will ich diesen Geburtstag am heutigen Tage ganz bewusst nicht nur nutzen, um zurückzublicken, sondern auch, um einen Blick nach vorne zu wagen. Denn damals wie heute sind einige der Herausforderungen geblieben; manche stellen sich heute neu – sicherlich in einem anderen Kontext und auf einem völlig anderen Niveau, aber die Herausforderungen bleiben.
Viele Bürgerhäuser, Schulen und Sportstätten von damals haben ihre Halbwertszeit deutlich überschritten. Ich will ausdrücklich auf unsere Haushaltsdebatte zum Thema Investitionsstau verweisen: Bezahlbarer Wohnraum ist auch heute wieder ein großes Thema –
ein Thema, das uns immer wieder hier im Landtag mit einer solchen Wucht beschäftigt, dass alle Kolleginnen und Kollegen wissen, wovon ich rede: Aufstiegschancen für Menschen aus bestimmten sozialen Gruppen werden kleiner und deren Probleme damit größer. Die Lebensbedingungen in Stadt und Land entwickeln sich auch wegen des demografischen Wandels auseinander.
Die Frage des Erhalts und der Sicherung der Daseinsvorsorge sowie der Bezahlbarkeit von Daseinsvorsorge im ländlichen Raum wird in den nächsten Jahren eine immer größere Aufgabe für uns werden. Gebührenfreie Bildung von Anfang an ist aus unserer Sicht eines der Gebote der Stunde – nicht nur um Familien zu entlasten, sondern vor allem um dafür zu sorgen, dass soziale und kulturelle Teilhabe für alle wirklich möglich wird. Das ist nach wie vor eine der Verpflichtungen aus der Verfassung, wie wir sie heute kennen. Ich will deutlich dazusagen: Mit uns wird es an diesem Wesenskern der Verfassung auch keine Veränderung geben.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Integration – auch dazu hat Herr Boddenberg einiges gesagt – bleiben Kernthemen unserer Zeit. In der Tat, sie stellen sich seit
dem letzten Jahr noch einmal anders, und ich will das ausdrücklich zurückgeben: Ich bedanke mich für die freundlichen Worte im Zusammenhang mit der Zusammenarbeit im vergangenen Jahr.
Es bleibt bei unserer Grundhaltung, dass wir diese Zusammenarbeit fortsetzen, bei allen Holprigkeiten der letzten Monate – die lasse ich mal beiseite. Aber es bleibt bei dieser grundsätzlichen Vereinbarung; denn wenn wir es nicht tun würden, dann würden wir am Ende das Geschäft der Populisten betreiben. Das ist die eigentliche Gefahr und Herausforderung für uns in den nächsten Jahren mit Blick auf viele Wahlentscheidungen und Entscheidungen insgesamt, mit Blick auf den Brexit und anderes in den letzten Monaten.
Deswegen will ich ganz am Ende auf eine weitere Verpflichtung oder Aufgabe, die ich für uns sehe, zu sprechen kommen. Das ist die Frage: Wie fördern wir Demokratie? Sind wir heute in unserem Bildungssystem, in der Art und Weise, wie Parteien funktionieren, wie Wählergemeinschaften funktionieren, wie Staatlichkeit funktioniert, auf der Höhe der Zeit, wenn wir die großen Worte der Teilhabe ernst nehmen?
Ich will ganz bewusst am Ende noch einmal Georg August Zinn zitieren, der einmal gesagt hat: Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sie ist auch eine Lebensweise.
Ich wünsche mir sehr für uns, nicht nur in solchen schwergewichtigen Debatten wie heute, sondern auch im politischen Alltag dieses Parlaments, dass wir uns die, wie ich finde, wesentlichste Weisheit von Georg August Zinn auch im Alltagsgeschäft zu Herzen nehmen und versuchen, offener miteinander über die Zukunft dieses Landes zu streiten, und zwar zu streiten im Sinne konstruktiver Erarbeitung von Lösungen.
Ich glaube, dass die Zeit für einen neuen Hessenplan gekommen ist, der versucht, die Aufgaben, die ich am Ende versucht habe zu beschreiben, die ich sehe, zu beantworten. Wenn wir darauf keine Antwort geben, dann wird das mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schwierig. Ich möchte auch in 70 Jahren – dann von anderer Stelle; das werde ich selbst nicht mehr erleben – sehen, dass dieser Landtag nach wie vor diese Erfolgsgeschichte von Hessen feiern kann. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich erteile dem Vorsitzenden der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herrn Abg. Mathias Wagner, das Wort.
Herr Präsident, sehr geehrte Ehrengäste, meine Damen und Herren! 70 Jahre Hessen in 15 Minuten, das kann nur ausschnitthaft sein. Das können nur Akzente sein, auf die man eingehen will und eingehen kann. Ich will versuchen, einen Bogen zwischen dem zu spannen, was uns in der Geschichte Hessens bewegt hat, und dem, was uns heute noch bewegt bzw. wo wir für die Themen heute etwas aus unserer Geschichte lernen können.
Beginnen möchte ich damit, dass sich viele Menschen in unserem Land fragen, was gerade in Amerika passiert, dass sie Sorgen über die Entwicklung in Amerika haben. Das soll auch Raum haben. Aber darüber sollte nie vergessen gehen, dass sich Deutschland und Hessen nicht selbst vom Naziterror befreit haben, sondern dass es die Alliierten waren und dass es in Hessen die Amerikaner waren, die uns befreit haben und die uns Demokratie gebracht haben. Daran sollten wir immer denken und uns immer erinnern.
Wir haben auch den Aufbau unseres Landes nicht alleine hingebracht, sondern hatten dabei auch große Unterstützung, wenn ich an den Marshallplan erinnern darf. Diese Hilfe, die uns vor 70 Jahren zuteilwurde, sollte uns heute den Großmut geben, dass wir andere Nationen, andere Staaten, die auch in krisenhaften Situationen sind, in ihrer Aufbauleistung unterstützen und dass wir an die Krisen in anderen Ländern erinnern und uns verpflichtet fühlen, dazu nicht zu schweigen.
Aufarbeitung und Entnazifizierung, das war das große Thema nach dem Krieg lange Zeit eben nicht. Es bedurfte erst Fritz Bauer und anderer Menschen, die die Hessinnen und Hessen damit konfrontiert haben, was im Dritten Reich passiert ist, der viele Anfeindungen über sich ergehen lassen musste, der trotzdem nicht aufgegeben hat, der die Auschwitz-Prozesse mit auf den Weg gebracht hat, der immer wieder Fragen gestellt und dafür gesorgt hat, dass diese deutsche Geschichte aufgearbeitet wurde.
Dazu gehört auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung, von den Nazis aus dem Land vertrieben und nach dem Krieg wieder zurückgekehrt, mit wesentlichen Beiträgen zur Aufarbeitung der dunkelsten Phase unserer deutschen Geschichte.
Vor diesem Hintergrund unserer Geschichte ist es besonders beschämend, wenn wir heute, im Jahr 2016, wieder ein Anwachsen von antisemitischen Äußerungen und Taten feststellen müssen. Es ist beschämend, wenn Rassismus, wenn völkisches Denken wieder zurück im politischen Diskurs ist.
Meine Damen und Herren, es war beschämend, dass wir die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds so lange nicht erkannt haben, dass Halit Yozgat aus Kassel sterben musste von der Hand dieser mörderischen Terrorgruppe. Das ist und das bleibt beschämend, und wir müssen es aufklären.
Der Geist und der Auftrag unserer Hessischen Verfassung lautet: nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Auschwitz. Das leitete die Väter und die Mütter der Hessischen Verfassung, die auch hier erwähnt werden sollen; denn es gab drei hessische Mütter der Verfassung, an ihrer Spitze Elisabeth Selbert. Elisabeth Selbert hat bei der Hessischen Verfassung, später auch beim Grundgesetz, dafür gestritten, dass sich der schlichte, einfache und eigentlich so selbstverständliche Satz im Grundgesetz und ähnlich auch in der Hessischen Verfassung findet: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Auch deshalb sind 70 Jahre Hessen auch 70 Jahre Kampf und Engagement für gleiche Rechte für alle Menschen,
aber insbesondere auch für gleiche Rechte von Männern und Frauen. Es war später die Frauenbewegung in den Siebziger-, in den Achtzigerjahren, die dafür gesorgt hat, dass das, was in der Verfassung schon immer als Auftrag stand, stärker Verfassungswirklichkeit wurde und tatsächlich durchgesetzt wurde. 1993 gab es dann ein bundesweit beachtetes Gleichberechtigungsgesetz für die Beschäftigten in den öffentlichen Verwaltungen. Aber wir sind bei diesem Verfassungsauftrag noch nicht fertig. Noch immer gibt es ungleiche Behandlung zwischen Frauen und Männern, verdienen Frauen weniger als Männer und gibt es die gläserne Decke, was Führungsfunktionen angeht. 70 Jahre danach haben wir viel erreicht, aber noch eine Menge zu tun.
70 Jahre Hessen sind 70 Jahre Einsatz für Freiheit, für Vielfalt und für Offenheit. Auch das hatten die Mütter und Väter unserer Verfassung schon in der Verfassung angelegt. Aber es bedurfte erst der Bewegung der 68er, der neuen sozialen Bewegung, um weite Teile dieses Freiheitsversprechens, dieses Vielfaltsversprechens, dieses Offenheitsversprechens tatsächlich für alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu verwirklichen. Deshalb gehört die 68erBewegung bei allem, was man kritisieren kann, bei mancher Übertreibung, zu dieser hessischen Geschichte. Das ist auch gut so. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem es diese Freiheitsrechte, die damals erstritten wurden, nicht gibt.
Zu 70 Jahren Hessen gehört aber auch, dass diese Gleichheit nicht immer für alle galt und dass wir bis heute daran arbeiten müssen, dass sie gilt. § 175 aus dem Strafgesetzbuch, mit dem homosexuelle Handlungen unter Strafe standen, galt bis in die Sechzigerjahre unverändert fort. Er wurde erst in den Neunzigerjahren abgeschafft. Deshalb ist es gut, dass wir heute für Akzeptanz und Vielfalt unabhängig von sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität eintreten und dass wir uns hier im Hessischen Landtag verpflichtet haben, das Unrecht des § 175 aufzuarbeiten.
Es lohnt, in diese Hessische Verfassung zu schauen, in die Einfachheit der Sprache, aber die Deutlichkeit der Aussagen. Diese Hessische Verfassung hat allen Stürmen der Zeit und des Zeitgeistes getrotzt, weil sie so klar ist und so klare Handlungsaufträge enthält. Deshalb sollten wir diese Verfassung nicht ins Museum stellen. Wir sollten uns schon fragen: Wie können wir sie modernisieren? Aber ich glaube, wir sollten sie in ihrem Kern erhalten und einzelne punktuelle Veränderungen an ihr vornehmen.
70 Jahre Hessen, das sind 70 Jahre gelungene Integration. Es wurde schon angesprochen: Das waren die Heimatvertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Sechzigerjahren waren es dann die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die wir in unser Land eingeladen haben. Dann waren es die Spätaussiedler. Auch heute beschäftigt uns wieder das Thema, dass Menschen in unser Land kommen, die ihr Heimatland verlassen und die vor Krieg und Gewalt fliehen mussten. Auch jetzt geht es wieder um Integration.
Es sollte uns Mut geben, dass diese Integrationsleistung in unserem Land gelungen ist. Da wir heute einen Minister
präsidenten mit dem Familiennamen Bouffier haben und sein Stellvertreter Al-Wazir heißt, können wir mit Stolz sagen: Gelungene Integration ist in unserem Land die Regel.
(Heiterkeit und Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und der FDP)
70 Jahre Hessen. Hessen ist ein prosperierender Wirtschaftsstandort. Aber es ist auch immer ein Ort des kritischen Diskurses gewesen und soll das auch bleiben.
Ja, die wirtschaftliche Entwicklung ist wichtig. Wir waren Standort der Bundesbank und sind es noch heute. Wir sind Standort der Europäischen Zentralbank. Wir haben den Finanzplatz Frankfurt.
Aber ebenso hat uns die Frankfurter Schule, hat uns die Kritische Theorie und haben uns Max Horkheimer, Theodor Adorno und Jürgen Habermas immer darauf hingewiesen, kritisch zu bleiben und Fragen zu stellen. So spannt sich auch da ein Bogen von der wirtschaftlichen Entwicklung Hessens bis hin in die Neuzeit. Die kapitalismuskritische Bewegung und der friedliche Teil der Blockupy-Bewegung, all das gehört zu Hessen. All das gehört zusammen. All das macht Hessen aus, dass es auch gleichzeitig stattfindet.
Die Frage nach Globalisierung für wen ist, glaube ich, aktueller denn je. Wir sollten uns alle verpflichtet fühlen, dass alle Menschen in unserem Land teilhaben können, dass alle Menschen Chancen haben. Wir sollten die Bildungspolitik und die Sozialpolitik so gestalten, dass der große wirtschaftliche Wohlstand, den Hessen hat, auch allen Menschen zugutekommt.
70 Jahre Hessen, das ist auch die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen, der Ökologiebewegung und der GRÜNEN. In den Siebzigerjahren herrschte ein blinder Fortschritts- und Wachstumsglauben, zu dem immer mehr Bürgerinnen und Bürger gesagt haben: Das kann so nicht funktionieren, unendliches Wachstum auf einem begrenzten Planeten, das wird nicht gehen.
Die Proteste haben auch hier in Hessen Ausdruck gefunden, beispielsweise in den Debatten über den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Über 100.000 Menschen haben gegen den Bau der Startbahn West demonstriert. 220.000 Menschen haben Unterschriften für ein Volksbegehren gesammelt. Denn an diesem Projekt wurde deutlich: So, wie man es geglaubt hat, nämlich blinder Wachstumsglaube ohne eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und das einfache Durchziehen der Projekte, das funktioniert nicht.
Mit dem, was dann am Frankfurter Flughafen bei den Demonstrationen passiert ist – zwei Polizisten wurden erschossen –, wurde die Grenze überschritten. Daraus wurde in diesem Bundesland eine Lehre gezogen, nämlich die, dass wir solche Projekte mit anderen Verfahren machen wollen. Deshalb gab es dann das Mediationsverfahren. Bei aller Kontroverse über den Frankfurter Flughafen heute sollten wir uns immer daran erinnern, dass es uns um einen Ausgleich der Interessen und um das Zuhören gehen muss. Gewalt aber ist niemals ein Mittel der Politik.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und der FDP)
In der vergangenen Woche erhielten wir die Meldung, dass das Atomkraftwerk Biblis, Block A, kernelementefrei ist. Was für eine Entwicklung!