in vielerlei Hinsicht besonders außergewöhnlich. Dies zeigt bereits – darauf wurde hingewiesen – der Untersuchungsgegenstand. Wir haben uns über vier Jahre mit einem kaltblütigen Mord aus einer menschenverachtenden Mordserie befassen müssen, dem Mord an Halit Yozgat. Es war eine Mordserie, die lange Zeit nicht als solche erkannt wurde, und dies, obwohl zumindest in Hessen die Ermittlungen nach Aussage aller Zeugen mit einem außergewöhnlich hohen Polizeieinsatz geführt wurden. Der MK Café gehörten in der Spitze bis zu 60 Polizistinnen und Polizisten an.
Vertreter der Sicherheitsbehörden, aber auch Fachjournalisten und Wissenschaftler und Politiker hatten die Taten nicht als rechtsterroristische Serie wahrgenommen, und alle Zeugen sagten, dass dies damals schlichtweg außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag.
Auch deshalb gilt unser besonderes Mitgefühl den Familien, Freunden, den Angehörigen der Mordopfer, besonders den Eltern von Halit Yozgat.
(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))
Wir wissen, dass sich vor allem die Opferfamilien sehr viel von dem Gerichtsverfahren in München, von den Untersuchungsausschüssen und auch von unserem Untersuchungsausschuss erhofft hatten. Es gehört jedoch auch zur Wahrheit dazu, dass die Untersuchungsausschüsse – auch unserer – teilweise mit Erwartungen aufgeladen wurden, die sie gar nicht erfüllen konnten. Wir können jedoch versichern, dass alles, was rechtlich möglich war und ist, unternommen wurde und auch jedem noch so fern liegenden Hinweis nachgegangen wurde.
Sie können auch sicher sein, dass wir alles tun werden, damit sich solch eine widerwärtige Mordserie nicht wiederholt. Das sind wir den Opfern des NSU schuldig.
Ich habe es immer wieder gesagt: Rechtsextremismus ist eine Schande für unser Land. Die NSU-Taten sind einfach nur abscheulich. Wir lehnen jede Form von Extremismus ab. Extremismus darf in unserer Gesellschaft keinen Platz finden. Ich sage immer wieder: In unserem Land ist Platz für vieles, aber kein Platz für Gewalt gegen Andersdenkende, Andersabstammende, Andersgläubige.
Auch wenn unsere Ergebnisse manche Erwartungen nicht erfüllen konnten – noch nie hat es in Hessen eine derart umfangreiche, akribische Aufklärungsarbeit in einem Untersuchungsausschuss gegeben. Ich nenne stellvertretend 2.000 Aktenordner, ca. 70 Sitzungen, über 100 Zeugen, die ausgiebig befragt wurden, mitunter mehrfach. Im Landesamt für Verfassungsschutz waren teilweise 19 Personen mit der Aktenzusammenstellung befasst.
Wir haben den Fall Yozgat aus allen Blickwinkeln heraus beleuchtet. Aber nicht nur im und durch den Untersuchungsausschuss, sondern auch schon zuvor haben wir in Hessen Schlussfolgerungen gezogen und die Arbeit der Sicherheitsbehörden überprüft und, wo notwendig, verbessert. Ich nenne stellvertretend ein verbessertes Auswahlverfahren, engere Verzahnung der Beschaffung und Auswertung im Landesamt, Umstrukturierungen im Landesamt für Verfassungsschutz, Hospitationen in den Sicherheitsbehörden, Entwickeln und Leben einer Fehlerkultur, die bessere Vernetzung der Erkenntnisse von Polizei und Verfassungsschutz.
Ich erinnere auch an die Kanther-Kommission, die direkt nach der Enttarnung des NSU, also 2011, eingesetzt wurde, und die Bildung der Expertenkommission, hochkarätig und parteiübergreifend besetzt. Sie ist ebenso bereits vor dem Untersuchungsausschuss tätig geworden. Beide führten dazu, dass wesentliche Reformen schon durchgeführt oder angegangen wurden, bevor der Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen wurde, und das war auch gut so. Zuvor war die MK Café die größte Soko, die es nach Aussagen der Polizei jemals gab.
Weitere Verbesserungen zu dem, was ich bereits genannt habe, versprechen wir uns durch die Handlungsempfehlungen, auf die wir uns verständigt haben. Die Regierungskoalition hat 70 konstruktive Vorschläge unterbreitet – von der Aktenführung im Landesamt über die Einstufungspraxis bis hin zur Personalauswahl.