Der demokratische Freiheitsbegriff bedeutet auch, dass wir zu unserer Sache stehen und dass wir trotz der Verschiedenartigkeit und der unterschiedlichen Auffassung zur sachlichen Zusammenarbeit, zur Toleranz und zur Achtung bereit sind.... Oberflächliche und sehr oft substanzlose Kritik führt zum Verfall. Die Zeit liegt noch nicht lange zurück, in der sich heterogene Kräfte zusammenfanden, um zu zerstören. Was daraus geworden ist, haben wir alle mit Grausen erlebt. Sorgen wir dafür, dass unsere Arbeit aufbauend und konstruktiv ist, damit unser Land Hessen weiter so gestaltet werden kann, dass der freie Bürger menschenwürdig darin leben kann.
1970, zu Beginn der 7. Wahlperiode, führte er – quasi ergänzend zu dem, was er vier Jahre vorher gesagt hatte – aus:
Diese Grundwerte, die Würde des Menschen zu achten, die Freiheit zu erhalten und unsere Aufgaben in demokratischer Weise zu erfüllen, sind uns weiterhin Auftrag.
1974 – es begann die 8. Wahlperiode – wurde erstmals ein Christdemokrat Präsident dieses Hauses: Dr. Hans Wagner. Er stellte sich in die Tradition seiner Vorgänger. Ich zitiere ihn:
Vor fast 28 Jahren, am 19. Dezember 1946, hat sich der erste frei gewählte Landtag des neuen Landes Hessens konstituiert. Erstmals konstituiert sich heute ein Hessischer Landtag, in dem sich kein Abgeord
neter mehr befindet, der dem damaligen, ersten Parlament schon angehört hat. … Meine Damen und Herren, ich stehe in der Tradition dieses Hauses, und ich bekenne mich auch zu ihr.
Die 10. Wahlperiode, 1982, eröffnete Landtagspräsident Jochen Lengemann mit einem besonderen Pflichtbekenntnis:
Ich bin froh, dass ich Dank zu sagen habe nicht etwa für Privilegien, die übertragen worden wären, wie sie von Alters her bis auf den heutigen Tag zum Beispiel im englischen Unterhaus bestehen, wo der Speaker Anspruch auf einen Rehbock und auf eine Rehgeiß aus den königlichen Wäldern hat, sondern dass ich Dank sagen kann für die Inpflichtnahme als erster Mann in diesem Hohen Hause.
Erinnern wir uns deshalb, dass wir als Mitglieder des Verfassungsorgans Landtag Repräsentanten des ganzen Volkes sind und in unserer parteienstaatlichen, parlamentarischen, repräsentativen Demokratie als frei gewählte, an Weisungen und Aufträge nicht gebundene und nur dem eigenen Gewissen verpflichtete Abgeordnete von der Verfassung her den Auftrag haben, das gemeine Wohl zu fördern und zu verwirklichen.
… ich komme … zu unserer sich aus dem Föderalismus ergebenden Verantwortung bei der Entwicklung der neuen Bundesländer. … Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass dieses Parlament selbstbewusst dafür eintreten wird, den Ländern den ihnen im föderativen System zustehenden Platz auch vor dem Hintergrund der Einigung Europas zu erhalten.
Schließlich konfrontierte uns Klaus Peter Möller 1995, zu Beginn seiner Amtszeit in der 14. Wahlperiode, mit besonders geistreichen Gedanken zum Abgeordnetenleben – auch das muss gesagt werden –:
Wenn jemand in diesem Land den Führerschein verliert, interessiert das in der Regel niemanden. Der Abgeordnete in gleicher Lage ist „Bild“-Zeitungsund „Tagesschau“-reif. Deshalb zwei Appelle: Vermeiden Sie den Verlust ihres Führerscheins! Und seien Sie nett zu Journalisten!
Meine Damen und Herren, das ist ein wahres Wort. Offensichtlich fühlte er sich nach seiner diesbezüglichen Anmerkung befleißigt, festzustellen:
Wie recht er doch hat. Seine ganze Erfahrung als Abgeordneter, die wohl auch unsere Erfahrung ist, fasste er im April 1999 nach seiner Wiederwahl zum Landtagspräsidenten für die 15. Wahlperiode in einem Satz zusammen:
Meine Damen und Herren, wenn wir auf die Geburtsstunde Hessens zurückblicken, machen wir das zunächst mit großer Dankbarkeit für das Geleistete gegenüber denen, in deren Tradition wir heute stehen. Dabei wollen wir die Solidarität und das Vertrauen der amerikanischen Militärregierung einbeziehen, die uns bereits kurze Zeit nach dem Zusammenbruch Deutschlands – als Folge der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft – unser Schicksal wieder selbst in die Hand gab.
Lassen Sie uns deshalb heute an all die Abgeordneten denken, die nicht mehr unter uns sind. Das sind die Frauen und Männer der ersten Stunde der neuen Demokratie, der verfassunggebenden Versammlung und der bisherigen Landtage. Wir danken ihnen in dieser Stunde und behalten alles in Erinnerung, was sie für dieses Land getan haben. Sie haben sich um dieses Land verdient gemacht. Wir denken dabei an alle, die nicht mehr unter uns sind.
Meine Damen und Herren, ich freue mich über diese Sondersitzung anlässlich unseres Geburtstags. Es ist Zeit, um sich Zeit zu nehmen: Zeit für die Erinnerung, die Tradition, das Nachdenken, das Feiern und für viele Geburtstagswünsche.
Mit den Wünschen, die ich an uns und dieses Land habe, möchte ich schließen. Es sind sehr persönliche Wünsche an mein Bundesland, die ich bereits im Rahmen der akademischen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag, also vor zehn Jahren, im Staatstheater genannt habe und die ich heute wiederholen will, weil es auch meine Wünsche sind. Es ist der Rat des Apostels Paulus an die Römer:
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich erteile nunmehr Herrn Boddenberg, dem Vorsitzenden der Fraktion der CDU, das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste! Der Präsident hat eben den Alterspräsidenten der 1. Sitzung am 19. Dezember 1946 zitiert. Ich will das gern aufgreifen und wenige Zeilen zitieren, die in besonderer Weise gewürdigt werden müssen. Diese hat der Alterspräsident seinerzeit gefunden; darauf hat er hingewiesen, als dieses Land in Trümmern lag und klar war, dass es vor einer gewaltigen Aufgabe stehen würde. Er hat nicht vergessen, am Ende eines sehr deutlich zu machen, indem er gesagt hat:
Wir wissen, dass unsere eigenen Kräfte noch schwach sind. Der Gesundungsprozess unseres schwer kranken Volkes wird nur langsam fortschreiten. Deshalb bedürfen wir noch der Hilfe und der Unterstützung.
Gerade wir Deutsche haben diese Hilfe in den darauffolgenden Jahren in vielerlei Hinsicht erhalten und sind unseren amerikanischen Freunden, den westlichen Alliierten und unseren Nachbarn bis heute zu großem Dank verpflichtet.
Wie wahrscheinlich alle Redner habe auch ich mir die letzten 70 Jahre vergegenwärtigt sowie mir die Plenarprotokolle angeschaut und dabei festgestellt, dass drei Dinge besonders auffällig sind:
Erstens. In diesem Landtag war es immer so, dass sich die großen Ereignisse der Bundesrepublik Deutschland auch in Hessen und damit in diesem Hause widergespiegelt haben.
Zweitens. Die Erinnerung an manche Debatten vergangener Jahrzehnte ist sicherlich hilfreich, die eine oder andere Herausforderung, vor der wir heute stehen, besser einordnen und bewältigen zu können.
Drittens. Auch in der Vergangenheit stand immer wieder ein großes Ziel im Mittelpunkt der Anstrengung der damals verantwortlichen Politikerinnen und Politiker: der innere Friede und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Einige wesentliche Herausforderungen aus der Geschichte unseres Landes möchte ich kurz beleuchten, und natürlich möchte ich zuerst auf die Nachkriegsjahre zu sprechen kommen. In diesen frühen Anfangsjahren des Landes stand natürlich die Bewältigung der unmittelbaren Folgen des Zweiten Weltkriegs im Vordergrund. Wenn man bedenkt, mit welchen vermeintlich bedeutungsschweren Punkten und Problemen der Gegenwart wir uns heute teilweise befassen, waren die damaligen Herausforderungen ungleich größer: die Errichtung eines demokratischen Staatswesens, die Gründung demokratischer Parteien, die Reorganisation der Justiz und der Polizei, der Wiederaufbau der Verwaltung, die Entnazifizierung, die Heimkehr der Kriegsgefangenen, die Beseitigung der Trümmer und der Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer und nicht zuletzt die Sicherstellung von Wohnraum, Lebensmitteln, Kleidung, Heizmaterial und sonstigen elementaren Grundbedürfnissen der Menschen.
Dagegen wirken unsere heutigen Themen hin und wieder klein, und ich empfinde Demut gegenüber dem – ich denke, da spreche ich im Namen all derjenigen, die heute hier sein können –, was unsere Nachkriegsgenerationen geleistet haben.
Die Nachkriegsjahre waren auch geprägt von dem Schicksal der Heimatvertriebenen. Nahezu ein Drittel der heutigen Bevölkerung in Hessen hat einen solchen Vertreibungshintergrund. Der Ausweisungsplan des Alliierten Kontrollrats vom 20. November 1945 sah vor, dass Hessen 27 % der Heimatvertriebenen aus Böhmen, Mähren, der Slowakei, dem Sudetenland und Ungarn aufzunehmen hatte. Man muss sich erinnern, dass dieser Zustrom der Flüchtlinge zusammentraf mit einer aufgrund der Zerstörungen des Bombenkriegs ohnehin grassierenden Wohnungs- und teilweise Hungersnot. Im September 1950 belief sich die hessische Bevölkerung laut Volkszählung auf 4,32 Millionen Menschen; ein Großteil von ihnen, etwa 720.000 Menschen, ist auf die Zuwanderung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zurückzuführen. Ministerpräsident Christian Stock, den ich zitieren möchte, sprach damals von einer „Völkerwanderung, die in der Geschichte Europas ihresgleichen sucht“.
Natürlich ist in den letzten Monaten der Jahre 2015 und 2016 häufig ein Zusammenhang hergestellt worden zwischen dem, was wir jüngst erlebten und was seinerzeit in unserem Land geschehen ist. Ich glaube aber, es besteht ein großer Unterschied. Denn die Menschen, die damals zu
uns kamen, kamen aus dem eigenen Land; man teilte dieselbe Sprache, ähnliche Erinnerungen, Sitten, Gebräuche und Mentalitäten. Nur wenig davon gilt für die Neuankömmlinge heute. Allerdings kommen die heutigen Flüchtlinge in ein Land, in dem es ein funktionierendes Staatswesen und eine herausragende Wirtschaftskraft gibt und wir diese Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, vor allem auch dank des großartigen Engagements unzähliger Ehrenamtlicher meistern können. Gerade in diesen Tagen haben wir Anlass, den hauptamtlichen, aber insbesondere auch den ehrenamtlichen Helfern sehr herzlich zu danken.
Ausdruck für die großartige Herausforderung seinerzeit waren der „Hessenplan“ von 1951 und 1965, in dem der damalige Ministerpräsident Georg August Zinn darauf hinwies, dass wir darauf achten müssen – es ist also ein Phänomen, über das wir heute auch sehr oft reden –, dass es kein Ungleichgewicht geben dürfe bezüglich der Unterstützung für diejenigen, die neu hinzugekommen sind, im Vergleich zu denjenigen, die seinerzeit in diesem Land lebten. Das ist eine Parallele zu unserem heutigen Aktionsplan, den wir vor einem Jahr gemeinsam beschlossen haben und in dem wir bei jeder Gelegenheit darauf hinwirken und -weisen, dass dieser Aktionsplan sowohl der Integration der Flüchtlinge als auch – ganz besonders – dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft dienen soll. Bei dieser Gelegenheit will ich auch sagen: Das ist ein Grundkonsens in diesem Hause, über den ich mich sehr freue. Auf diesen können wir stolz sein, und ich will ausdrücklich würdigen, dass die Oppositionsfraktionen dieses große Werk in wesentlichen Fragen gemeinsam mit uns geschaffen haben. Herzlichen Dank dafür.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aber was wäre ein Blick zurück ohne den Verweis auf die Siebzigerjahre und den Kampf um die Hochschulen sowie auf den klassischen hessischen Schulkampf? Einige der Gäste, die heute hier sind, sind seinerzeit sehr engagiert gewesen und verfolgen bis zum heutigen Tag, dass dieser hessische Schulkampf die Landespolitik in der Bildung an vielen Stellen maßgeblich bestimmt.
Es ging seinerzeit bei den Hochschulen um deren Selbstbestimmung, um die Mitbestimmung der Studierenden. Aber es ging auch um eine grundsätzliche Idee der Sozialdemokratie, seinerzeit in dem sogenannten „Wetzlarer Flächenversuch“ umgesetzt, bei dem das gegliederte Schulwesen in ein Schulwesen integrierter Gesamtschulen überführt werden sollte. Ich will darauf hinweisen, dass der wissenschaftliche Leiter seinerzeit erklärt hat, welche großen Erwartungen er hatte. Vor wenigen Jahren, 2008, hat er aber erklärt, dass diese Erwartungen enttäuscht worden seien und dass es eben kein Mehr an Bildungsgerechtigkeit bedeute, ein solches Schulsystem zu implementieren.
Ich will auch sagen, und dafür bin ich sehr dankbar: Mein Eindruck ist, dass wir heute von diesen grundideologischen Auseinandersetzungen ein wenig abrücken und mittlerweile ein komplementäres Schulsystem haben, in dem alle Schulformen ihren Platz haben. Vielleicht ist auch das ein Ausdruck dafür, dass ein Landtag, dass ein Land lernfähig ist, lernfähig aus seiner eigenen Geschichte.
Es gab auch die dunklen Kapitel in dieser 70-jährigen hessischen Geschichte, z. B. mit dem Terror der RAF insbesondere in den Siebziger-, aber auch noch in den Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre. Mit den Anschlägen auf das Frankfurter Kaufhaus Schneider im April 1968, Bombenanschlägen auf das Frankfurter Hauptquartier der US-Armee, der Ermordung Jürgen Pontos in Oberursel, der Ermordung Heinz-Herbert Karrys, zu der sich später die sogenannten Revolutionären Zellen bekannten, und nicht zuletzt auch mit dem tödlichen Bombenattentat auf Alfred Herrhausen ist eine Terrorwelle über unser Land gegangen, die ebenfalls an heutige Zeiten erinnert und nicht vergessen werden darf.