Protokoll der Sitzung vom 30.11.2016

Vielen Dank. – Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion der FDP, Herr Abg. Florian Rentsch.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal dem Präsidenten in Person danken, weil ich es für richtig halte, dass wir heute hier im Parlament diese 70 Jahre begehen und feiern – in diesem munteren Parlament, wie man immer merkt. Ich bin sehr froh, dass so viele Persönlichkeiten, aber vor allem auch so viele ehemalige Kolleginnen und Kollegen heute unter uns sind, die alle über Jahre hinweg in verschiedenen gesellschaftspolitischen Diskursen dafür gestritten haben, den richtigen Weg zu finden.

Frau Kollegin Wissler, ich glaube, das ist schon eine Leistung in einer Zeit, in der über Politikverdrossenheit diskutiert wird. Dieses Parlament sagt selbstbewusst: Wir leben diese parlamentarische Demokratie. Wir sind auch stolz darauf, dass wir dieser großen Verantwortung nachkommen, und werden dieser auch künftig nachkommen.

Deshalb bin ich der Meinung, dass das Parlament an einem solchen Tag nicht beschämt sein sollte, sondern es sollte selbstbewusst sagen: Wir streiten weiter um den richtigen Weg.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Land hat in seiner Geschichte viele große Persönlichkeiten hervorgebracht, Menschen, die das Hessen geformt haben, über das wir heute reden. Ich sage gleich noch etwas dazu, ob wir wirklich so homogen sind, wie wir uns als Hessen gerne sehen. Was diese Persönlichkeiten auszeichnet, auch viele Ministerpräsidenten, ist mit Sicherheit der Mut, Entscheidungen zu treffen. Unabhängig davon, ob man sich im politischen Geschäft, im politischen Diskurs, in einem Unternehmen, in einem Verein oder

sonst wo befindet, ist es häufig die größte Herausforderung, den Mut zu haben, etwas zu entscheiden, weil natürlich jede Entscheidung Gewinner und Verlierer hervorbringt, weil natürlich einige die Entscheidung für richtig und einige die Entscheidung für falsch halten.

Schauen wir uns einmal an, was die Ministerpräsidenten für dieses Land getan haben. Dabei ist Georg August Zinn sicherlich eine herausragende Persönlichkeit, wie es heute schon von vielen Kollegen festgestellt worden ist. Schauen wir uns einmal an, wie er bei der Verfassungsgebung sowohl auf hessischer Ebene als auch auf Bundesebene seine Aufgaben erfüllt hat. Schauen wir uns an, wie er dem Land bei der Frage eine Richtung gegeben hat, wie man mit dem Unrechtsregime des Dritten Reichs umgeht. Er hatte damals den Mut, das aufzuarbeiten, was damals viel schwieriger war, als wir dies heute in diesem Parlament diskutieren.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir uns einmal die Integration von Vertriebenen an. Diese Aufgabe war damals sicherlich eine große Herausforderung, wie es auch Herr Kollege Boddenberg zutreffend gesagt hat. Ich will aber auch das unterstreichen, was Mathias Wagner gesagt hat. Auch Fritz Bauer wurde der Rücken gestärkt bei seinem Kampf gegen das Unrecht, das seine Fortsetzung in unserem Justizsystem fand. Meine Damen und Herren, das ist beeindruckend.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zinn hat außerdem die Weichen gestellt für die Grundlagen unserer Wirtschaftsstruktur von Industrie über Flughafen bis zum Automobilstandort. Er hat den Hessentag erfunden, über den wir uns heute jedes Jahr freuen.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Der Kollege Oberbürgermeister aus Rüsselsheim freut sich. Keine Angst, wir kommen auch. Da kommen Sie nicht drum herum.

Das alles sind große Errungenschaften, die heute noch aktuell sind. Das hat Albert Osswald fortgesetzt mit der ersten sozial-liberalen Koalition. Herr Kollege Wagner, da gab es die GRÜNEN noch gar nicht. Da war fast alles noch in Ordnung – aber das darf ich gar nicht sagen.

(Heiterkeit)

Die Gebietsreform war ein mutiges Projekt. Das sage ich einmal als Liberaler. Das wissen viele im Raum. Die Gebietsreform begegnet mir heute noch in ihren Auswirkungen und Verwirrungen, die dadurch geschaffen worden sind. Theoretisch gesehen, war das ein richtiges Projekt. Da kann man aber auch sehen, wie schwierig es teilweise ist, Richtiges umzusetzen und den Mut zu haben, es zu tun.

Meine Damen und Herren, ich bin Nordhesse und bin mit Holger Börner groß geworden. Aus meiner Kindheit und Jugend kenne ich eigentlich keinen anderen Ministerpräsidenten. Kollege Schäfer-Gümbel, nachdem ich etwas älter wurde, musste ich feststellen, dass es noch andere Parteien als die SPD gibt. Wenn man in Nordhessen groß wird, ist das gar nicht so einfach. Das war aber so.

(Heiterkeit – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Bedauerliche Entwicklung!)

Dann habe ich aber noch den richtigen Weg gefunden.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte jetzt nicht zu sehr auf Herrn Börner eingehen, aber von ihm stammen nun einmal große Zitate. Ich glaube, das ist bekannt. Nicht immer hat er Wort gehalten, Herr Kollege Wagner.

Holger Börner hat aber auch schwierige Entscheidungen treffen müssen. Auch das zeichnet ihn aus. Die wirtschaftspolitisch richtige Entscheidung, den Frankfurter Flughafen auszubauen in einer gesellschaftspolitisch sehr schwierigen Situation mit zwei Toten und sehr vielen Verwerfungen in den Parteien und darum herum in den gesellschaftspolitischen Institutionen, das ist etwas, was für die Politik damals nicht einfach war, auch nicht für die liberalen Minister, die in dieser Frage damals Verantwortung getragen haben.

Ich möchte auf etwas anderes einen Schwerpunkt legen, und zwar auf die Homogenität, über die wir gerne reden. Wenn wir über Hessen reden, sind wir Hessen. Meine Damen und Herren, wir sind sicherlich nicht alle gleich. Es gibt den schönen Satz: Wenn alle Menschen gleich wären, würde einer reichen. – Nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass sich Nordhessen und das Rhein-Main-Gebiet doch fundamental unterscheiden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Ich setze heute auf die Solidarität der Nordhessen.

(Heiterkeit)

Ich bin Ralf Euler von der „FAZ“ sehr dankbar, dass er in seinem Artikel in der Reihe „70 Jahre Hessen“ über die Nordhessen wahre Worte gefunden hat: „kampflustig, gewitzt, trinkfest“.

(Große Heiterkeit)

Alle diese Attribute sind mit Sicherheit nicht falsch. Er beschreibt aber auch sehr schön, dass die Historie des Landes, das, was wir heute sind, historisch gesehen nicht im Rhein-Main-Gebiet „erfunden“ wurde, sondern dass die Nordhessen an der Stelle viel einbringen.

Ich habe in Nordhessen, in dem Teil des Landes, in dem ich aufgewachsen bin, viel gelernt, vor allen Dingen Gelassenheit. Das hilft mir seit 20 Jahren – seit ich im RheinMain-Gebiet bin und hier Politik machen muss.

(Zurufe von der CDU: Muss?)

Ich hoffe, Sie wären doch traurig, wenn ich nicht da wäre.

(Heiterkeit – Beifall bei der FDP)

Fakt ist, dass die Unterschiede, die es in diesem Land gibt, das Land eigentlich charmant machen. Die Nordhessen, die Mittelhessen, die Rhein-Mainer, die Menschen, die an der Bergstraße leben, die unterschiedlichen Landstriche, die Dialekte, die sehr verschiedenen Charakterzüge – diese Heterogenität macht unser Land aus. Hessen ist flächenmäßig nicht groß, aber es ist sehr spannend. Es ist immer wieder interessant, Menschen aus den unterschiedlichen Teilen des Landes kennenzulernen. Deshalb sage ich sehr ernst: Der Hessentag, der jedes Jahr an einem anderen Ort stattfindet, sorgt auch dafür, vielfältige Einsichten in unser Bundesland zu gewinnen. Deshalb ist der Hessentag mit Sicherheit eine gute Idee und eine gute Institution.

Ich will Ihnen aber auch sagen, welches Ereignis mich in den Jahren, die ich in diesem Lande lebe, am meisten geprägt hat. Frau Kollegin Wissler, ich habe nachgedacht und festgestellt, dass das die deutsche Einheit ist. Ich kann mich gut an das erinnern, was am 9. November 1989 in Nordhessen geschehen ist; ich bin in einem Dorf in der Nähe von Kassel aufgewachsen. Ich erinnere mich, dass am Abend des Tages, als an die Mauer geöffnet worden ist – vorsätzlich oder nicht vorsätzlich, wie auch immer man die geschichtlichen Geschehnisse dieses Tages in Erinnerung hat –, Hunderte, ja Tausende von Trabbis nach Kaufungen kamen. Ich hatte damals übrigens das Gefühl, Frau Kollegin Wissler, dass sich die Menschen, die zu uns kamen, mehr auf den Markt und weniger auf eine politische Lenkung gefreut haben, wie sie sie jahrzehntelang hinter sich hatten. Auch das gehört zur Wahrheit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb glaube ich, dass die deutsche Einheit und all das, was danach passiert ist – die historischen Texte des Hessischen Landtags sind sehr beeindruckend, und auch die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls waren sehr beeindruckend –, die Entscheidungen, die getroffen worden sind, um Möglichkeiten zu finden, die deutsche Einheit nach der Grenzöffnung wirklich zu realisieren, historische Ereignisse sind. Dies bewegt mich auch heute noch nachhaltig, weil ich es für eine wirklich historische Leistung halte, dass wir es geschafft haben, die zwei Teile Deutschlands wieder zusammenwachsen zu lassen.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man sich ansieht, was aus unseren Nachbarn geworden ist, dann kann man stolz auf das sein, was wir den Kolleginnen und Kollegen, die damals Verantwortung getragen haben, an Hilfe geleistet haben. Wir haben alles dafür getan, z. B. mit Thüringen, unserem Nachbar- und Partnerland, mit dem gerade die Nordhessen aufgrund der Geschichte so viel gemeinsam haben, eine intensive Zusammenarbeit zu gestalten. Thüringen ist heute eine Demokratie, ein erfolgreiches Land im Osten, sicherlich mit speziellen Problemen – das ist unbestritten –, aber ein Land, das seine Identität gefunden hat, kulturell sowieso, mittlerweile aber auch wirtschaftlich. Das ist ein großer Erfolg.

Wenn man auf diese Zeit zurückblickt, dann muss man an einem Punkt, der von einem Teil der Kollegen angesprochen worden ist, noch einmal etwas genauer hinschauen. Das, was wir heute wirtschaftlich darstellen, ist keine Selbstverständlichkeit. Wir streiten um den richtigen Weg und vertreten dabei teilweise sehr unterschiedliche Ansichten. Wolfgang Clement hat einmal bei einer Veranstaltung zu mir gesagt: Aus der Sicht von Nordrhein-Westfalen – dem stolzen Land „links“ von uns – war die Erfolgsgeschichte Hessens nicht vorauszusehen. – Hessen war zum Zeitpunkt der Gründung der Bundesrepublik kein Land, das mit vielen Strukturen und Fähigkeiten gesegnet war, sodass damals nicht klar war, dass hier eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Bundesländer entstehen würde. Hessens Industrie, seine Infrastruktur, seine renommierten Hochschulen und all das, was das Land liebenswert macht, von der Umwelt über die Natur bis zur Kultur, das sind die Besonderheiten dieses kleinen Landes, das in unterschiedlichsten Bereichen eine hohe Erfolgsquote hat. Das ist schon eine tolle Geschichte.

Deshalb ist es an einem solchen Tag auch richtig, zu sagen, dass das, was wir Politiker machen, davon abhängt, was die Menschen in diesem Land tun. Wir setzen den Rahmen, den die Menschen in unserem Land ausfüllen. Die Mitarbeiter in den Unternehmen und in der Verwaltung sind diejenigen, die das Land mit ihren Ideen nach vorne bringen. Darauf können wir zwar nicht stolz sein, weil das nicht unsere Leistung ist, aber wir können dankbar sein, dass es so ist, dass es diese Menschen gibt, die uns mit ihrer Arbeit überhaupt erst ermöglichen, dass wir hier unseren Job tun können.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sollte es auch in Zukunft darum gehen, dass wir aus den unterschiedlichen Sichtweisen, die wir haben, um die Bereiche streiten und kämpfen, wo wir wirtschaftlich stark sind, ob es der Finanzplatz Frankfurt, die Deutsche Börse, der Frankfurter Flughafen ist, ob es Industriestrukturen in Nordhessen sind. Wir müssen den Mut haben, um den richtigen Weg zu streiten und die richtigen Entscheidungen zu treffen, damit die Kolleginnen und Kollegen in zehn oder 20 Jahren, wenn sie Jubiläen feiern, sagen können: Diejenigen, die im Jahr 2016 und danach Verantwortung getragen haben, haben die richtigen Entscheidungen für das Land getroffen. – Das wird die zum Schluss entscheidende Frage sein.

Deshalb wünsche ich uns, dass uns der Mut zum Streit nicht fehlt. Hier, in dieses Parlament, gehört der Streit hin – nicht um des Streites willen, sondern um den richtigen Weg. Der Hessische Landtag ist ein munteres Parlament; das beweist er immer wieder. Streit ist dann kein Makel, wenn man nicht persönlich, sondern in der Sache streitet. Dann ist der Landtag sicherlich ein guter Ort, um das Land nach vorn zu bringen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank. – Das Wort hat Herr Ministerpräsident Volker Bouffier.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Rentsch, zunächst eine kleine Bemerkung. Sie haben Nordhessen ganz besonders gelobt – zu Recht. Aber an einem solchen Tag, an dem wir des Zeitpunkts vor 70 Jahren gedenken, an dem die Verfassung in Kraft trat, kann ich nicht umhin, die Osthessen, die Westhessen, die Südhessen, die Frankfurter und die Offenbacher, die Mittelhessen und vor allem die Oberhessen zu nennen. Sie alle sind zu loben. Sie alle gehören zu Hessen und machen das aus, was das Land stark macht.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und der FDP)

Die Besonderheit Gießens zu erwähnen ist mir ein Anliegen; Albert Osswald hätte das ebenfalls gerne getan.

Meine Damen und Herren, es ist die Stunde des Parlaments. Die Fraktionen haben die Chance genutzt, das Ge