Protokoll der Sitzung vom 30.11.2016

Jeder Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit – insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht – ist untersagt.

Vermögen, das die Gefahr solchen Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, ist auf Grund gesetzlicher Bestimmungen in Gemeineigentum zu überführen.

Bei festgestelltem Missbrauch wirtschaftlicher Macht ist dabei sogar auf Entschädigung zu verzichten. Großgrundbesitz sollte im Rahmen einer Bodenreform eingezogen werden.

Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber hat diese Artikel der Verfassung leider nie umgesetzt. Was würde es bedeuten, wenn wir diese Verfassungsartikel umsetzen würden? Was würde es für Konzerne wie E.ON und RWE, Amazon oder die in Hessen ansässige Eigentümerfamilie von BMW bedeuten, wenn Kapital begrenzt wäre?

Bei den Energiekonzernen sehen wir beispielhaft diese monopolistische Zusammenballung und einen daraus resultierenden enormen politischen Einfluss, z. B. um die Energiewende auszubremsen. Die heutigen Eigentumsverhältnisse blockieren also gesellschaftliche Entwicklungen.

Wirtschaftliche Macht ist gleichbedeutend mit politischer Macht, aber umgekehrt gilt das weit weniger. Parlamente und Regierungen sind erpressbar, wenn Konzerne über die

Infrastruktur und Arbeitsplätze entscheiden. Dann bestimmen sie die politische Agenda, egal welche Parteien regieren. Meine Damen und Herren, genau das sollte durch diese Verfassungsartikel verhindert werden.

Die Verfassung geht noch einen Schritt weiter und fordert in Art. 41 die Sozialisierung der Schlüsselindustrien – über diesen Artikel wurde in einer Volksabstimmung gesondert abgestimmt. Darunter befinden sich der Bergbau, die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft, aber auch das Verkehrswesen. Vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet werden sollten die Großbanken und Versicherungsunternehmen.

Das geht weit über die betriebliche Mitbestimmung hinaus. Es geht um eine weitreichende Demokratisierung, und zwar nicht nur einzelner Betriebe, sondern ganzer Wirtschaftsbranchen. Es geht um Schlüsselindustrien, die nach Ansicht der Mütter und Väter des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung so wichtig für die Gesellschaft sind, dass man sie nicht der Privatwirtschaft und den Marktmechanismen überlassen kann.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Der damalige hessische Wirtschaftsminister Harald Koch sagte:

Wovon man sich auch immer leiten lassen mag – von christlicher, von sozialer, von politischer Verantwortung –: Der Weg in eine glücklichere Zukunft führt über den Sozialismus zur Demokratie.

So der damalige Wirtschaftsminister, der versuchte, diese Sozialisierung durch Gesetze umzusetzen.

Meine Damen und Herren, das Wort Privatisierung taucht in dieser Verfassung gar nicht auf. Weder in Bezug auf Kliniken noch in Bezug auf Justizvollzugsanstalten und anderes, was in den letzten Jahren ausverkauft wurde.

Auch bei Art. 47, den Besteuerungsgrundsätzen, klaffen Verfassungstext und Realität leider weit auseinander. Darin heißt es, dass Vermögen und Einkommen „nach sozialen Gesichtspunkten“ besteuert werden müssten. In der Realität werden Vermögen gar nicht besteuert. Auch hier würde ich mir wünschen, dass diese Verfassung etwas ernster genommen würde.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Erwin Stein, CDU, erster Kultusminister in Hessen, sowie später 20 Jahre lang Bundesverfassungsrichter, schrieb 1976 zum 30. Jahrestag der Hessischen Verfassung:

Mit der Anerkennung der sozialen Achtung des Menschen vollzieht die Verfassung die geistige Wende zum Sozialstaat und erteilt damit den Staatsorganen zugleich den Verfassungsauftrag, eine unverkümmerte freie Existenz der Menschen … zu pflegen und zu fördern. Dazu gehören vor allem: das Recht auf Arbeit und Erholung, … das Recht auf Schutz der Gesundheit, das Recht auf Bildung und Erziehung, vor allem die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit, sowie das Recht auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Fortschritt.

Hinzufügen könnte man: das Streikrecht und das Verbot von Aussperrungen – auch das sind wichtige Errungenschaften für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Laut Art. 33 muss „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten, und der Lohn muss „zum Lebensbedarf für den Arbeitenden und seine Unterhaltsberechtigten [Angehörigen] ausreichen“. Die Entgeltungleichheit zwischen Männern und Frauen und die über 300.000 Menschen, die in Hessen zu Niedriglöhnen arbeiten, sind demnach ein permanenter Verfassungsbruch.

Meine Damen und Herren, die Hessische Verfassung beinhaltet auch ein Bekenntnis zum Achtstundentag und nicht zur 42-Stunden-Woche für Beamte.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte auf ein weiteres Grundrecht in dieser Verfassung hinweisen. In der Hessischen Verfassung und später im Grundgesetz wurde ein Grundrecht niedergeschrieben, das – auch aus der Lehre der Geschichte – eine wichtige Errungenschaft ist, nämlich das Asylrecht. Dieses Asylrecht wurde ausgehöhlt durch den Asylkompromiss 1992 auf Bundesebene und auch durch die jüngste Gesetzgebung. Für uns ist das Asylrecht ein unveräußerliches Grundrecht, das keine Obergrenzen kennt und verteidigt werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Hessische Verfassung enthält in Art. 7 ein Bekenntnis zum Asylrecht:

Fremde genießen den Schutz vor Auslieferung und Ausweisung, wenn sie unter Verletzung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden und nach Hessen geflohen sind.

Zu diesen in der Verfassung niedergelegten Grundrechten gehört, dass Leben, Gesundheit und Würde des Menschen unantastbar sind. Meine Damen und Herren, wer die Hessische Verfassung ernst nimmt, der darf Menschen nicht in Länder wie Afghanistan abschieben.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Menschen, die vor Not, Elend, Verfolgung und Krieg fliehen, dürfen nicht abgewiesen bzw. abgeschoben werden. Rassismus und Vorurteile bekämpft man am besten durch eine Willkommenskultur. Um es mit den Worten des früheren Ministerpräsidenten Georg August Zinn zu sagen: „Hesse ist, wer Hesse sein will.“

Meine Damen und Herren, der 70. Jahrestag des Inkrafttretens der Hessischen Verfassung ist Anlass, kritisch zu hinterfragen, in welcher Verfassung Hessen heute ist und wie weit die Errungenschaften und Ziele, die in der Verfassung verankert sind, verwirklicht sind. Leider klafft zwischen Verfassungsanspruch und Wirklichkeit eine gewaltige Lücke.

Wir leben in einem Land, in dem die einen mit Wohnraum spekulieren, während die anderen kein Dach über dem Kopf haben. Wir leben in einem Land, in dem das Vermögen zweier hessischer Familien die Staatsverschuldung des Bundeslandes beinahe übersteigt. Wir leben in einem Land, in dem Banker mit Milliarden jonglieren, während sich viele Kinder im Schatten der Bankentürme ihr Schulessen nicht leisten können.

Die soziale Kluft wächst. Wir haben mittlerweile in Deutschland mehr Multimillionäre als in Saudi-Arabien. Gleichzeitig liegt die Lebenserwartung von Obdachlosen in Deutschland bei 46,5 Jahren und damit 30 Jahre unter dem Durchschnitt.

Diese soziale Kluft zeigt sich gerade auch in der Landeshauptstadt Wiesbaden. 100 Einkommensmillionäre leben in dieser Stadt, während jedes vierte Kind als arm gilt. Diese offensichtlichen Widersprüche stellen die Legitimität der heutigen Wirtschaftsordnung zunehmend infrage.

Nach einer Umfrage glauben 90 % der Deutschen nicht, dass der Kapitalismus die drängenden sozialen und ökologischen Probleme lösen kann. Das glaubten die Mütter und Väter der Hessischen Verfassung auch nicht.

Meine Damen und Herren, wenn man die Grundsätze der Hessischen Verfassung heute verwirklichen würde, käme das nicht weniger als einer politischen und sozialen Revolution gleich. Prof. Wippermann sagte vor Kurzem in einer Anhörung zum Linksextremismus: Zeigen Sie einmal dem Landesamt für Verfassungsschutz, was alles in dieser Verfassung steht. Die werden anfangen zu rotieren.

Die Eigentumsstrukturen müssten grundlegend verändert werden, wenn man diese Verfassung umsetzen wollte. Wenn 10 % der Menschen über zwei Drittel des Vermögens verfügen, dann ist das eine Ungerechtigkeit.

Solange die Demokratie am Betriebstor endet und Konzerne unser Leben bestimmen, wird die Demokratie unvollständig sein. Wir können Parlamente wählen – aber was nutzt das, wenn Konzerne und Banken maßgeblich über unser Leben entscheiden?

Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, in dem die Bedürfnisse der Menschen an allererster Stelle stehen. Echte Demokratie und Freiheit bedeuten auch demokratische Entscheidungen über die Wirtschaft.

Die Ideale der bürgerlichen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Demokratie sind nicht einlösbar, solange das Privateigentum sakrosankt bleibt und die soziale Ungleichheit nicht beseitigt wird. Ohne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bleiben die bürgerlichen und politischen Rechte weitgehend wirkungslos.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht um Freiheit und um ein selbstbestimmtes Leben. Es geht um den Zugang zu Bildung und Kultur und um zwischenmenschliche Beziehungen, bei denen es keinen Herrn und keinen Knecht, keinen Herrscher und keinen Beherrschten gibt.

Alle fünf Jahre ein Parlament zu wählen, kann nicht das höchste Stadium der Demokratie sein. Auch hier der Verweis auf die Verfassung: In Art. 116 heißt es, dass die Gesetzgebung ausgeübt werde erstens „durch das Volk im Wege des Volksentscheids“. Erst an zweiter Stelle wird der Landtag genannt.

Recht und Verfassung sind immer Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Es ist auf die wechselvolle Geschichte fortschrittlicher Bewegungen in diesem Bundesland hingewiesen worden.

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Die Verfassung zu schützen, bedeutet, sich gegen jeden Versuch zu wenden, die politischen und sozialen Errungenschaften beispielsweise mithilfe der Enquetekommission preiszugeben und zu entkernen. Wir halten es für richtig, dass Volksbegehren erleichtert werden und dass das passive Wahlalter gesenkt wird. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Das sollte auch im Verfassungstext deutlich werden. Diese Veränderungen tragen wir mit.

Die Verfassung sieht aber eben keine marktkonforme Demokratie vor, wie es die Kanzlerin zum Ausdruck gebracht hat. Ganz im Gegenteil, wir täten besser daran, die Realität im Sinne der Verfassung zu ändern, anstatt die Verfassung den gesellschaftlichen Missständen anzupassen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wir wollen die sozialen und politischen Rechte mit Leben füllen und Alternativen zum Kapitalismus entwickeln. Dabei ist diese Verfassung kein Hindernis, sondern eine Verbündete. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank. – Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion der FDP, Herr Abg. Florian Rentsch.