Wir freuen uns auf die Beratung dieses Gesetzentwurfs. Wir stellen den Vertrauensschutz für Eltern sicher. Wir schützen die Eltern mit einer anonymisierten Befragung, und wir geben den Schulen die Möglichkeit, separate G-8oder G-9-Bildungsgänge zusätzlich zu den anderen Organisationsformen einzuführen. Wir sagen: Kein Zwang für alle, sondern größtmögliche Wahlfreiheit schaffen. Deshalb bringen wir heute diesen Gesetzentwurf ein.
Noch einmal zum Verfahren: Nach der Beendigung der Regierungserklärung und der Aussprache dazu werden wir die in der ersten Lesung formell notwendigen Beschlüsse fassen. Wir schließen also die erste Lesung jetzt nicht ab. So wurde es heute Morgen vereinbart.
Regierungserklärung des Hessischen Kultusministers betreffend „Für eine Politik der ausgestreckten Hand – Hessens Bildungsgipfel für den Schulfrieden“
Vereinbarte Redezeit: 30 Minuten pro Fraktion. Ich erteile Herrn Staatsminister Prof. Dr. Lorz das Wort.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! „Kinder brauchen unsere besondere Fürsorge, weil sie unsere Zukunft sind.“ Dieser Satz stammt von Peter Ustinov. Weil der Satz stimmt, dass die Kinder unsere Zukunft sind, bildet die Schulpolitik einen erklärten Schwerpunkt der Arbeit dieser Landesregierung. Das Wohl der Schülerinnen und Schüler – unserer Kinder – steht dabei im Mittelpunkt all unserer Überlegungen.
Deswegen ist es nur logisch und gut, dass die erste Regierungserklärung eines Fachministers in dieser Legislaturperiode die Bildungspolitik zum Thema hat. Das belegt den hohen Stellenwert, den dieser Bereich in unserer politischen Prioritätensetzung einnimmt.
Die Zusammensetzung dieser Landesregierung ist neu und ungewöhnlich; das ist in den letzten Wochen hinreichend oft beschrieben worden. Dazu passt ein neuer Anfang – man könnte auch sagen, das verlangt nach einem solchen – in der Bildungspolitik.
Über viele Jahrzehnte war die hessische Bildungspolitik – und dieses Haus in besonderer Weise – von einem Funda
mentalkonflikt zwischen den Anhängern integrierter Systeme und den Befürwortern differenzierter Systeme geprägt. Letztlich durchsetzen konnte sich keine der beiden Richtungen. Die Grundmuster des Konflikts kann man aber bis heute erkennen.
Es ist kein Geheimnis, dass die beiden Regierungsparteien in der Vergangenheit dieses Konflikts auf verschiedenen Seiten standen. Keine der beiden Parteien hat ihre Überzeugungen aufgegeben. Aber nachdem klar geworden war, dass wir eine gemeinsame Regierung bilden würden, entstand daraus der Wille, gerade die Zusammenführung des Gegensätzlichen für die Bildungspolitik fruchtbar zu machen. Die neue Landesregierung ist also entschlossen, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, den ständig neuen Austausch bekannter Standpunkte zu beenden und jenseits von Struktur- und Formdebatten eine Diskussion über die wesentlichen Ziele des Schulsystems und die Möglichkeiten ihrer Erreichung zu führen. Wir strecken die Hand aus, um auf dieser Ebene zu einer Einigung zu kommen und dadurch Schulfrieden zu ermöglichen.
Dahinter stehen drei wesentliche Überzeugungen. Das ist zunächst die Feststellung, dass es immer unterschiedliche Interessen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler und dementsprechend auch unterschiedliche Willensformierungen und Willensbekundungen der Eltern gibt. Jede Verordnung einer bestimmten Schulstruktur von oben herab ignoriert diese Tatsache in mehr oder minder großem Umfang. Das wollen wir nicht.
Zwei weitere Überzeugungen verdanken wir den in den letzten Jahren betriebenen empirischen Forschungen und wollen sie jetzt nutzbar machen.
Erstens. Wenn wir uns darüber einig sind, dass Bildungsergebnisse und schulischer Erfolg zentrale Maßstäbe unseres Handelns zum Wohle der Schülerinnen und Schüler sein sollen, dann ist die Qualität der Schulen, des dort erteilten Unterrichts und auch der außerunterrichtlichen Arbeit entscheidend. Dafür spielen strukturelle Fragen aber eine nur untergeordnete Rolle. Andere Faktoren sind ungleich bedeutender, und ihnen wollen wir uns zuwenden. Der Vorrang dieser Faktoren vor der Schulstruktur ist eine Art Grundphilosophie des Koalitionsvertrages.
Zweitens. Darüber hinaus ist es eine alte Erfahrung aller Menschen, die beruflich in Bildungsinstitutionen tätig sind: Eine maßgebliche Bedingung dafür, dass diese Institutionen erfolgreich arbeiten können, ist Kontinuität. Deswegen brauchen auch die hessischen Schulen nichts so sehr und wünschen sich nichts so sehr wie Kontinuität. Sie wollen keine Schaukelpolitik. Sie wollen nicht erleben, dass das politische Pendel mal in die eine, mal in die andere Richtung ausschlägt. Sie wollen Verlässlichkeit. Und: Schulen müssen einen einmal eingeschlagenen Weg auch konsequent fortsetzen dürfen. Statt sie mit abrupten Kurswechseln und möglicherweise widersprüchlichen Ansätzen zu konfrontieren, sollten wir die Schulen manchmal einfach in Ruhe arbeiten lassen.
An unseren Schulen sind in den letzten Jahren viele Entwicklungen angestoßen worden. Ein ganz zentrales praktisches Beispiel dafür sind die Schulen im Ganztagsschul
programm. Hier arbeiten die Schulträger, das Land, Sportvereine, Musikschulen und viele andere Träger vor Ort mit den Schulen, ihren Kollegien sowie der Elternschaft eng zusammen – alle beseelt von dem gemeinsamen Ziel, die bestmöglichen Voraussetzungen für die individuelle Entfaltung der Schülerinnen und Schüler zu schaffen. Ich nenne weiterhin den Bildungs- und Erziehungsplan – vor allem für den frühkindlichen Bereich –, die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und Grundschulen in Form von Tandems, den flexiblen Schulanfang an Grundschulen, die Stärkung der Berufs- und Studienorientierung, die selbstständige Schule und natürlich das Megathema Inklusion. Alle diese Dinge sind auf den Weg gebracht, und wir wollen sie fortführen und verstärken. So steht es in unserem Koalitionsvertrag.
Aber man muss neuen Ansätzen Zeit lassen – nicht nur diesen Ansätzen, von denen ich hoffe, dass sie weitgehend unstreitig sind, sondern gerade auch denen, die streitbefangen sind; denn Erfolge stellen sich nicht über Nacht ein. Eine einmal begonnene Entwicklung vorzeitig und hektisch abzubrechen verschwendet Energie, kostet Vertrauen, lässt Engagement ins Leere laufen und erstickt damit die Motivation aller Beteiligten.
Das ist das Gegenteil von dem, was jetzt notwendig ist; denn wir brauchen Begeisterung. Wir brauchen den couragierten Einsatz aller Beteiligten in der Bewältigung der – nicht kleinen – bildungspolitischen Herausforderungen. Wir brauchen begeisterte und begeisternde Lehrer. Wir brauchen Schülerinnen und Schüler, die mit Freude in die Schule gehen, und Eltern, die ebenfalls mit Freude das Ihre dazutun. Entscheiden wir uns daher für einen Weg in die Zukunft, der es all diesen Menschen erlaubt, diese Begeisterung zu entwickeln; denn nur so können sie das Potenzial entfalten, das in ihnen steckt. Das ist unser vornehmstes Ziel.
Die Leitmotive unseres Handelns sind: Konflikte überwinden, Konsens schaffen, Kontinuität wahren. Genau dadurch wollen wir, ohne neue Auseinandersetzungen vom Zaun zu brechen, Innovation ermöglichen und die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Das ist keine Frage der politischen Konstellation. Es ist eine Frage der Haltung, der grundsätzlichen Einstellung, mit der man an die Dinge herangeht. Deswegen mache ich mir auch Hoffnungen, dass wir über Parteigrenzen und Interessengegensätze hinweg zu einer Verständigung kommen können. Das ist es, was wir mit der Idee des Schulfriedens meinen. Diese Landesregierung geht jedenfalls mit dem ernsthaften Willen an die Arbeit, dies nach besten Kräften zu versuchen.
Ich will Ihnen dafür zwei Beispiele nennen. Eigentlich war nur eines an dieser Stelle vorgesehen, aber die aktuelle Entwicklung bewegt mich dazu, auf ein weiteres einzugehen: Ich glaube, Sie alle haben in den letzten Tagen die Berichterstattung über die im letzten Dezember erlassene Aufsichtsverordnung gelesen. Diese Verordnung ist ein sehr umfangreiches und komplexes Werk, das aber nicht zuletzt durch eine immer weiter ausgebaute und verfeinerte Haftungsrechtsprechung der Gerichte zu dem geworden ist, was sie ist. Das Werk, das sie ersetzte, nämlich die alte
Die neue Verordnung brachte an vielen Stellen mehr Übersichtlichkeit, Systematik und Transparenz. Sie ist in einem langen Beratungsverfahren unter Beteiligung aller möglichen Gremien – Elternbeirat, Schülervertretungen, Lehrerverbände, Schulleitungen und viele mehr – entstanden. Sie ist im Übrigen von nahezu allen begrüßt worden. Es sind ganz viele Anregungen gegeben und aufgenommen worden.
Trotzdem haben wir feststellen müssen, dass wir wohl in dem einen oder anderen Punkt über das Ziel hinausgeschossen sind und dass auch gut gemeinte Regelungen sich als unglücklich erweisen oder zu Missverständnissen Anlass geben können – auch wenn das zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung keinem der zahlreichen Beteiligten aufgefallen ist.
Wir ziehen daraus die Konsequenz, indem wir die Verordnung überarbeiten. Wir werden insbesondere dafür sorgen, dass auch Grundschüler wieder Radtouren machen, mit der Klasse einen Ausflug unternehmen oder zum Schlittenfahren gehen können, wenn ihre Lehrkräfte das so vertreten und die Eltern damit einverstanden sind.
Und natürlich soll wegen der Aufsichtsregeln kein Schwimmunterricht ausfallen. Das stand zwar in der Verordnung so nicht drin, aber wir haben erlebt, dass man sie in diesem Punkt missverstehen konnte. Deswegen haben wir dies für einen Übergangszeitraum direkt klargestellt. Das konnten Sie heute Morgen in der Zeitung lesen. Wir werden diesen Zeitraum dazu nutzen, um im Dialog mit den Beteiligten und den sie vertretenden Verbänden eine Lösung zu entwickeln, die die Balance zwischen der Sicherheit der Schülerinnen und Schüler – das ist nämlich unser höchstes Gut – und den Anforderungen an die Lehrkräfte besser austariert.
Diese Herangehensweise – das ist der Grund, warum ich Ihnen dieses ganz aktuelle Beispiel vorstelle – hat für uns prinzipiellen Charakter. Wir hören zu. Wir wollen die Perspektiven und Interessen der Beteiligten aufnehmen. Wir sind auch bereit, einmal getroffene Regelungen kritisch zu hinterfragen, wenn wir den Eindruck haben, dass das dem Wohl unserer Schülerinnen und Schüler dient.
Meine Damen und Herren, das zweite Beispiel, das chronologisch sogar den ersten von dieser Idee geleiteten Schritt markiert, liegt Ihnen vor. Es ist der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zum Wechsel der laufenden Jahrgänge im gymnasialen Bildungsgang – zugegebenermaßen eine besondere Herausforderung.
Er soll etwas beenden und zugleich etwas beginnen. Beendet werden soll die Diskussion über die Dauer der gymnasialen Schulzeit, also die Debatte „G 8 oder G 9?“. Begonnen werden soll idealerweise eine neue Kultur des Zuhörens und Verstehens; denn auch zu dieser Diskussion lässt sich feststellen: Es gibt gute Argumente für die eine wie für die andere Form der Organisation. Aber es ist bei einem Dissens geblieben, der nicht mehr zentral für alle aufgelöst werden kann. Der richtige Weg ist deshalb aus unserer Sicht die Entscheidung auf dezentraler Ebene.
Die bereits in der vorigen Legislaturperiode geschaffene Wahlmöglichkeit für Schulen wird ausgeweitet, um das schulische Angebot noch besser auf den Elternwillen abzustimmen. Bei einem Wechsel zu G 9 an Gymnasien und kooperativen Gesamtschulen sollen künftig auch die jeweiligen Jahrgangsstufen 5 bis 7 einbezogen werden dürfen.
Damit stellen die neue Mehrheit in diesem Hause und die von ihr getragene Landesregierung unter Beweis, dass sie die zahlreich geäußerten Elternwünsche nach einer Ausweitung der Wahlfreiheit ernst nehmen und weitere Gestaltungsmöglichkeiten für die Schulen schaffen.
Uns ist dabei vor allem wichtig, dass wir den Schulen diese Wahlfreiheit ermöglichen – und nicht verordnen. Wir wissen: Für diejenigen Schulen, die sich für einen Wechsel der laufenden Jahrgänge entscheiden, ist damit zusätzlicher organisatorischer Aufwand verbunden. Das müssen diese Schulen selbst wissen. Deswegen lassen wir sie auch nicht allein. Wir werden sie auf diesem Weg begleiten und beraten. Im Ergebnis – das ist der entscheidende Punkt dieses Gesetzentwurfs – soll es jedoch ihre Entscheidung sein, ob die Aussicht, auf diese Weise in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen, den Aufwand lohnend erscheinen lässt.
Schon durch die Abläufe, die dazu führen, wollen wir Konsens fördern und zum Konsens aufrufen. Die allgemeinen Voraussetzungen für einen Wechsel von G 8 zu G 9 bleiben in Geltung. Es bedarf natürlich eines pädagogisches Konzepts der Gesamtkonferenz sowie eines entsprechenden Beschlusses der Schulkonferenz, also des Gremiums, in dem alle Gruppen – Lehrkräfte und Eltern ebenso wie Schülerinnen und Schüler – vertreten sind und ihre Meinungen einbringen können. Sofern ein solcher Beschluss vorliegt, erfolgt eine anonymisierte Befragung der Eltern durch das Staatliche Schulamt, ob sie G 8 oder G 9 für ihr Kind wollen.
Wir sind der festen Überzeugung, damit ein Verfahren gefunden zu haben, das eine möglichst freie Entscheidungsfindung garantiert. Gleichzeitig werden – das ist wichtig, denn das gebietet unsere Verfassung – Vertrauensschutz und Rechtssicherheit für diejenigen Eltern gewährleistet, die für ihre Kinder weiterhin G 8 wünschen. Auf diese Weise werden sie vor unzulässigem Druck bewahrt.
Wir haben großes Vertrauen, dass die Schulen im Dialog mit allen Beteiligten eigenverantwortlich die für sie richtige Lösung wählen. Wir werden sie in diesem Prozess unterstützen und moderierend begleiten.
Vor allem aber versprechen wir in der zentralen Frage der Bildungspolitik allen Beteiligten Kontinuität: eine Kontinuität, die kein Selbstzweck ist, sondern die auf Dauer Perspektiven eröffnet.
Die schwarz-grüne Landesregierung hat Bildungspolitik nicht nur inhaltlich zu einem Schwerpunktthema dieser Legislaturperiode gemacht; sie steht auch in ihrer Schwerpunktsetzung bei den Ressourcen zu dieser Grundentscheidung.
Das bedeutet ganz konkret: Im Gegensatz zu anderen Bundesländern bleibt Hessen seiner Linie treu und behält die demografische Rendite im System. Es werden also keine Lehrerstellen aufgrund zurückgehender Schülerzahlen gestrichen. Angesichts der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse – über die wir in diesem Haus sicherlich noch oft werden reden müssen – stellt dieser Vorgang einen immensen haushaltpolitischen Kraftakt dar, der seinesgleichen sucht.