Meine Damen und Herren, es ist die Stunde des Parlaments. Die Fraktionen haben die Chance genutzt, das Ge
meinsame zu würdigen und gleichzeitig Akzente zu setzen und deutlich zu machen, wo – in groben Linien – die Unterschiede verlaufen. Das ist gut so. Die Parteien sind nicht das Volk, aber sie sind berufen, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. In der verfassungsrechtlichen Realität – auch in der Hessens – sitzt in diesem Landtag seit vielen, vielen Jahren kein einziger Abgeordneter, keine einzige Abgeordnete mehr, die nicht Repräsentantin, der nicht Repräsentant einer Partei ist. Weil das so ist, ist es nicht verwunderlich, dass auch heute die Grundüberzeugungen der Parteien deutlich geworden sind. Das ist gut so.
Meine Vorrednerin und meine Vorredner haben in ihren Beiträgen sehr deutlich herausgearbeitet, was uns verbindet, was dieses Haus, das hessische Parlament, in den letzten 70 Jahren in gemeinsamer Überzeugung gestaltet hat, aber auch, wo die Unterschiede in der Beurteilung liegen. Sie haben auch darauf hingewiesen, wie es im Land weitergehen kann. Deshalb möchte ich mich heute für die Landesregierung herzlich beim Parlament bedanken.
Jede Regierung ist darauf angewiesen, dass sie im Parlament eine Mehrheit für ihre Politik findet. Deshalb bedanke ich mich heute für alle Landesregierungen, auch für meine sieben Vorgänger als Ministerpräsidenten: Ohne diese Parlamentsunterstützung hätten wir diese Arbeit nicht leisten können.
Dieser Dank gilt nicht nur denjenigen, die die jeweilige Regierung parlamentarisch unterstützen. Dieser Dank gilt auch der Opposition. Eine Regierung ist nicht nur der sie tragenden Mehrheit verantwortlich, sie ist dem ganzen Parlament verantwortlich. Die Arbeit der Opposition ist wichtig, sie ist notwendig, und sie ist konstitutiv für eine funktionierende Demokratie. Deshalb auch Danke an die, die früher einmal in einer Regierung saßen, die heute in der Opposition sind und die natürlich daran arbeiten, dass es bald wieder anders wird. Als gelernter Oppositionspolitiker weiß ich, die Opposition ist manchmal mühsam. Trotzdem ist die Feststellung richtig: Regierungstragende Mehrheiten gehören zu einem erfolgreichen Parlament. Kritische Opposition gehört zwingend zu einer erfolgreichen Demokratie. – Ich bedanke mich bei den einen wie bei den anderen.
Demokratie ist Auseinandersetzung, ist Kampf, ist Leidenschaft, ist das Ringen um das beste Argument und am Ende auch um Mehrheiten. Demokratie ist nicht – und schon gar nicht im postfaktischen Zeitalter – das wilde Behaupten, das Verleumden, das Manipulieren und das bewusste Ignorieren und Missachten von Fakten und Gegebenheiten.
Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen neigen dazu, Fakten schlicht zu missachten oder nur noch das in ihr Weltbild aufzunehmen, was gerade da hineinpasst. Nicht zuletzt das, was wir in den sozialen Netzwerken erleben, muss uns Sorgen machen. Was dort stattfindet, ist technologisch eine Revolution, aber es legt die Axt an unsere Gemeinschaft. Wenn wir heute wissen, dass mehr als ein Drittel all dieser Meldungen, dieser Likes, und was es sonst alles gibt, nicht mehr von Menschen kommt, sondern von Maschinen, von Robotern, die entsprechend programmiert sind, die uns künstlich den Eindruck millionenfachen Diskurses in der Bevölkerung vermitteln, und dahinter ein Einziger steht, der die Dinge programmiert hat, dann müssen wir darauf achten, dass wir sensibel unterscheiden zwischen dem, was die Menschen bewegt, und dem, was uns gelegentlich vermittelt wird, was sie angeblich bewegen
würde. Wir müssen darauf achten, was in diesem Bereich passiert: Entgrenzung, Enthemmung, Verachtung von Minderheiten und nicht zuletzt – das erwähne ich heute ganz besonders – die konsequente Verächtlichmachung des Staates und seiner Institutionen, vorneweg des Parlaments und der Abgeordneten.
Meine Damen und Herren, man darf sich nicht wundern, dass die Kraft des Arguments, die Kraft der Entscheidungen eines Parlaments zurückgeht, teilweise nicht wahrgenommen wird oder jedenfalls Demokratie nicht in dem Maß gemeinschaftsstiftend wirkt, wie wir uns das gemeinschaftlich wünschen, wenn man eine solche Entwicklung mehr oder weniger gleichgültig begleitet.
Deshalb möchte ich diesen Tag heute nutzen, uns gemeinsam dazu aufzurufen, dass wir mit aller Kraft solchen Entwicklungen entgegentreten, egal wo sie passieren. Es ist zu Recht nahezu von allen hier gesagt worden: Dieses Land hat nach der Befreiung durch die Amerikaner die Chance erhalten, sich in Selbstbestimmung, Demokratie und Achtung der Menschenwürde neu zu begründen. Das ist in den letzten 70 Jahren gut gelungen.
Aber wenn wir nach vorne schauen, ist mir bei all dem Streit des Tages über viele Themen, über die wir uns hier unterhalten, der Kern und das Wichtigste, dass wir hier den Anfängen wehren. Wer diese Entwicklung nicht zurückdrängt, der wird erleben, dass das, was in einer Demokratie konstitutiv ist, der Respekt vor dem Parlament und den Abgeordneten, nicht verstaubte Verehrung von Institutionen ist, sondern die Grundlage gelingender Demokratie.
Wenn Entscheidungen von Mehrheiten gegen engagierte Minderheiten nicht mehr den Zuspruch und die Anerkennung in einer Bevölkerung finden, weil man die Institution generell ablehnt, dann wird aus diesem Hessen etwas anderes. Dann ist es nicht mehr das Land der Freiheit, das Land der Zukunft, des persönlichen Glücks und der Achtung der Menschenwürde. Genau darum muss es nicht nur heute, sondern auch in den nächsten 70 Jahren gehen.
Als vor 70 Jahren die ersten Abgeordneten zusammentraten, war es eine völlig andere Welt. Frau Kollegin Wissler, Sie haben, wie ich finde, sehr berührend die Schilderung von Frau Selbert vorgetragen: sechs Stunden zu Fuß. Ich habe die eine oder andere Erinnerung von den Mitgliedern der Verfassungsberatenden Landesversammlung und auch des ersten Landtags gelesen.
Ich habe das Glück gehabt, ein Mitglied dieser Verfassungsberatenden Landesversammlung und auch des ersten Hessischen Landtags persönlich kennenzulernen. Es war ein Mitglied meiner Partei, der aus Watzenborn-Steinberg kam, aus Pohlheim in der Nähe von Gießen, der in der Grube arbeitete, der ein klassischer Arbeiter war und der seine Arbeit trotz des Parlamentarierdaseins weiter fortsetzte, der zu Fuß zum Zug ging, über 10 km, und, nachdem er hier getagt hatte, das Ganze wieder zurück, der kei
Diese Männer und Frauen wussten aber eines: dass sie diese Chance des Neuanfangs nicht vorbeigehen lassen durften. Sie waren beseelt. Diese Kraft müsste uns eigentlich auch befähigen, die heutigen Herausforderungen mit Erfolg zu bewältigen.
Deshalb wünsche ich mir und, ich denke, uns allen, dass bei all den veränderten Umständen – die hatten natürlich auch kein Telefon; von Internet, Handy und Twitter haben sie nicht einmal etwas geahnt – der Kern bleibt: die gesamte Bevölkerung zu vertreten, selbstbewusst, mutig, kämpferisch, die Freiheit des Abgeordneten bei der Gestaltung der Gesellschaft und der Zukunft erfolgreich zu verbinden mit einem Wohlergehen für unser gesamtes Land. Das, denke ich, muss die Aufgabe von Abgeordneten sein.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns das anschauen – 70 Jahre Hessischer Landtag, 70 Jahre Hessen –, dann kann man uneingeschränkt sagen: 70 Jahre Erfolgsgeschichte.
Dies verdanken wir auch und gerade denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die in den letzten 70 Jahren durch ihre politischen Entscheidungen die Grundlagen für diesen Erfolg gelegt haben. So soll es weitergehen: mit engagierten, mit streitbaren und mutigen Abgeordneten, die für ihre Überzeugungen stehen und gleichzeitig beachten, dass sie Entscheidungen für das ganze Volk treffen. Das ist gut gelungen, und so soll es bleiben.
Herr Ministerpräsident, auch Ihnen einen herzlichen Dank, wie ich mich bei den Vorsitzenden aller Landtagsfraktionen für diese zwei Stunden herzlich bedanke. Ich hoffe, dass wir alle jetzt innerlich gut beseelt sind, diesen Geburtstag heute Abend und morgen zu feiern, dass wir hinausgehen und fröhlich feiern. – Frau Wissler, einverstanden damit?
Ich darf Sie zu einem Empfang draußen einladen. Ansonsten schließe ich die Sitzung und bedanke mich, dass Sie daran teilgenommen haben. Die Sitzung ist geschlossen.