Meine Damen und Herren, dieser Brexit wird selbstverständlich Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in Großbritannien, in Europa, in Deutschland und in Hessen haben. Dazu gibt es die unterschiedlichsten Untersuchungen – wer am Ende recht hat, weiß man heute nicht. Aber die Gefahr, dass dadurch Wohlstandsimpulse geringer werden, dass Arbeitsplätze verloren gehen, ist unheimlich hoch. Auch das sollten wir deutlich machen: dass mit der Europäischen Union eben auch Chancen auf Wachstum und Arbeitsplätze verbunden sind und dass diese Arbeitsplätze gefährdet sind, wenn wir von diesem europäischen Kurs abweichen.
Diese Entscheidung birgt viele Risiken für den europäischen Prozess, für die wirtschaftliche Entwicklung Europas. Wie immer bei Krisen hat sie aber auch Chancen.
Es ist ein Teil der Wahrheit dieser Entscheidung, dass diese Chancen auch in unserem Bundesland liegen könnten, was die weitere Entwicklung des Finanzplatzes Frankfurt angeht. Ich will aber ausdrücklich sagen: Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, die Briten wären in der Europäischen Union geblieben, und wir hätten diese Chancen jetzt nicht. Das wäre für die Gesamtentwicklung des Kontinents sehr viel besser gewesen.
Meine Damen und Herren, aber da wir nun diese Chancen haben, sollten wir sie jetzt auch beherzt nutzen. Denn auch die anderen Staaten werden versuchen, das, was es jetzt an wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozessen in der Finanzwirtschaft gibt, für sich zu nutzen. Natürlich sollten wir als Finanzplatz dann auch darum werben, dass Banken – die ihre Standorte oder ihre Sitze jetzt nicht mehr in London haben können; denn wenn London nicht mehr Teil der Europäischen Union ist, kann es auch nicht mehr die Zu
lassung für europäische Bankengeschäfte vergeben – sich Frankfurt anschauen und sich vielleicht in Frankfurt ansiedeln. Natürlich sollten wir das nutzen. Denn mit diesem Referendum ist Frankfurt der größte und bedeutendste Finanzplatz der Europäischen Union – vielleicht noch nicht Europas, aber der Europäischen Union. Das ist jetzt ein Unterschied.
Deshalb ist es auch sinnvoll, dass wir uns darum bemühen, die europäische Bankenaufsicht nach Frankfurt zu holen und mit dem zusammenzuführen, was es schon an Regulierung im Finanzmarktbereich bei der EZB – die in Frankfurt ist – gibt. Es ist auch sinnvoll, sich darum zu bemühen, die Europäische Arzneimittelagentur nach Frankfurt zu holen.
Herr Schäfer-Gümbel, natürlich entstehen daraus dann viele Fragestellungen für die Infrastruktur in unserem Land. Diese Anforderungen sind auch allesamt nicht neu, an denen arbeiten wir schon jetzt. Wir arbeiten schon sehr gut daran: Denken wir an die Breitbandinitiative des Landes, an 1 Milliarde € für den Wohnungsbau, an all die Maßnahmen zur Stärkung des Finanzplatzes.
Herr Schäfer-Gümbel, die Forderung nach immer noch mehr Geld allein ist noch kein Konzept zur Stärkung des Finanzplatzes Frankfurt. Das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Nancy Faeser und Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wer hat denn das gefordert?)
Herr Kollege Schäfer-Gümbel, ich will Ihnen einmal kurz die Dimensionen verdeutlichen – denn wir müssen uns natürlich immer fragen:
(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Immer versuchen, immer behaupten – und ich habe das Gegenteil gefordert!)
Sind wir hier in Hessen gut, oder sind wir nicht so gut? – Diese Frage werfen Sie zu Recht auf. Das ist legitim und auch Ihre Aufgabe als Opposition.
Stellen wir doch einmal die Dimensionen klar. Gerade hat die Bundesregierung beschlossen, dass sie den Ländern, allen 16 Bundesländern, in den nächsten zwei Jahren 1 Milliarde € für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen wird – 1 Milliarde € für 16 Bundesländer. Meine Damen und Herren, dazu können wir hier in Hessen, die wir als ein Bundesland 1 Milliarde € für den Wohnungsbau zur Verfügung stellen, mit Fug und Recht sagen: Wir werden hier unserer Verantwortung gerecht.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Manfred Pentz (CDU): Das muss man ins Verhältnis setzen! – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Herr Wagner, und wie viel davon ist Bundesgeld?)
Das kann man relativ schnell sagen. Von den 500 Millionen € kommen 35 Millionen € nach Hessen, der Rest sind Landesgelder, die wir dort investieren.
(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Wie viele Millionen von der 1 Milliarde €, die Sie hier verkaufen, sind Bundesgeld?)
1 Milliarde € bundesweit im Vergleich zu 1 Milliarde € hier in Hessen – Herr Kollege Schäfer-Gümbel, diese Dimensionen kann man doch einmal benennen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Micha- el Boddenberg (CDU))
Schon vor dem Referendum fand ich es sehr mutig, dass man im Bewusstsein des Referendums vorschlägt, der Sitz der fusionierten Börse solle in London sein. Das fand ich mutig – bei allen Vorteilen, die das vielleicht für das Unternehmen haben mag, aber diese Entscheidung fand ich mutig.
Nach dem Referendum kann ich persönlich es mir nicht vorstellen, dass der Hauptsitz der größten Börse Europas außerhalb der Europäischen Union liegt. Meine Damen und Herren, auch das will ich sehr deutlich sagen.
Das ändert nichts an den rechtlichen Prüfungen und den Entscheidungen der Landesregierung, aber es übersteigt meine Vorstellungskraft, dass das sinnvoll sein könnte.
Meine Damen und Herren, das Referendum zeigt uns: Die Menschen sind verunsichert, nicht nur in Großbritannien. Viele Veränderungen gehen vielen Menschen zu schnell. Viele Menschen fragen sich: Wo bleibe ich angesichts der Globalisierung? Sie fragen sich: Welche Antworten kann die Politik auf die Herausforderungen unserer Zeit geben, sei es beim Klimawandel, sei es bei der nach wie vor brutal ungleichen Verteilung von Armut und Reichtum, sei es bei anderen Fragen, die die Menschen beschäftigten?
Viele Menschen haben die Sehnsucht, es möge doch wieder einfacher sein. Sie erinnern sich an eine Zeit, in der es – nach ihrer Wahrnehmung – einfacher war, und sie verbinden damit die Zeit des Bestehens der Nationalstaaten. Deshalb stellen sie die einfache Überlegung an: Wenn wir zum Nationalstaat zurückkehren, dann werden auch die anderen Fragen wieder einfacher.
Es ist unsere Aufgabe, zu erklären: Nein, die anderen Fragen werden niemals mehr einfacher werden. Die Globalisierung findet statt. Wir müssen uns der Bekämpfung des Klimawandels stellen. Wir müssen endlich etwas gegen die ungleiche Verteilung von Armut und Reichtum tun. Wir werden die Flüchtlingskrise nur international und gemeinsam lösen können. Die Antwort auf alle diese Fragen liegt eben in einem Mehr an Europa, nicht in einem Zurück zum Nationalstaat. Dafür müssen wir immer wieder werben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lassen Sie uns gemeinsam die Vorteile der Europäischen Union verdeutlichen. Bei allem, was wir in Europa zu kritisieren haben, bei allem, was es an Problemen in Europa gibt, ist die Europäische Union das entscheidende Friedensprojekt auf diesem Kontinent. Der Herr Ministerpräsident hat es schon gesagt: Noch nie haben wir in Europa in einer so langen Periode des Friedens gelebt. – Erinnern wir uns doch einmal daran, wie es vor 25 Jahren war, als der Eiserne Vorhang fiel, mit welcher Sehnsucht die osteuropäischen Länder nach Europa geschaut haben und wie eilig sie es hatten, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, weil diese für sie ein Garant gegen Diktatur, gegen Unfreiheit und für den Schutz der individuellen Menschenrechte war. Auch wenn es uns selbstverständlich erscheint, müssen wir die Menschen immer wieder daran erinnern: Die Europäische Union garantiert unsere Freiheit und unser friedliches Zusammenleben.
Die Europäische Union ist ein Wohlstandsprojekt. Die Geschichte der Europäischen Union hat bislang gezeigt, dass es vielen Ländern und vielen Menschen in diesen Ländern durch den Beitritt zur Europäischen Union besser ging. Denken wir beispielsweise an die Entwicklung der südeuropäischen Länder.
Aber genau an diesem Punkt, bei dem Versprechen, dass es den Menschen durch die Europäische Union besser geht, stehen wir jetzt an einem Scheideweg; denn die Europäische Union kann dieses Wohlstandsversprechen nicht mehr garantieren. Wir in Deutschland profitieren nach wie vor von der Europäischen Union, aber gegenüber vielen südeuropäischen Ländern ist das Wohlstandsversprechen gebrochen worden. Dort herrscht z. B. eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was es bedeuten würde, wenn wir hier in Deutschland Zustände wie in Griechenland hätten. Deshalb habe ich allergrößten Respekt davor, wie die Griechinnen und Griechen mit ihrer Situation umgehen.
Weil das Wohlstandsversprechen der Europäischen Union gebrochen worden ist, müssen wir uns um eine Vertiefung und Neuausrichtung der Europäischen Union kümmern. Die klare Aussage der Politik muss sein: Die Europäische Union ist weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Es geht auch um soziale und um ökonomische Aspekte. Aufgrund unserer Tradition wissen wir in der Bundesrepublik um diese Zusammenhänge. Die Marktwirtschaft in Deutschland wurde wirkungsmächtig, als wir gesagt haben: Es muss eine soziale Marktwirtschaft sein. – Genau darum geht es jetzt auch in Europa. Wir müssen die europäische Einigung vertiefen. Wir müssen die Zusammenarbeit verstärken, damit die Menschen empfinden: Die Europäische Union garantiert uns eine soziale Marktwirtschaft, eine Marktwirtschaft, an der tatsächlich alle teilhaben können.
Dazu gehört auch, dass wir beim Begriff Solidarität in einem etwas größeren Zusammenhang denken. Das ist ja keine neue Entwicklung. Wir lösen heutzutage im Verhältnis zwischen der bundesstaatlichen Ebene und den Bundesländern sehr viele Fragen sehr solidarisch. Wir kämen nicht auf die Idee, unterschiedliche Lebensstandards in einzelnen Bundesländern zu akzeptieren, sondern der Verfassungsauftrag für die Bundesrepublik Deutschland lautet,
gleiche Lebensverhältnisse in allen Bundesländern zu schaffen. Den Gedanken der Solidarität auf die europäische Ebene zu übertragen und in allen Ländern der EU vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen, wird nicht auf Anhieb gelingen. Aber wir müssen in der Europäischen Union sicherstellen, dass es ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit gibt, dass die Jugend Perspektiven hat, dass man bestimmte Prozesse in den Mitgliedstaaten begleitet. Das wäre eine Vision von Europa als einer Schutzmacht gegen die Globalisierung. Das wäre eine Antwort Europas auf Entwicklungen in der internationalen Wirtschaft, eine Antwort, die lautet: Wir versuchen, soziale Standards auf europäischer Ebene zu haben – trotz der Globalisierung. Das kann nur die Europäische Union leisten, das kann kein Nationalstaat mehr alleine leisten.
In dem Zusammenhang wird oft die Frage gestellt: Was kostet das alles? – Als Antwort der Hinweis: Niemand hat mehr von der Europäischen Union profitiert als Deutschland. Wir wurden nach dem Krieg durch die Europäische Union wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker aufgenommen. Ohne die Europäische Union wäre die deutsche Einheit niemals möglich gewesen. Uns allen würde es nicht so gut gehen, wie es uns derzeit geht – zumindest mehrheitlich, bei allen sozialen Problemen, die auch wir haben –, wenn es die Europäische Union nicht gäbe. Deshalb lohnt es sich, für die Europäische Union zu streiten, für ein ökologisches und soziales Europa.
Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Als Nächster spricht Herr Abg. van Ooyen für die Fraktion DIE LINKE.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es muss für die Landesregierung ein Glücksgefühl gewesen sein, als sie gestern im hessischen Finanzplatzkabinett mit den wirklich Mächtigen in diesem Land zusammensaß, um über politische Initiativen für Frankfurt zu reden. Für uns war das eher ein Zeichen für imperiales Gehabe statt ein Signal für solidarische internationale Kooperation.
(Heiterkeit – Michael Boddenberg (CDU): Damit keine Missverständnisse aufkommen: Alle müssen enteignet werden! – Weitere Zurufe von der CDU)
Es wäre eine wesentlich wichtigere politische Maßnahme der Landespolitik gewesen, wenn Sie sich beispielsweise