Was haben wir in Hessen gestritten. Es sollte sogar das Atomkraftwerk Biblis, Block C, gebaut werden. Es sollte in Hessen eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut werden. ALKEM und NUKEM, der Streit um die Hanauer Atomfabriken, all das ist in Hessen Geschichte. Das ist gut so.
Manches aus den Debatten vor der Ökologiebewegung erscheint uns heute unvorstellbar. Da gab es doch wirklich einmal die Idee, in die Grube Messel Müll zu kippen. Gott sei Dank ist es so nicht gekommen. Wir haben jetzt in Messel ein UNESCO-Weltnaturerbe.
Gott sei Dank haben wir auch den Nationalpark Kellerwald-Edersee. Auch darum gab es viele Auseinandersetzungen, die heute keiner mehr nachvollziehen kann. Heute halten das alle für selbstverständlich.
Das war das Klima, in dem dann diese neue, junge Partei Ende der Siebzigerjahre bzw. Anfang der Achtzigerjahre entstanden ist. Bei dieser Geschichte kann es nicht verwundern, dass Hessen mit Joschka Fischer das erste Bundesland mit einem grünen Minister war. Er wurde im Hessischen Landtag vereidigt. Das geschah damals in Turnschuhen. Sie sehen: Heute trägt man auch Krawatte, aber es bleibt immer grün.
Es gab dann auch den ersten grünen Minister in einem klassischen Ressort. Rupert von Plottnitz ist da. Das war das Justizressort. Lieber Rupert, was waren das für Debatten? – Du hast das wunderbar gemacht. In der Konsequenz gab es dann auch den Bundesaußenminister. Da hast du Pionierarbeit geleistet.
70 Jahre Hessen, das ist ein Land als Politiklabor, und zwar nicht nur, was die Entstehung der GRÜNEN angeht. Wir erinnern uns an die langen Jahrzehnte des roten Hessens mit dem Slogan der Sozialdemokratie: „Hessen vorn“, in denen unser Land vorangebracht wurde. Auch damals gab es schwierige Debatten mit einer konservativen Bundesregierung, bei denen sich Hessen immer als ein Bundesland verstanden hat, das ein bisschen anders und ein bisschen progressiver ist.
Hessen als Politiklabor. Es ist das Land, so glaube ich, mit der meisten Erfahrung mit geschäftsführenden Landesregierungen. Es gab sie bei Holger Börner und später bei Roland Koch.
Tolerierung, auch das ist ein Begriff, der sich für immer in die hessische Politikgeschichte eingegraben hat. Die erste rot-grüne Koalition gab es dann in Kassel – später gab es sie im Land. Herzliche Grüße an den früheren Ministerpräsidenten Hans Eichel.
Hessen war das erste Land mit einer rot-grünen Regierung. 2008 war Hessen das erste Land, in dem es fast eine rotgrün-rote Regierung gegeben hätte. 2014 ist Hessen das Land, in dem es die erste schwarz-grüne Regierung in ei
nem Flächenland gibt. Dieses Land ist lebendig. In diesem Land wird Politik gemacht und wird auch politische Geschichte geschrieben.
Wir waren weltweit das erste Land mit einem Datenschutzgesetz und einem Datenschutzbeauftragten. Das sollte uns Verpflichtung sein, dass uns ein bisschen mehr dazu einfällt, wie wir Hass und Gewalt in den sozialen Medien in den Griff kriegen.
Der Frankfurter Weg in der Drogenpolitik macht heute noch bundesweit Schule. Das erste Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt hat sehr früh gezeigt, wie Integration in unserem Land gelingen kann.
Es wird in diesem Hessenland nie langweilig. Wir Hessinnen und Hessen sind eine muntere Truppe. Nicht umsonst haben die Rodgau Monotones gesungen:
Wir sollten uns daran erinnern, welche Probleme und Herausforderungen unser Land vor 70 Jahren hatte und wie groß die Herausforderungen waren. Sie waren ungleich größer als heute. Das sollte uns den Mut geben, dass wir auch die heute anstehenden Fragen lösen können. Es sollte uns Grund zur Zuversicht geben, die Probleme, die wir ohne Zweifel in unserem Land noch haben, anzupacken. Es sollte uns alle darin bestärken, das freie, das vielfältige und das offene Hessen gegen alle Anfeindungen zu verteidigen. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir erinnern heute an die Gründung des Landes Hessen und das Inkrafttreten der Hessischen Verfassung vor 70 Jahren. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, das waren die Lehren aus dem Holocaust und aus dem Zweiten Weltkrieg. Viele Menschen, die 1945 aus den Konzentrationslagern und den Gefängnissen der Nazis befreit worden waren oder aus dem Exil zurückkehrten, machten sich daran, eine neue, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen.
Die Atmosphäre dieses Neubeginns 1945 beschrieb Elisabeth Selbert, eine der Mütter des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung, wie ich finde, eindrücklich in ihrer Erinnerung an das erste Treffen der Sozialdemokraten im Kasseler Rathaus kurz nach Kriegsende. Sie war um vier
Uhr morgens aufgestanden, um sich auf den sechsstündigen Fußweg von ihrem Wohnort Melsungen nach Kassel zu machen. Ich zitiere:
… die erste Zusammenkunft der hessischen Sozialdemokraten nach dem Hitler-Reich. Ich empfinde noch heute die Rührung über die Freude: dass wir noch da waren! Über jeden haben wir uns gefreut, der noch oder wieder da war. Es war … eine unendliche Freude darüber, dass wir wieder frei atmen konnten.
Wieder frei atmen können. Nach der Befreiung vom Faschismus entwickelten sich an vielen Orten gesellschaftliche Bewegungen, die auch durch Landesverfassungen „den Grundstein für ein neues gesellschaftliches Gebäude“ legen wollten, darunter viele Verfolgte des Naziregimes, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass eine politische auch eine wirtschaftliche Neuordnung bedeuten müsse. Nicht nur von SPD und KPD, sondern bis in die Reihen der Union wurde die Auffassung vertreten, dass „das kapitalistische Wirtschaftssystem … den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“ sei, wie es im Ahlener CDU-Parteiprogramm von 1947 heißt. Denn:
Bei einer Formaldemokratie in der Politik und beim Vorhandensein eines Absolutismus in der Wirtschaft kann niemals eine Grundlage für eine sinnvolle Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gefunden werden.
Meine Damen und Herren, dieses Zitat stammt nicht von Karl Marx, sondern von Karl Arnold, Mitbegründer der CDU und ehemaliger Ministerpräsident von NRW.
Die Hessische Verfassung ist ein Bekenntnis zum Frieden, zum Antifaschismus, zur Gleichheit und Freiheit der Menschen, zu sozialen Rechten und zur Beschränkung wirtschaftlicher Macht.
Sie war die erste Landesverfassung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland verabschiedet wurde – am 1. Dezember 1946 durch Volksentscheid: 76,9 % der Wähler stimmten für die Verfassung.
Frieden, Freiheit, Völkerverständigung und die Ächtung des Krieges sind zentrale Bestandteile der Hessischen Verfassung. Art. 69 besagt:
Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, einen Krieg vorzubereiten, ist verfassungswidrig.
Die Lehre aus dem Aufstieg des Faschismus zu ziehen, bedeutete, Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte in der Verfassung als unveräußerlich zu verankern ebenso wie die Demokratisierung und die Gemeinwohlorientierung der Wirtschaft.
An vielen Stellen in der Hessischen Verfassung zeigen sich dieser antikapitalistische Grundansatz und das Ziel einer wirtschaftlichen sozialen Demokratie.
Denn vielen war noch in lebendiger Erinnerung, dass es auch der Druck und der Einfluss des Großkapitals waren, die zum Aufstieg der Nazis führten. Wolfgang Abendroth schrieb:
Abgesehen von Teilen der liberal-demokratischen Parteien waren sich alle politischen Parteien zunächst mit den Gewerkschaften... in der Erkenntnis einig, dass der Weg in die faschistische Diktatur... nur durch die spätkapitalistische Struktur der Wirtschaft und das Bündnis zwischen dem Management der Wirtschaft und der nationalsozialistischen Partei möglich geworden war. Deshalb war die Überzeugung Gemeingut, dass diese Struktur … verändert werden müsste.
So nehmen die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten einen großen Raum in der Hessischen Verfassung ein. Sie finden sich gleich in dem ersten Hauptteil unter der Überschrift „Die Rechte des Menschen“.
Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen.
Meine Damen und Herren, „sinnvoll lenken“ heißt eben nicht, es dem Markt zu überlassen. Der Reichtum, der gesellschaftlich produziert wird, soll gerecht verteilt werden und nicht in den Taschen weniger landen.
Jeder Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt.