Protokoll der Sitzung vom 28.04.2021

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, in Ihrem dritten Punkt steht – von Ihrem etwas sehr dick aufgetragenen Selbstlob zu Ihrer angeblichen Besonnenheit einmal abgesehen – durchaus viel Kluges:

Die zum Schutz von Gesundheit und Leben notwendigen Einschränkungen wesentlicher Freiheitsrechte sind eine extreme Belastung für die Bürgerinnen und Bürger und auch für unser politisches System. Die Abwägung zwischen den unterschiedlichen Schutzgütern individueller Freiheitsrechte auf der einen Seite und dem Schutz des Lebens und der Gesundheit auf der anderen Seite erfordert großes Verantwortungsbewusstsein.

Drei kurze, versöhnliche Gedanken dazu als Abbinder: Erstens gefällt mir der Begriff der Abwägung sehr gut. Fast alles, was wir hier in Verantwortung zu entscheiden haben, ist eine Abwägung. Wir sollten dem jeweils anderen immer auch abnehmen, dass auch er wägt. Radikalisierung sollten wir die Differenzierung entgegensetzen.

(Beifall Freie Demokraten und vereinzelt CDU)

Zweitens. Die Belastung der Bürger ist teilweise existenziell. Im öffentlichen Dienst, in den Parlamenten, in den Kabinetten kann man sich vielleicht auch nicht immer vorstellen, was das wirklich heißt. Wahrscheinlich kann auch ich es nicht immer nachfühlen. Im Positiven sehe ich in Deutschland, in unserer Gesellschaft zurzeit eine Politisierung. Aber es gibt nicht nur positive Politisierung, bei manchen geht sie leider auch mit Radikalisierung einher. Ich nehme ganz persönlich wahr, dass Menschen – auch in meinem weiteren Umfeld – anfällig werden für Verschwörungstheorien, für Fake News und für einfache Lösungen. Das muss uns als Abgeordnete hier alle nachdenklich stimmen und auch ein Stück weit zum Inne- und Maßhalten anhalten.

Daher zum Schluss als Drittes mein Appell: Jemand, der mehr dem „Team extreme Vorsicht“ angehört, wird in erhitzter politischer Diskussion schnell mal zu einem kleinen Diktator. Jemand, der vielleicht auch mal überspitzt mehr Freiheiten einfordert, wird schnell auch zum Verschwörungstheoretiker. Aber zwischen jenen, die den Aluhut tragen, und jenen, die zu schnell den Gesslerhut grüßen, gibt es ganz viele Facetten, und denen sollten wir auch Raum geben.

(Beifall Freie Demokraten)

Machen wir unsere demokratische Debattenkultur groß, dann bekommen wir auch die Populisten, die Radikalinskis und die Europahasser klein. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall Freie Demokraten und CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Stirböck. – Nächste Rednerin ist die Abg. Waschke für die Fraktion der Sozialdemokraten.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn wir in diesen Räumen einen solchen Antrag diskutieren, wie er uns heute Morgen vorliegt, dann müssen wir alle aufhorchen; denn wenn wir uns in einem Antrag zu etwas bekennen, was eigentlich für jede Frau und jeden Mann in diesem Raum selbstverständlich sein sollte, dann läuft etwas schief.

(Beifall SPD)

Es geht um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Es geht um Menschenwürde, das Demokratieprinzip, die Rechtsstaatlichkeit. Es geht um ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, die angesichts der Schrecken der Naziherrschaft entstanden ist. Wir haben uns damals in Deutschland darauf verständigt, dass zur Freiheit unabdingbar soziale Verantwortung gehört. Soziale Verantwortung gilt übrigens nicht nur für die Wirtschaft, sondern für jeden und jede von uns – in diesen Tagen ist das aktueller denn je. In dem Augenblick, in dem diese Punkte überhaupt zur Diskussion stehen, sehen wir, dass etwas ins Ungleichgewicht geraten ist. Auch wenn sich der Antrag offensichtlich auf aktuelle Ereignisse bezieht, müssen wir zugeben, dass dieses Ungleichgewicht bereits eine ganze Weile gärt.

Bis auf ein paar Punkte, auf die ich noch zu sprechen komme, kann die SPD den vorliegenden Antrag mittragen. Was ich aber nicht verstehe, Kolleginnen und Kollegen von CDU und GRÜNEN, ist, warum Sie so um den heißen Brei herumreden: Wenn wir heute im Landtag über diesen Antrag abstimmen, dann stimmen wir ganz offensichtlich über das Wahlprogramm der AfD zur Bundestagswahl ab.

(Zuruf AfD: Super!)

Ja, deswegen hören Sie gut zu. Nach dem, was ich hier heute Morgen gehört habe, habe ich nämlich sehr den Eindruck, Sie kennen Ihr eigenes Programm nicht.

(Beifall SPD)

Da wird von der AfD auf der einen Seite die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard gelobt, aber gleichzeitig soll mit diesem Fantasiebegriff „Blue Deal“ die soziale Marktwirtschaft quasi abgeschafft werden

(Zuruf AfD: Lesen!)

hören Sie zu –, indem die Wirtschaft von politisch herbeigeführten Belastungen komplett befreit werden solle. Ich erinnere noch einmal daran: Unser wirtschaftlicher und sozialer Erfolg basiert darauf, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg unseren Markt ganz bewusst in eine sozial gesteuerte Marktwirtschaft gebettet haben.

(Beifall SPD)

Jetzt plötzlich hören wir von politisch herbeigeführten Belastungen oder gar – ein wörtliches Zitat – „sozialistischer Industriepolitik“. Das zeigt für mich ganz deutlich, dass die AfD gar kein Interesse an einer solidarischen Gemeinschaft hat.

(Beifall SPD – Zuruf AfD)

Im weiteren Verlauf Ihres Wahlprogramms ist davon die Rede, dass die EU der Brandstifter in Europa sei oder gar die kulturelle Identität der Länder bedrohe. In der Begründung zu dem leider erfolgreichen Änderungsantrag steht, dass die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU die monetäre und demokratische Ausplünderung unseres Landes bedeute. Es sei daher die Pflicht als patriotische Bürgerpartei, aus der EU auszutreten. – Herr Kollege Heidkamp, Sie haben heute Morgen hier das komplette Gegenteil behauptet. Haben Sie überhaupt gelesen, was Sie da abgestimmt haben?

(Beifall SPD und vereinzelt DIE LINKE – Wider- spruch Erich Heidkamp (AfD))

Es geht Ihnen überhaupt nicht darum, Verantwortung zu übernehmen. Das sehen die Leute mittlerweile auch, und sie strafen Sie ab, indem Ihre Ergebnisse immer schlechter werden.

(Zuruf AfD: Wie viel Prozent haben Sie denn?)

Sie werden nichts daran ändern, wenn Sie sich jetzt weiter mehr und mehr radikalisieren oder sich aus wahltaktischen Gründen mit den Querdenkern verbünden.

(Beifall SPD)

Wir haben heute im Hessischen Landtag die Gelegenheit, uns zu unseren Werten zu bekennen. Da spreche ich für die gesamte SPD-Fraktion, wenn ich sage: Wir stehen zu den freiheitlich-demokratischen Grundwerten. Wir bekennen uns zu einer sozialen und solidarischen Europäischen Union. Menschenrechte und Minderheitenschutz sind für uns selbstverständlich. Wir setzen uns für ein verantwortungsvolles Handeln von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ein, vor allem auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Da sind wir ganz nah bei Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von CDU und GRÜNEN.

Auf die Passage der Besonnenheit der Landesregierung in dieser Pandemie möchte ich an der Stelle ausdrücklich nicht eingehen, das hat meine Fraktionsvorsitzende Nancy Faeser gestern ausführlich getan.

Was mir aber in Ihrem Antrag komplett fehlt, ist die Konsequenz aus all diesen Bekenntnissen, die dort aufgeschrieben worden sind. Nehmen wir die von Ihnen aufgeführten extremistischen Kräfte, Populisten und Querdenker: Es kommt bei Ihnen kein Wort dazu vor, wenn es um Maßnahmen geht, die uns gegen diese Kräfte stärken. Kein Wort zur Europäischen Säule sozialer Rechte, kein Wort zur europäischen Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter oder zur Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU. Wir finden kein Wort zum Aktionsplan gegen Rassismus und kein Wort zum Europäischen Aktionsplan für Demokratie. Es liegen nämlich einige sehr gute Maßnahmen von der EU auf dem Tisch.

(Beifall SPD)

Wir müssen den Ball jetzt aufnehmen, um in Hessen genau diese Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, mit Leben zu füllen. Ein Bekenntnis ist schön und gut, aber ohne Lösungsansätze mittelfristig leider wertlos.

Neben staatlichen Lösungsansätzen gibt es aber auch noch die Lösungsansätze der Zivilgesellschaft. Diese sind mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar effektiver. Auch

hierzu finde ich kein Wort in Ihrem Antrag. Kein Wort zu denjenigen, die Tag für Tag ehrenamtlich für unsere Grundrechte auch unter schwierigen Bedingungen auf die Straße gehen, zu den unzähligen Vereinen und ehrenamtlich engagierten Menschen in Hessen. Zwar fördert das Land die DEXT-Fachstellen gegen Extremismus. Aber reicht das aus?

Der Schlüssel zum Erfolg liegt im aktiven Teil der Zivilgesellschaft. Wie können wir diese Menschen bestmöglich fördern, stärken und auch schützen? Sie selbst schreiben, dass Freiheitsrechte und der Schutz des Lebens und der Gesundheit großes Verantwortungsbewusstsein benötigten – das unterschreiben wir. Die Menschen und die Vereine, die ich gerade beschrieben habe, zeigen aber seit vielen Jahren gegen eine sehr laute, kleine Minderheit sehr großes Verantwortungsbewusstsein. Beispielhaft möchte ich in diesem Zusammenhang das Beratungsnetzwerk Hessen nennen, die Initiative Nachgefragt Kassel, Response in Hessen, Hand aufs Herz in Gelnhausen, Odenwald gegen Rechts oder auch das Bündnis „Fulda stellt sich quer“.

Der runde Tisch gegen Extremismus ist eine Sache. Eine andere Sache ist jedoch eine handfeste finanzielle Anerkennung, damit diese Vereine und Zusammenschlüsse Strukturen aufbauen können, um die Ziele, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben, eben genau in die Tat umzusetzen.

(Beifall SPD)

Ich weiß aus meiner eigenen Erfahrung in Fulda, dass diese Ehrenamtlichen immer wieder an ihre Grenzen stoßen, sei es, weil die Aufgaben immer vielfältiger werden oder weil sie mit Abmahnungen und sonstigen Einschüchterungsversuchen von Extremisten und Populisten überschüttet werden. Auch das ist die traurige Wahrheit in diesen Zeiten.

Sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Antrag zeigt deutlich auf, dass etwas ins Ungleichgewicht geraten ist. Er zeigt, dass wir die Grundrechte jeden Tag aufs Neue verteidigen müssen. Es reicht nicht, sich allein zu den Grundwerten zu bekennen. Da müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Die Landesregierung muss vielmehr für Öffentlichkeit für die europäischen Maßnahmen sorgen, und die Zivilgesellschaft muss dabei besser unterstützt werden, wenn sie sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetzt und engagiert. – Vielen Dank.

(Beifall SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Waschke. – Zu einer Kurzintervention hat sich der Abg. Heidkamp für die Fraktion der AfD gemeldet.

Sehr geehrte Frau Waschke, ich zähle Sie eigentlich zu den Diskussionspartnern, die sich immer ganz nett ausdrücken – hart in der Sache, aber Sie greifen nie die Person an. Ich kann Ihnen sagen: Das finde ich toll.

Wir haben im Europaausschuss den Antrag gestellt, mit den Ländern Nordmazedonien und Albanien Aufnahmediskussionen zu beginnen. Daraufhin fielen die Worte „Heuchler“, „Schizophrenie“ und noch ein ganz anderes

Vokabular aus der Pathologie der Psychiatrie. Das fand ich dann nicht so unheimlich zielführend; denn danach – unser Antrag wurde natürlich abgelehnt – wurde fraktionsübergreifend ein abgeschriebener Antrag zur Aufnahme von Nordmazedonien und Albanien gestellt, und diesem wurde zugestimmt. – Frau Waschke, können Sie mir das einmal erklären?

(Beifall AfD)

Frau Waschke, Sie haben die Gelegenheit, zu reagieren, wenn Sie möchten. – Nein. Dann ist der nächste Redner Kollege Wilken für die Fraktion DIE LINKE.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Was für ein Brocken am heutigen Morgen, den die CDU hier zum Setzpunkt gemacht hat. Aber, Herr Müller, Sie haben in Ihrer Rede eindrücklich deutlich gemacht, wie eng Sie an den Ängsten und Sorgen der hessischen Bevölkerung argumentieren. – Weiter weg von dem, was gerade uns hier in Hessen umtreibt, kann man aber gar nicht mehr sein.

(Beifall DIE LINKE)

Was für ein Brocken heute Morgen – und das ausgerechnet aus den Fraktionen, die uns so gerne vorhalten, wir würden Themen ansprechen, die außerhalb der Zuständigkeit des Hessischen Landtages lägen.