Protokoll der Sitzung vom 22.07.2015

Sie haben uns von den unzureichenden und teils nicht verschließbaren sanitären Anlagen berichtet, von der medizinischen und therapeutischen Unterversorgung. Sie haben uns erzählt, wie sich diese Situation insbesondere für Frauen und für Kinder darstellt, die besonders unter diesen Umständen leiden. Was sich derzeit in Gießen und den Außenlagern abspielt, hat weder etwas mit menschenwürdiger Unterbringung, geschweige denn mit der sogenannten Willkommenskultur irgendetwas zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

So sollte man in Hessen, so sollte man mitten in Europa nicht mit Menschen umgehen. Menschen, die nicht unbedingt einen Campingurlaub beabsichtigen, müssen in Gebäuden untergebracht werden, die zur dauerhaften Nutzung als Wohnraum bestimmt und geeignet sind. Dafür ist zwingend feste Bauweise erforderlich. Es ist mir schon unangenehm, dass es in Hessen inzwischen erforderlich ist, auf solch simple Tatsachen hinzuweisen.

Menschenwürdige Unterbringung setzt nach unserem Verständnis auch voraus, dass man auf Massenunterbringung, auf Lager und auf Kasernierung, wie sie jetzt auch wieder in Hanau geplant ist, verzichtet. Das macht die Menschen krank, es schürt Konflikte und behindert die gesellschaftliche Integration.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, Ministerpräsident Volker Bouffier hatte vergangenes Jahr die Idee, Flüchtlinge in Büro

räumen unterzubringen. Ich finde diesen Vorschlag inzwischen gar nicht einmal so schlecht.

(Nicola Beer (FDP): Aha!)

Volker Bouffier ging davon aus, man müsse die Bauordnung ändern, um auf Büroräume in Industriegebieten zurückgreifen zu können. Das ist aber gar nicht notwendig. Es gibt genug leer stehende Büroräume in den Innenstädten. Warum werden diese nicht für Asylsuchende genutzt und hergerichtet? Wir würden eine solche Initiative kurzfristig unterstützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, bis Montag dieser Woche hätte die EU-Aufnahmerichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Bei dieser Richtlinie geht es unter anderem darum, bei der Erstaufnahme schutzwürdige Personengruppen, also etwa Schwangere oder schwer traumatisierte Menschen, zu identifizieren und angemessen zu versorgen. Es gibt Bundesländer wie Rheinland-Pfalz, die längst damit begonnen haben, ein medizinisches Screeningverfahren zu etablieren, das helfen soll, eine solche Schutzbedürftigkeit zu erkennen und zu dokumentieren.

Auch Hessen muss endlich handeln. Wir fordern die Landesregierung auf: Zeigen Sie sich endlich verantwortlich für schutzbedürftige Asylsuchende.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir brauchen besondere Vorkehrungen, um die besondere Situation von Frauen zu berücksichtigen. Neben Kindern sind es insbesondere allein reisende Frauen in den großen Gemeinschaftsunterkünften, die unter der Art der Unterbringung leiden. Mit Forderungen für eine angemessenere Versorgung von weiblichen Flüchtlingen hat sich jetzt auch die Landesarbeitsgemeinschaft hessischer Frauenbüros an die Öffentlichkeit gewandt. Dringend ist die Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten für Frauen. Frauen müssen unter Frauen sein können. Die Unterbringung von Frauen gegen ihren Willen in gemischtgeschlechtlichen Zelten muss aufhören. Dies war auch schon einmal anders in der hessischen Aufnahmeeinrichtung. Das wissen wir. Zur getrenntgeschlechtlichen Unterbringung müssen wir hier unbedingt zurückkehren.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte an dieser Stelle einen ganz besonderen Dank an die beiden Verfahrensberaterinnen des Evangelischen Dekanats in der Erstaufnahme in Gießen richten. Ich denke, sie leisten dort unter sehr schwierigen Bedingungen eine extrem wichtige Arbeit. Für viele Betroffene ist ihre Asylverfahrensberatung von existenzieller Bedeutung. Es ist klar, dass diese beiden Beraterinnen angesichts der Zuströme, die wir dort immer zu verkraften haben, längst an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen sind. Das Land sollte sich endlich an den Kosten für eine unabhängige Verfahrensberatung beteiligen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, zur Diskussion steht auch ein Antrag der SPD-Fraktion, bei dem es um die Evakuierung von schutzbedürftigen Frauen und Kindern aus dem Nordirak und Syrien geht. Wir unterstützen diesen Antrag. Dies wäre ein erster Ansatz, Bürgerkriegsflüchtlingen die lebensgefährliche Route über die Ägäis und das Mittelmeer zu ersparen.

Wir freuen uns, dass der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel offensichtlich auch für ein grundlegendes Umdenken in der Flüchtlingspolitik eintritt und Fähren für syrische Flüchtlingsfamilien fordert, damit diese sicher nach Europa kommen können. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, neben den Seenotrettungskreuzern August Bebel und Otto Schülke auch ein nach Sigmar Gabriel benanntes Luftkissenrettungsboot in Dienst zu stellen. Auch eine solche Initiative würden wir selbstverständlich unterstützen, liebe SPD. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank. – Als Nächster spricht Kollege Bocklet, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Situation in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist in der Tat tragisch und dramatisch. Die Flüchtlingszahlen haben in den letzten Jahren enorm zugenommen. Die Landesregierung hat sich in den letzten Monaten unglaublich engagiert, und Sie wissen das auch alle, auch Sie, Frau Cárdenas. Als wir zu Beginn dieser Legislaturperiode anfingen, hatten wir im Etat 120 Millionen € stehen. Es ist prognostiziert, dass wir im nächsten Jahr 600 Millionen € ausgeben. An diesen Zahlen können Sie erkennen, dass es einerseits einen unglaublichen Anstieg bei den Flüchtlingszahlen gab und andererseits die Landesregierung in keiner Sekunde gezögert hat, genau dieses Problem ins Visier zu nehmen. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Willi van Ooyen (DIE LINKE): Herr Bocklet, die Situation in Gießen ist dramatisch, und die können Sie nicht mit Geld gutmachen!)

Noch in der letzten Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses haben wir darüber geredet, was menschenunwürdig und was nicht menschenunwürdig ist. Auf meine Frage, wer im Saal der Meinung ist, dass dies menschenunwürdig sei, noch bevor die Zelte in diesem Maße aufgestellt wurden, gab es keine negative Antwort. Insofern kann man davon ausgehen, dass alle Fraktionen der Meinung waren, dass die Erstaufnahmeeinrichtung sicherlich kein Paradies ist, dass es sicherlich wünschenswert wäre, dass wir größeren Komfort hätten.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Sie ist aber jetzt menschenunwürdig!)

Kollege Willi van Ooyen, kleine Sekunde, ich komme gleich dazu. – Die Situation dort ist tatsächlich beengt, sie führt zu Konflikten und setzt die Bearbeiter in den Einrichtungen einem extremen Maß an Stress aus und die Flüchtlinge selbstverständlich auch.

Jetzt haben die Flüchtlingszahlen ein weiteres Mal zugenommen. Die Landesregierung und die ausführenden Behörden, Organisationen und Institutionen, die in diesem Bereich arbeiten, tun sehr viel, damit sich diese Situation verbessert. Die Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung hat auch sehr viel damit zu tun, wie schnell an die Kommunen weitervermittelt werden kann.

Aber wenn die Situation sich so zuspitzt, Herr Kollege van Ooyen und liebe Kollegin Cárdenas, stehen Sie auch vor der Frage: Was tun wir mit diesen Menschen, wenn wir keine Gebäude zur Verfügung haben? Das ist eine ganz einfache Frage. Wenn Sie keine Gebäude zur Verfügung haben, dann ist die menschenwürdigste Form, dass man ihnen ein Dach über dem Kopf bietet. Auch wenn das vorläufig in einem Zelt ist, was sich die wenigsten hier noch vor drei Jahren gewünscht haben, dann muss es aber erst einmal so sein, damit die Menschen überhaupt ein Dach über dem Kopf haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Glauben Sie mir, wenn wir gemeinsam in den Koalitionsrunden sitzen, Herr Minister Grüttner, Staatssekretär Dippel, Kollege Bartelt und viele GRÜNE, aber auch Sozialdemokraten, die Regierungspräsidien, die Wohlfahrtsverbände – ich kann nicht erkennen, Frau Cárdenas, dass irgendein Beteiligter, irgendein Teilnehmer in politischer oder sozialer Verantwortung etwas fahrlässig unterlässt oder Zeit verstreichen lässt. Ich erkenne ein Übermaß an politischem und finanziellem Engagement, und ich finde, das muss man in dieser Stunde erst einmal würdigen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wenn man auf dieser Basis argumentiert, können wir gerne einen Schritt weiter gehen und fragen: Mein Gott, wie geht es diesen Menschen in diesen Zelten? Da gibt es aus unserer Sicht eine große Anteilnahme an diesem Personenkreis. Es ist wirklich nicht schön, und keiner wird es schönreden. Aber was wäre denn die Alternative? Was wäre aktuell die Alternative, wenn die Busse morgens ankommen, und es stehen plötzlich 50 oder 150 Leute vor der Tür? Wenn ich die Berichte der Landesregierung anhöre, dann weiß ich: Die stehen plötzlich da.

Was machen Sie mit diesen Menschen? Da kommt keiner auf die Idee, zu sagen, wir diskutieren erst einmal über einen schöneren Standard. Wir müssen diesen Menschen für diese Nacht ein Dach über dem Kopf verschaffen. Dann ist es kein besonders standardisiertes Ziel, sondern es ist eine menschliche Geste, zu sagen: Ja, wir heißen sie willkommen, und momentan geht es nur mit Zelten.

Genau das ist, was CDU und GRÜNE sagen: Es geht momentan nicht anders. – Aber das als menschenunwürdig zu bezeichnen und politische Absicht zu unterstellen, das ist perfide.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der CDU – Zuruf der Abg. Barbara Cárdenas (DIE LINKE))

Schauen Sie, wie die Aufnahmeeinrichtungen erweitert worden sind. Frau Cárdenas, Sie setzen sich doch sicherlich damit auseinander. Es kann doch kein Mensch die Aussage stützen, dass das eine politisch gewollte Tendenz ist. Es gibt die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, dann zwei Außenstellen in Kirchheim und Bad Arolsen, außerdem in Büdingen und Neustadt. In der Planung sind Kassel-Niederzwehren und die Alheimer-Kaserne in Rotenburg. All das sind Initiativen, damit Zelte nicht zur Dauereinrichtung werden. Sie verschließen die Augen davor, drehen es herum und sagen, die Landesregierung will nichts tun.

(Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Umgekehrt, die sind jeden Tag unterwegs im Land, um neue Unterbringung für diese Flüchtlinge zu finden. Sie wollen diesen Menschen helfen.

(Lebhafter Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der CDU – Manfred Pentz (CDU), zur LINKEN gewandt: Das ist nicht in Ordnung! Das ist unverschämt!)

Die vier Minuten Redezeit verwende ich jetzt noch für den Antrag der Fraktion der SPD, bei dem es um den Schutz von Menschen aus dem Nordirak geht, die Opfer geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt geworden sind. Auch hier haben die Sozialdemokraten die Zielgruppe richtig beschrieben.

Lassen Sie mich dennoch als Vorbemerkung sagen: Es gibt aus anderen Ländern weitere Zielgruppen, die genau dieses Problem haben. Wir werden uns dennoch um dieses Problem kümmern.

Ich freue mich, dass die Landesregierung signalisiert hat, dass das Aufnahmeprogramm gerade für syrische Flüchtlinge fortgesetzt werden wird. Darüber hinaus wird geprüft, wie mit einem Sonderkontingent Menschen, die Opfer geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt geworden sind und aus dem Nordirak und Syrien stammen, ebenfalls die Aufnahme ermöglicht werden soll.

Ich glaube, da sind wir inhaltlich nicht weit auseinander. Aber es gibt eine Fülle an Hürden zu überwinden. Die Kolleginnen und Kollegen aus Baden-Württemberg haben einen ersten Schritt in diese Richtung getan. Sie arbeiteten über Monate an dem politischen Ziel, dieser Zielgruppe zu helfen. Das macht man nicht eben so einmal aus der Lamäng. Ich würde mir wünschen, wir könnten das in den fachlich zuständigen Ausschüssen noch einmal diskutieren.

Heute können wir von diesem Pult aus sagen: Wir prüfen dies wohlwollend. Wir wollen dieser Zielgruppe, den Menschen, die Opfer geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt geworden sind, helfen. Ich glaube, das ist in dieser Stunde ein gutes Signal.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Ich kann als Zwischenfazit nur sagen: Ich bin ernsthaft erzürnt. Frau Cárdenas, liebe Kolleginnen und Kollegen der LINKEN, dieses Thema kann man in den Ausschüssen sachlich und fachlich diskutieren. Wir können darüber diskutieren, wie wir eine noch bessere Situation schaffen und wie wir noch kreativer und noch engagierter diesen Flüchtlingen helfen können. Wir können darüber reden, wie wir sie aufnehmen, wie wir sie auf die Kommunen verteilen, wie wir ihnen Sprachkurse zukommen lassen, wie wir ihnen Traumatisierungsberatung geben können und wie wir sie zum Schluss beruflich integrieren können. Sie werden uns immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.

Aber Sie werden uns nicht an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, das hohe finanzielle und soziale Engagement dieser Landesregierung zu diskreditieren, nur weil für einige Wochen oder Monate Zelte aufgestellt wurden, um diesen Menschen überhaupt helfen zu können. Das werden Sie mit uns nicht machen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das wird dauern!)

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal sagen: Die Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen zeigen ein hohes Maß an Engagement. Ich bin darauf stolz. Ich bedanke mich bei der Landesregierung. Ich bedanke mich auch beim Finanzminister. Das ist alles nicht selbstverständlich. Ich bedanke mich bei den Wohlfahrtsverbänden und den ehrenamtlich Engagierten. Alle arbeiten daran, dass die Situation besser wird. Was wir nicht gebrauchen können, ist eine so unterirdische Vorwurfsdiskussion, wie Sie sie vom Zaun gebrochen haben. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Vielen Dank. – Für eine Kurzintervention erteile ich Herrn Abg. Wilken für die Fraktion DIE LINKE das Wort.