Wenn Sie von vornherein sagen: „Ich habe eine Stunde der Wahrheit. Ich, Staatsministerin, mache die Stunde der Wahrheit“, haben Sie Wissenschaft im Kern nicht verstanden.
Nach Popper wissen wir doch: Es geht um Falsifikation. Wir haben eine Theorie und prüfen sie, bis sie sich als falsch herausstellt. Lassen Sie sich das von einem Wissenschaftler an dieser Stelle sagen.
Mein Vorwurf war, dass Sie sich dort die Punkte herausnehmen – Sie haben wieder das Thema Klima erwähnt –, die in ein grünes Weltbild hineinpassen. Bitte sagen Sie die Punkte, die hineinpassen, und die, die nicht hineinpassen. Ich hatte vorhin Sachen wie Globuli oder Homöopathie erwähnt. Da kann man fragen: Wie evidenzbasiert ist deren Wirkung? Auch bei diesen Dingen sagen Sie: Das passt mir nicht; ich habe an der Stelle andere politische Vorstellungen. – Ich glaube, das ist an der Stelle hochgradig problematisch.
Zum letzten Punkt: Mit Blick auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der aktuellen Pandemie sagen Sie, wir müssten uns hinter sie stellen. Wir entscheiden und sollen uns hinter sie stellen? – Das klingt so, als würden die Wissenschaftler entscheiden, und wir müssten uns dahinter stellen. Nein, die liefern das, was sie wissenschaftlich liefern können, mit einer entsprechenden Unsicherheit. Einmal nach rechts gesagt: Das macht überhaupt nichts, dass Unsicherheit drin ist. Sie ist in Wissenschaft immer drin. Sonst haben Sie Wissenschaft nicht verstanden.
Wir müssen Entscheidungen auf der Basis von Unsicherheit machen. Aber „hinter Wissenschaftler stellen“ klingt so, als würden die entscheiden und wir dann sagen: Wir müssen das machen und stellen uns dahinter. – Nein, die liefern uns das, was sie aufgrund wissenschaftlicher Studien liefern können, und wir müssen daraus das machen, wozu wir verantwortlich aufgefordert sind. Wir müssen daraus die Entscheidungen treffen. Die müssen wir deswegen auch hier in einem politischen Raum diskutieren. Das passiert nach wie vor viel zu wenig. – Vielen Dank.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, es wird zu viel in Sprechblasen und zu wenig in der Sache geredet. Ich will das an ein paar Punkten beschreiben.
Zweiter Satz: Wissenschaft ist nicht unbegrenzt. Die Begrenzung der Wissenschaft wurde in der Wissenschaft selbst diskutiert. Sie begann an dem Tag, an dem aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis in Japan Hunderttausende Menschen verbrannt sind. Seitdem ist klar, dass Politik auch der Wissenschaft Grenzen setzen muss, wenn sie Menschenleben in großem Ausmaß gefährdet. – Auch klar.
Dritter Punkt: Öffentliche Wissenschaftsförderung hat zwei Funktionen: Sie unterstützt die Grundlagen und sie füllt die Lücken. Auch das ist ein Punkt, den Sie unterschätzen. Wir haben viele wissenschaftliche Einrichtungen, die, weil sie profitabel sind, voll ausfinanziert werden. Das Beispiel Tropenmedizin war kein Zufall. In der Frage der Tropenmedizin werden wir in europäischen und nordamerikanischen Forschungseinrichtungen etwas bezahlen müssen, weil die Länder, die das betrifft, es nicht bezahlen können und die Firmen kein Interesse daran haben, weil sie daran kein Geld verdienen können. Also Vorsicht bei der Frage, was Wissenschaftsfinanzierung ist.
Natürlich ist es – das sage ich für jeden – jedem politischen Wertestandpunkt unbenommen, zu entscheiden, welche ergänzenden Forschungen er haben will. Auch das ist sozusagen kein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Das ist ein Anstupsen.
Vierter Punkt: Zur Frage nach der Ideologie. Hier tobt die Debatte, und der Vorwurf wird laut, man mache es nach Ideologien. Das ist völliger Unsinn. Jede politische Partei und jede politische Person hat ein Wertegerüst.
Bei Wertegerüsten gibt es den Punkt, dass man sie begründen können muss. Einfach einen Glaubenssatz zu sagen, reicht für eine Wertentscheidung nicht aus. Dort fängt die Ideologiedebatte an, weil Glaubenssätze, die sozusagen unbegründet sind, auch in ethischen Bereichen fragwürdig sind und deswegen als Ideologie bezeichnet werden.
Im Kern geht es aber um Wertentscheidungen. Natürlich unterscheiden sich Wertentscheidungen. Wir müssen unsere Wertentscheidungen auseinanderhalten.
Vorletzter Punkt ist die Frage: Warum müssen wir eigentlich überhaupt entscheiden? Warum gibt es keine Expertokratie? Das ist relativ einfach. Wenn Sie einen Virologen, einen Epidemiologen, einen normalen Arzt, einen Wirtschaftswissenschaftler und einen Soziologen fragen, welche Folgen wir gerade haben und was notwendig ist, wird Ihnen auffallen, dass der Volkswirt etwas anderes sagt als der Virologe, weil er einen anderen Fokus hat. Ihre Meinungen können sich überschneiden, aber sie haben nicht denselben Fokus. Natürlich treffen wir Prioritätenentscheidungen. Die Entscheidung, die Kitas offen zu lassen, weil die Schädigung an den jungen Menschen möglichst begrenzt werden soll, ist eine Entscheidung gegen eine virologische Empfehlung.
Das muss man politisch aushalten. Wir treffen damit nämlich Entscheidungen über Menschenleben. Jeder muss sich dessen bewusst sein. Ich finde, statt es zu verschleiern, müssen wir zu der Entscheidung stehen. Wir müssen sie begründen. Und wir müssen erklären, warum wir das machen.
Mit Blick auf den letzten Punkt komme ich zur Frage: Was ist Wissenschaft? Wissenschaft ist keine Meinung. Wissenschaft ist Erkenntnis, die angegriffen, widerlegt und neu formiert werden kann. Das ist ein Prozess, der im Laufe der Zeit natürlich Folgen hat. Es beginnt damit, dass jemand eine Idee hat, die Idee mit anderen diskutiert, den Gegenargumenten widerstehen kann, und plötzlich breitet sich die Idee aus. Das führt dazu, dass in vielen Bereichen 80 % bis 90 % der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen: Das ist jetzt so. – Solange das so ist, ist das erst einmal der Stand der Wissenschaft.
Jeder darf eine neue Idee haben, aber er hat zwei Pflichten: Erstens muss er begründen können. Zweitens muss er es begründen können, indem er dazu forscht. Mich hat in diesen vielen Scheindebatten genervt, dass Leute, die ihr Le
ben lang noch keine Untersuchung über Virologie gemacht haben, plötzlich als Experten für Virologie auftreten.
Sie werden nie erleben, dass ich Ihnen erkläre, wie Sie Ihr Auto reparieren. Ich könnte das nämlich nicht.
Genau. – Aber hier gibt es Leute, die in ihrem Leben keine Sekunde ihrer Zeit damit verbracht haben, solchen Fragen auch nur nachzugehen. Es tut mir leid: Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Das ist der Versuch, einen wissenschaftlichen Titel zu nutzen, um politische Meinungen durchzusetzen. Das ist nicht akzeptabel. Dem müssen wir widerstehen; denn das diskreditiert Wissenschaft. Wissenschaft ist Erkenntnis, die jederzeit auf dem Prüfstand steht. Wenn es bloße Meinung ist, ohne dass Argumente und Forschungen dahinterstehen, handelt es sich nicht um Wissenschaft. Über Meinung können wir reden, aber mehr auch nicht. – Herzlichen Dank.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zuerst etwas zur „Stunde der Wahrheit“ sagen, weil ich das für ein sehr schönes Dialogformat halte und gern dem Eindruck, der wegen des Titels entstanden ist, entgegenwirken möchte. Zu dieser Dialogveranstaltung werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen, die besonders zu kontroversen Themen forschen. Es gab z. B. eine Veranstaltung zum Thema 5G. Wichtig ist, sich in den Austausch und in den Dialog mit der Bevölkerung zu begeben, wissenschaftliche Erkenntnisse zu erklären und zu diskutieren. Von diesem kontroversen Dialog leben diese Diskussionsveranstaltungen der Reihe „Die Stunde der Wahrheit“. Es geht darum, ein Wissenschaftsverständnis und die Einsicht zu vermitteln, dass es in der Wissenschaft eben keine Wahrheit, sondern Erkenntnis gibt. Deswegen: Das ist ein zugespitzter Titel, der genau diesen Dialog fördern soll. Daher kann ich Sie nur einladen, wenn die Veranstaltungen wieder am Stammtisch stattfinden können, auch einmal vorbeizuschauen.
Zu der Frage, wie wir als Koalition mit der Landesregierung unsere Forschungsförderung in Hessen ausrichten, möchte ich Sie, Herr Büger, bitten, sich Ihre Rede von gestern und die aktuelle LOEWE-Förderung anzuschauen.
Bei der Frage, wie entschieden wird, welche Forschung förderfähig ist, mit dem wissenschaftlichen Rat bei LOEWE, hat sich nichts geändert.
Herr Büger, Sie haben ausgeführt, Frau Ministerin habe gesagt, „Fridays for Future“ sei Wissenschaft. Bitte belegen Sie dieses Zitat.
(Dr. Matthias Büger (Freie Demokraten), ein Schriftstück hochhaltend: Ich habe es mir aufgeschrieben!)
Vielleicht können wir das noch klären. Es geht mit Sicherheit darum, dass sich „Fridays for Future“ auf Wissenschaft bezieht und wir diesen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auf sich „Fridays for Future“ beziehen, auch vonseiten der Politik Gehör schenken sollten.