Wie können wir infrastrukturelle Maßnahmen zur Verfügung stellen, damit Integration nachhaltig funktionieren kann? Viele dieser Themen haben wir uns in zehn bis zwölf Punkten in der Enquetekommission angeschaut. Damals war auch schon klar: In diesem Land wird Migration, wird Flucht ein Thema sein. Es war schon klar und vonseiten der Opposition immer wieder kommuniziert: Wenn wir uns vorbereiten wollen, dann müssen wir das früh machen. Sonst werden wir mit den Projektstrukturen, die wir in Hessen haben, nicht überleben.
Was ist im letzten Jahr passiert? Im letzten Jahr sind unerwarteterweise sehr viele Flüchtlinge gekommen, fast 1 Million nach Deutschland, 70.000 nach Hessen. Wir haben versucht, in der ersten Phase die Unterbringung dieser Leute zu organisieren. Das war auch gut. Die Pflichtaufgabe, die wir in der ersten Phase hinbekommen haben, dass es eben keine Obdachlosigkeit usw. gibt, das war gut organisiert.
Aber ich glaube, hier dürfen wir keinen Punkt machen. In der Integration fehlt mir nach wie vor der Ansatz, das Konzept, wie es strukturell finanziert werden kann, wie wir die Kommunen strukturell dazu in die Lage versetzen, Menschen dort abzuholen, wo sie es können.
Da sind wir noch nicht. Ich habe einen Vorschlag, wie wir das vielleicht anders organisieren können, als nur die Landesregierung zu loben. Ich lobe Sie gerne, wo Sie gut sind, lieber Herr Grüttner und liebe Landesregierung insgesamt. Aber damit ist meiner Meinung nach niemandem geholfen; denn in ein paar Jahren werden wir die Probleme trotzdem haben und uns Gedanken machen.
Von daher mein Appell: Nutzen Sie den konstruktiven Willen der Opposition. Versuchen Sie, gemeinsam ein nachhaltiges Integrationskonzept zu etablieren und uns nicht mehr oder weniger zu provozieren, Ihnen immer wieder Ihre Fehler vorzuhalten. Seien Sie bereit, auf die Kritik einzugehen.
Was ist die Kritik? Die unabhängige Rechtsberatung fehlt immer noch in Hessen. Wenn wir von Menschen, die zu uns geflüchtet sind, erwarten, dass sie sich integrieren, unsere Rechtsnormen einhalten und sich auch rechtlich helfen können, dann müssen wir sie dabei unterstützen, damit sie wissen, was ihre Rechte und ihre Pflichten sind. Viele Menschen sind heute trotzdem alleingelassen und haben keine unabhängige Rechtsberatung. Das muss meiner Meinung nach etabliert werden, sonst haben wir ein Problem.
Zweitens. Die psychosoziale Betreuung und die Traumaarbeit sind in Hessen nicht etabliert. Wir haben im Norden und im Süden Hessens keine Angebote. Angebote gibt es überwiegend in Frankfurt, und es ist nicht klar, wer von diesen Traumaangeboten überhaupt profitieren kann. Wir brauchen flächendeckend Traumatherapiezentren. Es ist auch in unserem Interesse, wenn Menschen, die zu uns geflüchtet sind, dabei unterstützt werden, die schwierigen Erlebnisse, die sie auf dem Fluchtweg erlebt haben, zu verarbeiten, um endlich in diesem Land Hessen wirksam mitwirken zu können oder ein Leben organisieren zu können.
Wenn wir mit Fachleuten sprechen, erzählen sie uns etwas anderes. Die Fachleute sagen, dass die Traumaangebote in den Krankenhäusern nicht ausreichend sind. Sie sagen auch, dass nicht ausreichend Traumatherapeuten da sind. Von daher muss schleunigst ein Konzept vonseiten der Landesregierung geliefert werden; denn sonst haben wir ein Problem.
Was die berufliche Qualifizierung der zu uns Geflüchteten betrifft: Ja, wir haben Weiterqualifizierungs- und Nachqualifizierungsmaßnahmen. Aber viele dieser Maßnahmen werden nicht evaluiert. Ich weiß, dass wir in der letzten Legislaturperiode Herrn Hahn immer wieder mehr oder weniger in die Pflicht genommen haben, dass er alles das, was er als Programme anbietet, evaluieren lässt. Es war auch ein großer Schwerpunkt von Ihnen. Herr Hahn, ich gebe zu, ich war damals sehr kritisch. Mittlerweile muss ich vieles von dem, was Sie gemacht haben, positiver anerkennen, als ich es damals zugegeben habe.
Aber ich muss auch sagen: Damals haben wir als Opposition versucht, Sie konstruktiv dabei zu begleiten, wie man Integration nachhaltig organisieren kann. Dass man jetzt diejenigen zum Jagen tragen muss, die damals in der Opposition genau das Gleiche gesagt haben wie ich, das ist sehr verwunderlich.
Die Qualifizierungsmaßnahmen sowohl im Wirtschaftsministerium als auch im Sozialministerium sind keiner Evaluation unterzogen. Deswegen kann man überhaupt nicht nachprüfen, ob diese Ansätze etwas bringen oder ob dort Geld verpulvert wird.
Das, was mir persönlich von vielen Menschen berichtet wird, ist, dass sie von diesen Maßnahmen überhaupt nicht profitieren können, sondern dass sie von freien Trägern in Bildungsstrukturen hineingedrängt werden und damit nachher trotzdem keine Arbeit finden. Das hat früher den sogenannten – das ist der juristische Begriff – Bestandsausländern nicht geholfen, und den jetzt zu uns Geflüchteten hilft es auch nicht.
Wenn Sie Integration nachhaltig organisieren wollen, müssen Sie meiner Meinung nach ein ganz anderes Konzept etablieren. Es wäre gut, wenn wir ein Integrationsgesetz hätten, wenn Sie Integration zu einer Art Pflichtaufgabe erklären würden, wie z. B. Jugendhilfe vor Ort als Pflichtaufgabe gesehen wird. Im Kommunalen Finanzausgleich sollten für diese Pflichtaufgabe feste Strukturmittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Kommunen vor Ort auf der einen Seite Integrationsmaßnahmen etablieren können und
auf der anderen Seite diejenigen, die sich dieser Integration verweigern, notfalls mit Sanktionen belegen können.
Zurzeit gibt es keine ausreichenden Angebote. Es gibt keine ausreichenden Strukturen. Stattdessen gibt es Sanktionen. Viele Leute, die sich Mühe geben, sich zu integrieren, es aber nicht schaffen, verstehen diese Sanktionen nicht. Ich möchte deswegen klarmachen: Wenn wir keine Infrastruktur für Integration aufbauen, sondern uns damit aufhalten, die selbstverständliche Arbeit der Landesregierung immer wieder zu loben, dann werden wir meiner Meinung nach nie damit weiterkommen. Das wäre eine verpasste große Chance, weil Sie auf der einen Seite die Opposition an Ihrer Seite haben, die Sie mit konstruktiver Kritik begleitet, und auf der anderen Seite auch eine wohlwollende Gesellschaft.
Was ich als letzten Punkt noch als Kritik ansprechen will, warum ich mit den sozialen Integrationsangeboten, wie sie jetzt existieren, nicht einverstanden bin: Wir haben im letzten Jahr die Balkanstaaten leider zu sicheren Herkunftsländern bestimmt. Das hat jetzt die Konsequenz, dass viele junge Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind und einem Balkanstaat angehören, nicht wissen, ob sie bleiben können oder sogar abgeschoben werden.
Jüngst hatten wir auch in Hessen, in Karben, den Fall einer Schülerin, die einfach aus dem Unterricht herausgenommen und abgeschoben worden ist – nur weil sie aus dem Balkan stammte. Hätten wir diese Länder nicht zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, dann hätte diese Person vielleicht eine realistische Chance auf eine Bleibeperspektive gehabt. Stattdessen ist das ein pauschales juristisches Instrument, das wir nutzen und das meiner Meinung nach nichts mit humanitärer Flüchtlingspolitik zu tun hat.
Viele der Gelder, die wir jetzt ausgeben, sind Gelder, die wir vom Bund bekommen haben. Als Gegenleistung hat man dem Asylverschärfungsgesetz zugestimmt. Der Geldsegen, der jetzt mehr oder weniger auch auf Hessen einströmt, ist ein teuer erkaufter Geldsegen, das möchte ich in dieser Situation benennen. Leider wissen jetzt zahlreiche Flüchtlinge aus dem Balkan oder aus Afghanistan nicht, ob sie bleiben können oder abgeschoben werden. Auch das gehört zur Wahrheit dazu, meine Damen und Herren.
Man hätte auf der einen Seite schon die Asylverfahren abwarten können und auf der anderen Seite einen legalen Statuswechsel für diese Menschen – –
(Günter Rudolph (SPD), an Minister Stefan Grüttner gewandt: Das entscheide ich als Abgeordneter selbst!)
Einen Moment bitte, Frau Kollegin. – Ich möchte doch bitten, dass von der Regierungsbank keine Zwischenrufe ge
Ich hätte auch nicht hinzuhören brauchen, aber ich bin eben höflich. – Nein, es muss schon klar sein, dass wir andere Wege hätten gehen können. Wir hätten das Asylverfahren abwarten können. Und wenn Menschen halbwegs die Option haben, hierbleiben zu können, z. B. weil sie die Sprache können, hätte man ihnen auch einen legalen Statuswechsel anbieten können.
Diesen Statuswechsel haben Sie auf Bundesebene überhaupt nicht mit der Bundesregierung, mit dem Bundesinnenminister diskutiert, sondern man hat einfach nur die bekannten Konzepte aus den Neunzigerjahren aus der Schublade gezogen: Passt mir ein Land nicht, mache ich es einfach zum sicheren Herkunftsstaat.
Das sind die Konsequenzen, mit denen wir heute leben. Ich sage nur: Die Zahl der Länder, in denen es Fluchtursachen geben wird, wird sich in den nächsten Jahren erhöhen. Leider wird dazu wahrscheinlich auch die Türkei zählen; sie ist schon heute ein Land, das – –
Okay, ich höre auf. – Die Türkei produziert schon heute Flucht. Von daher müssen wir andere Wege gehen; das habe ich in der Vergangenheit schon gesagt.
Ein nachhaltiges Integrationsinfrastrukturkonzept fehlt hier noch. Wir sind dabei, Ihnen zu helfen, lieber Herr Minister. Nehmen Sie diese Hilfe an, damit wir in zehn Jahren nicht immer noch über die gleichen Themen diskutieren; denn Integration ist eine Aufgabe von uns allen gemeinsam. – Herzlichen Dank.
Danke, Frau Kollegin Öztürk. – Herr Kollege Bocklet von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat sich noch einmal zu Wort gemeldet. Das geht von der Gesamtredezeit der Fraktion ab, aber es gibt noch ein kleines Polster. Bitte schön.
Wir haben kurz überlegt, ob wir darauf reagieren sollen, aber ich finde, das kann man so nicht stehen lassen. Was sich im Vergleich zwischen den Oppositionszeiten der GRÜNEN und der Zeit der Regierungsbeteiligung verändert hat, sind ziemlich genau 1,6 Milliarden €.
Die Frage ist eher, ob man dieselbe Rede in der Opposition genauso hält. Die Frage ist, wie man eine Rede hält, wenn
man vier Jahre lang Erkenntnisse nicht zur Kenntnis nehmen will. Es gibt einen Aktionsplan I und II, es gibt 1,6 Milliarden €. Frau Öztürk, Ihre Rede klingt so, als sei nichts passiert. Darüber sollten Sie einmal nachdenken – Punkt eins.
Punkt zwei. Auch eine unabhängige Abgeordnete ist aufgefordert, das, was sie immer wieder sagt – auch wenn es zum zehnten Mal dasselbe ist –, irgendwann einmal in Form eines Antrags einzubringen, damit wir erfahren, was Sie eigentlich anders machen wollen. Das bleiben Sie weiterhin schuldig. – Danke.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Mürvet Öztürk (fraktionslos): Meint ihr meine in der Fraktion abgelehnten Anträge? Außerdem, ein Blick in die Geschäftsordnung hilft: Ich darf als einzelne Abgeordnete keine Anträge stellen, Kollege! – Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Einmal etwas mehr außer Geschwätz! – Unruhe)
Danke, Herr Kollege Bocklet. – Für die Landesregierung spricht nun Staatsminister Grüttner. Bitte schön, Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Einzelplan 08 umfasst eine Vielzahl von Initiativen, Maßnahmen und Arbeitsfeldern. Deshalb ist es vielleicht angesagt, eingangs festzustellen, welchen Rahmen Sozialpolitik aus meiner Sicht hat bzw. aus welcher Haltung sich Sozialpolitik meinem Verständnis nach ableitet.
Dies ist auf der einen Seite der gesellschaftliche Zusammenhalt, der ein bedeutendes, wenn nicht sogar das bedeutende Thema dieser Zeit ist. Die Frage, wie wir den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken, zieht sich letztendlich wie ein roter Faden durch fast alle Handlungsfelder der Sozialpolitik. Das geht von der Integrationspolitik über die Familienpolitik mit Kindertagesstätten, von der Unterstützung von Familien über die Seniorenpolitik bis hin zur Gemeinwesenarbeit und zur Förderung des Ehrenamts. Das heißt, wir machen Sozialpolitik für alle Menschen in unserem Land, egal ob sie gerade zu uns gekommen sind, ob sie hier eine neue Heimat finden möchten oder ob sie schon immer hier leben.
Da unterscheiden wir schlicht und einfach nicht. Wir wollen jedem Einzelnen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und werden jeden Einzelnen auch in Zukunft als wichtigen Teil unserer Gesellschaft wertschätzen.