Was für ein Brocken heute Morgen – und das ausgerechnet aus den Fraktionen, die uns so gerne vorhalten, wir würden Themen ansprechen, die außerhalb der Zuständigkeit des Hessischen Landtages lägen.
Meine Damen und Herren, bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und vor allem der Achtung der Menschenrechte haben Sie uns hundertprozentig an Ihrer Seite – aber selbstverständlich. Ich frage mich nur: Warum verwässern Sie dieses starke Postulat im nächsten Satz mit der Erweiterung dieses Kanons um die soziale Marktwirtschaft? Das ist ein politischer Kampfbegriff. Ich werde nicht müde, Ihnen zu sagen: Die soziale Marktwirtschaft hat keinen Verfassungsrang. Das Grundgesetz lässt die Wirtschaftsweise ausdrücklich offen, und das ist auch gut so.
Dann kommt der fast schon traditionelle Lobgesang auf den Wohlstand. Meine Damen und Herren, das Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft ist für viele Menschen längst zu einer Farce geworden. Was soll denn sozial an einer Wirtschaft sein, in der Menschen zu Niedriglöhnen schuften, von Armut bedroht oder betroffen sind und sich keine bezahlbare Wohnung mehr leisten können? Nein, die aktuelle Wirtschaftsordnung ist für viele Menschen alles andere als sozial.
Die soziale Spaltung, die wir seit Jahren, Jahrzehnten beklagen, ist jetzt auch in der Corona-Pandemie noch einmal sehr viel deutlicher geworden. Während die Zahl und das Vermögen der Millionäre und Milliardäre in Deutschland weiter wachsen, haben breite Teile der Bevölkerung massive Reallohnverluste zu beklagen. Ihre Ideologie einer angeblich sozialen Marktwirtschaft wird durch die kapitalistische Realität im Land demaskiert – und die Kritik daran ist mehr als berechtigt.
Herr Müller oder auch Herr Stirböck, nicht Sie schützen unsere Verfassung vor vermeintlichen Feinden von links, sondern die politische Linke in diesem Land muss das Sozialstaatsprinzip vor Ihnen und Ihrer markt- und kapitalhörigen Politik schützen.
Dann kommt der nächste Brocken in Ihrem Antrag: die Europäische Gemeinschaft. Also, was Internationalismus anbelangt, müssen Sie uns nun wirklich nicht belehren. Wir fassen das auch nicht so eng, dass wir da nur auf Europa schauen. Aber was ist denn mit dieser „Ära des Friedens, der Freiheit, der Sicherheit und“ – noch einmal – „des Wohlstands“, die uns Europa gebracht hat? Wann und wie lange war denn diese Ära, und für wen galt sie?
Ära des Friedens: für uns in Deutschland, okay. Aber das wäre nationalistisch gedacht. Das können Sie gar nicht meinen. Global ist die Europäische Union die Waffenhändlerin. Wir haben aufgerüstete Außengrenzen usw. Das alles sind EU-Probleme. – Ära der Freiheit: Überwachungsstaaten, Patriarchat. – Ära der Sicherheit: für alle auch in unserem Land lebenden Menschen? Wir sind uns ja wohl alle einig, dass z. B. Migrantinnen und Migranten das bei dieser erstarkenden Rechten sicher anders bewerten. Oder auch Frauen: Femizide? Oder – noch einmal – soziale Sicherheit: für alle jedenfalls nicht. – Ära des Wohlstands, dazu habe ich schon etwas gesagt: auf jeden Fall nicht für alle.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren nicht über einen Austritt aus der EU. Wir diskutieren über eine Demokratisierung der EU. Das Demokratiedefizit ist eine der größten Gefahren für den europäischen Integrationsprozess. Deswegen wenden sich viele Menschen von dem Projekt als Ganzem ab. Deshalb setzen wir uns für den umfassenden Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger bei europäischen Entscheidungen ein.
Es ist unsere feste Überzeugung, dass wir auf der ganzen Welt und auch hier deutlich weniger Nationalstaat brauchen und stattdessen mehr internationale Kooperation und internationale Organisationen, um die aktuellen Aufgaben zu bewältigen. Das ist der linke Ansatz.
Dann werden Sie auch noch unfreiwillig komisch in Ihrem Antrag. Sie postulieren die Politik „auf der Grundlage wissenschaftlicher Fakten und demokratischer Legitimation“. Nun, da sehen wir im Moment ein paar Defizite in unserem Land. Die Parlamente waren bei allen Corona-Entscheidungen viel zu lange komplett außen vor. Ich warte immer noch auf den Tag, an dem mir irgendjemand, gerne auch Sie, Herr Müller, die wissenschaftliche Grundlage des Inzi
Ich stelle aber fest, und das ist gestern auch schon breit diskutiert worden: Wir leben in der dritten Welle der Pandemie, weil wissenschaftliche Fakten zu lange ignoriert und stattdessen wirtschaftliche Interessen verfolgt wurden.
Ich habe auch immer noch den Videoausschnitt vor Augen, wo der Ministerpräsident ausdrücklich gesagt hat, er rede noch nicht einmal mit denen, die schon vor Wochen gewusst haben, was passiert. – Nein, genau das Gegenteil sollten Sie tun.
Ich vermute einmal, wenn wir – wann auch immer – uns wieder einmal mit anderen Problemen in diesem Land beschäftigen werden, z. B. der drohenden Klimakatastrophe, dass es auch dann wieder, wie schon vorher, nicht so weit her sein wird mit den wissenschaftlichen Fakten, die gegen die wirtschaftlichen Interessen gestellt werden müssen.
Meine Damen und Herren von den regierungstragenden Fraktionen, sollen wir dem dann auch noch zustimmen? – Wissen Sie, was: Das lassen wir.
Vielen Dank, Herr Dr. Wilken. – Nächster Redner ist Kollege Schauder für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede Krise ist ein Stresstest für die Demokratie. Vor gut einem Jahr haben wir zu diesem Thema schon eine Debatte geführt. Damals war ich mir sehr sicher, dass unsere Demokratie krisenfest ist. Heute bin ich mir sicher: Es gibt keinen Grund, an diesem Urteil etwas zu ändern.
Unser Grundgesetz ist das Fundament unserer Gesellschaft. Es garantiert uns die Gewaltenteilung zwischen Parlamenten, Regierung und Justiz. Gerade jetzt tagt unser Parlament. Daran sieht man schon: Die parlamentarische Demokratie funktioniert. Unsere Regierung arbeitet, vertritt, organisiert, veranlasst Verordnungen. Auch Gerichtsprozesse finden statt, Gesetze können von den Verfassungsgerichten kontrolliert werden.
Daran zeigt sich: Unsere Verfassung funktioniert – auch als Fundament unserer Gesellschaft, unserer Grundrechte. Es ist die Basis, auf der wir uns über den besten Weg streiten können, welche Maßnahmen in der Pandemie die richtigen sind, welche falsch sind, wo man nachschärfen muss, wo man eventuell lockern kann. Auf der Grundlage dieser Grundrechte kann die Presse frei berichten und jeder Mensch seine Religion frei ausüben.
Auch in der Krise sind die Grundrechte selbstverständlich unverbrüchlich. Sie werden nicht aufgehoben und nicht zurückgegeben. Allerdings kann und muss in Grundrechte eingegriffen werden, wenn verschiedene Schutzgüter miteinander kollidieren; am Plastischsten ist das momentan natürlich bei der Konfrontation zwischen Freiheit und Ge
sundheitsschutz zu sehen. Natürlich würde auch ich wie so viele andere junge Menschen jetzt gerne feiern gehen und Festivals besuchen; aber mir und vielen anderen ist völlig klar, dass das Herde der Infektion sind, dass das zurzeit einfach nicht möglich ist und dass man da ein Stück weit zurückstecken muss. Dieser Eingriff in unsere Freiheitsrechte ist nachvollziehbar und gerechtfertigt.
Gedanken wie „Survival of the Fittest“ zeigen ein faschistisches Menschenbild. Das ist ganz klar verfassungswidrig. Unsere Verfassung schützt jedes Leben; denn jedes Menschenleben ist wertvoll.
Das ist eine wirklich große Errungenschaft unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung – genau wie auch die Europäische Union.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin Jahrgang 1997. Ich bin fast schon selbstverständlich mit Europa aufgewachsen. Meine Generation ist praktisch selbstverständlich mit der EU aufgewachsen. Meine Generation kennt keinen Weltkrieg und keinen Kalten Krieg. Meine Generation kennt keine Diktaturen in Europa.
Stattdessen kennt meine Generation offene Grenzen. Meine Generation kennt Erasmus und Studieren im Ausland. Meine Generation kennt das Kennenlernen von Kulturen und das Erlernen von Sprachen. Meine Generation kennt die Abi-Fahrt nach Prag. Meine Generation kennt es, mittags am Frankfurter Hauptbahnhof in den TGV einzusteigen und wenige Stunden später mitten in Paris bei unseren französischen Freundinnen und Freunden zu sein.
Frau Präsidentin, von dieser Fraktion schon ganz grundsätzlich nicht. – Das ist das Europa, das wir brauchen, auch um die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte zu meistern, nämlich die menschengemachte Klimakatastrophe.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, leider missbrauchen auch einige Kräfte die Pandemie, um politisches Kapital daraus zu schlagen, um die Europäische Union anzugreifen, um Verschwörungsideologien zu konstruieren und Wissenschaftsfeindlichkeit zu schüren.
Auf sogenannten Querdenken-Kundgebungen werden Journalistinnen und Journalisten angepöbelt, bespuckt und körperlich angegriffen. In Chatgruppen wird dazu aufgerufen, Kleinkinder und gebrechliche Seniorinnen und Senioren als menschliche Schutzschilde in die erste Reihe zu stellen. Mehrfach haben vermeintlich bürgerliche Demonstrantinnen und Demonstranten Polizistinnen und Polizisten, die eigentlich dazu da waren, um unsere Grundrechte
wie die Versammlungsfreiheit zu schützen, umzingelt und angegriffen. Dabei wurden einige Polizistinnen und Polizisten verletzt.
Auf diesen Kundgebungen wird Hass gegen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ganz offen zur Schau gestellt oder in Metaphern und Codewörtern verbreitet. Die Klammer um diese vermeintlich diverse Szene der Verschwörungsideologien spannt die AfD. Bürgerlich getarnte Verschwörungsideologen, Europahasser und Neonazis gehen in dieser Partei ein und aus.
Mitglieder der AfD-Landtagsfraktion mischen mittendrin mit und werben sogar mit der antisemitischen Verschwörungsideologie, dem sogenannten Great Reset, für gewalttätige Kundgebungen.
Sie fragen sich: Wer aus Ihrer Fraktion? – Ich dachte, Sie wüssten so gut Bescheid; denn Sie sind doch bekannt dafür, dass Sie Dossiers über Ihre Abgeordneten führen.